# taz.de -- Narzissmus in der Politik: Gefährliche Liebschaften | |
> Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz und Ex-US-Präsident Donald Trump | |
> werden von Anhängern wie Geliebte behandelt. Eine psychoanalytische | |
> Diagnose. | |
Bild: Liebt seine Marke womöglich so wie sich selbst: Sebastian Kurz | |
Der aktuelle Skandal um den Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz erschüttert | |
nicht nur Österreich. Er war bis dahin der absolute Medienstar, von dem | |
[1][Bild-Chef Julian Reichelt] noch im Juni meinte, dass ganz Europa die | |
Klarheit seiner Aussagen in der Flüchtlingsfrage brauchen würde. | |
Wenn man der Staatsanwaltschaft folgt, soll [2][Kurz zusammen mit seiner | |
Entourage] zu seinem Vorteil gefälschte Umfragewerte und Zeitungsberichte | |
mit Steuergeld gekauft, illegalen Postenschacher betrieben und | |
Falschaussagen gemacht haben. Wie ist es möglich, dass Österreich nach | |
Haider und Grasser nun schon auf den dritten „jugendlichen Blender mit | |
Erlösungsanspruch“ hereingefallen ist, wie der Journalist Hans Rauscher im | |
Standard schrieb? | |
Die Hintergründe lassen sich besser verstehen, wenn man auf das Programm | |
der Marke Ich und auf Sigmund Freud Bezug nimmt. Während des neoliberalen | |
Schubs Ende des letzten Jahrhunderts bekam der schon ältere kapitalistische | |
Zwang für die Individuen, ihre Arbeitskraft oder Dienstleistung auf einem | |
Markt erfolgreich zu verkaufen und zu bewerben, noch einmal eine neue | |
Qualität. | |
## Die Marke Ich als Bestseller | |
Dies geschah etwa zeitgleich mit der Hinwendung der großen Konzerne zur | |
Herstellung und Präsentation von prestigeträchtigen Marken, bei der die | |
Produktion der realen brauchbaren Güter in den Hintergrund trat, zum | |
Beispiel in Billiglohnländer, Sweat Shops und in Subunternehmen verlagert | |
wurde. Die Show und die fantasievollen Gebrauchswertversprechen um die | |
Produkte herum wurden wichtiger als ihre Herstellung und ihr manchmal recht | |
dürftiger Gebrauchswert. Man denke an Red Bull. | |
Auch dem Arbeitskraftbesitzer wurde nun nahegelegt, [3][einen inneren | |
PR-Berater] zu entwickeln, der ihm als ständiger Begleiter dabei hilft, | |
sich zu einer möglichst auffälligen Marke zu stilisieren, die aus der | |
Konkurrenz mit den anderen Anbietern hervorsticht. Für den deutschen | |
Sprachraum waren es die österreichischen Autoren Seidl und Beutelmeyer, die | |
mit ihrem Buch „Die Marke Ich“ 1999 einen Bestseller landeten. | |
Die Menschen sollten zuerst lernen, von sich begeistert zu sein, ja, sich | |
selbst zu lieben. Diese Selbstverliebtheit würde dann die potentiellen | |
Kunden anstecken und die Beliebtheitswerte, den Wert der Ich-Aktie | |
steigern. „Ebenso bewusst sollten Sie die Liebe zu Ihrer Marke Ich® pflegen | |
– und sich nicht Ihrer Selbstliebe schämen.“ | |
Das läuft auf ein Aufgeben der christlichen Hemmungen gegenüber dem | |
Narzissmus hinaus. Nur durch ein „geradezu erotisches Verhältnis zur Marke“ | |
kann es gelingen, erfolgreich das Einzigartige des Markeneigentümers | |
hervorzuheben. Er soll an seiner eigenwilligen Frisur, an Barttracht und | |
Kleidung und an einer durchgestylten Ästhetik des Auftretens möglichst im | |
Bruchteil einer Sekunde erkannt und wiedererkannt werden. | |
In einer unvollständigen Reihung können wir hier an Karl-Heinz Grasser, | |
Sebastian Kurz, Jörg Haider, Boris Johnson, Donald Trump oder auch den | |
früheren CSU-Starpolitiker von Guttenberg mit seiner nach hinten gekämmten | |
Gelfrisur denken. Trump ist der größte und gefährlichste Vertreter des | |
Marke-Ich-Programms. | |
## Ideal-Ich vs. Real-Ich | |
Wenn Menschen ihre Unverwechselbarkeit konsequent betonen, würden sie, so | |
wurde uns versprochen, bald so bekannt sein wie Coca-Cola, Johnny Walker | |
oder Mercedes. Allerdings vergaßen die Berater und Coaches, die ihre | |
Schüler das Marke-Ich-Programm lehrten, dass der selbstbewusste Akteur | |
leicht in die Kluft zwischen dem immer glänzenderen Ideal-Ich und dem | |
fleischlichen Real-Ich mit all seinen Schwächen, Fehlleistungen, | |
Alterungsprozessen und Schattenseiten hineinfallen und sich selbst an die | |
Wand fahren kann. | |
