# taz.de -- Verkehrswende auf dem Land: Man muss auch warten können | |
> Wer raus aufs Land will, braucht kein eigenes Auto. Man kommt mit dem | |
> ÖPNV ans Ziel – wenn auch gemächlicher. Ein Selbstversuch. | |
Bild: Land mit Wartebereich: Bushaltestelle, hübsch im Grünen gelegen | |
Sie fahren ja so“, sagt der Schaffner und malt auf dem Faltblatt des | |
Hamburger Verkehrsverbunds mit dem Finger etwas, das ein Sternbild sein | |
könnte. Aber es ist kein Sternbild, es ist eine Reise mit öffentlichen | |
Verkehrsmitteln von Hamburg-Eimsbüttel nach Vierden. Vierden ist ein Dorf | |
in Niedersachsen mit 757 Einwohnern und einer alten Mühle mit Anbauten. | |
Einen davon haben wir vor ein paar Jahren als Datsche gemietet. Ich habe | |
damals bei den örtlichen Verkehrsbetrieben angerufen und gefragt, ob es | |
vielleicht Überlegungen gebe, die Busverbindungen auszubauen. „Wir haben | |
sie gerade reduziert, weil es keinen Bedarf gab“, war die Antwort. | |
Das war vor fünf Jahren und die Verheißung einer grünen Verkehrswende noch | |
nicht am Horizont aufgetaucht. Letztlich haben wir ein Auto gekauft, einen | |
uralten Benziner. Autobesitzerin zu sein, [1][fühlt sich an wie eine | |
Kapitulation]. „You are not stuck in traffic. You are traffic“ steht auf | |
einem Transparent an einem Haus, an dem vorbei ich zur Arbeit radle, und | |
jedes Mal, wenn wir auf dem Weg zur Mühle im Stau stehen, denke ich daran. | |
Heute sind wir der gute Verkehr, der Fotograf und ich; wir nehmen die | |
öffentliche Verbindung, die 3 Stunden 35 Minuten dauert, statt der 45 | |
Minuten mit dem Auto, mit fünfmal umsteigen. | |
Diese Verbindung zu nehmen, ist ein Kompromiss zwischen Ideal und | |
Wirklichkeit. Das Ideal ist die schnelle Verbindung, die nur 2 Stunden | |
dauert und die wir im wirklichen Leben nie nehmen können, weil wir zu | |
dieser Zeit noch arbeiten und das große Kind in der Schule ist. Die | |
Wirklichkeit ist, dass wir zu den Zeiten, zu denen wir tatsächlich fahren, | |
nämlich am