„Ich bin eben auch nur ein Mensch mit Emotionen und auch mit Fehlern“, hieß | |
es kleinlaut in der Rücktrittsrede von Sebastian Kurz. Für den Sturz in die | |
Kluft reicht es schon, wenn man nur einmal versäumt, seine Chats zu löschen | |
oder geschönte Passagen im Lebenslauf vergisst. | |
Coca-Cola und Johnny Walker können keine narzisstische Krise bekommen oder | |
suizidal werden, wohl aber Menschen, die daran geglaubt haben, wirklich | |
eine herausragende und unzerstörbare Marke zu sein, die dauerhaft in | |
Höchstform ist. | |
Mancher große Star hat die Kluft mit Drogen oder Alkohol zu überbrücken | |
versucht und ist dabei zerbrochen. Seit ein paar Jahren wird angesichts der | |
Risse und der durchscheinenden Unglaubwürdigkeit, die sich an der | |
Marken-Oberfläche zeigen, von Beratern das neue Heilmittel „Authentizität“ | |
empfohlen. Es wird gerne von den „Ecken und Kanten“ gesprochen, die man als | |
Politiker und Führungskraft zeigen soll. Authentizität und unschuldiges | |
Auftreten können inzwischen trainiert werden. | |
## Das Heroldprinzip | |
Die Neuauflage der „Marke Ich ®“ 2006 wurde mit dem Zusatz „Jetzt mit | |
Heroldprinzip“ präsentiert – das klingt wie eine Waschmittelwerbung. Die | |
Autoren hatten entdeckt, dass ein ständig wiederholtes Lob des eigenen Ichs | |
doch unglaubwürdig wirkt. Deshalb sollte man dafür sorgen, dass Herolde im | |
ganzen Land Geschichten von der hervorragenden Qualität der Marke | |
verbreiten. Blöd ist nur, wenn herauskommt, dass der Herold beauftragt oder | |
bezahlt worden ist. | |
Die Kurz’sche Anwendung des Heroldprinzips war außerordentlich erfolgreich, | |
bis aufflog, dass – laut Bericht der Ermittler – die geschönten | |
Zeitungsberichte über Kurz von seinen Leuten bestellt und vom Steuerzahler | |
finanziert worden waren. | |
Die narzisstische Supermarke oder Zentralfigur auf der politischen Bühne | |
hat um sich herum in der Regel eine Entourage von „Sekundärnarzissten“ | |
versammelt. Sie sonnen sich im Glanz der Zentralfigur, für die sie | |
unangenehme Dinge erledigen oder abfangen. Eine solche „Prätorianergarde“, | |
wie der Kurz-Vertraute Thomas Schmidt es ausdrückte, hat aber auch die | |
Aufgabe, der Zentralfigur immer wieder verstärkende positive | |
Rückspiegelungen (in diesem Fall Liebeserklärungen und „Bussis“) zu | |
übermitteln. Das verstärkt deren Selbstüberschätzung und kann das Scheitern | |
befördern. | |
Freud hat vor 100 Jahren im Buch „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ | |
beschrieben, wie die Individuen, die in der Masse für eine Führerfigur oder | |
einen großen Star schwärmen, ihre Kritikfähigkeit verlieren. | |
## Quasi-Verliebtheit in den Star | |
Die Verführung und Verblendung, die in den neuen Medien und ihren | |
Echokammern verstärkt wird, entsteht durch die Mobilisierung von | |
„zielgehemmter Libido“, über eine Quasi-Verliebtheit in den großen Star, | |
dem manchmal sogar messianische Qualitäten zugeschrieben werden. Die | |
geteilte zielgehemmte Libido verbindet dann die isolierten Einzelnen wieder | |
zu einer Masse, in der sie sich wohlfühlen. | |
Unterstützt wird dies durch das Bild eines gefährlichen äußeren Feindes, | |
den man nicht hereinlässt. Die erwähnten Führungsfiguren haben das Publikum | |
und ihre Entourage auf eine je eigene Weise erotisiert. Dabei ist es laut | |
Freud im Falle der zielgehemmten Libido weitgehend egal, ob sie eher | |
heterosexuell, homosexuell oder bisexuell gefärbt ist. | |
Es ist wie in der wirklichen Verliebtheit, die wir alle kennen. Das | |
Gegenüber wird idealisiert und zu einer inneren Instanz, kann sogar das | |
Gewissen ersetzen. Seine Schattenseiten, die Verstrickungen in Schuld und | |
Schulden werden von den Gläubigen, so lange wie möglich, verleugnet oder | |
bagatellisiert. | |
Der Prozess des Umlernens oder der Trauer nach dem Verlust des | |
idealisierten Objekts dauert erfahrungsgemäß Monate oder Jahre. Ordentliche | |
Strafverfahren können diesen Prozess unterstützen. | |
26 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-Rauswurf-von-Bild-Chef-Reichelt/!5807207 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Ottomeyer | |
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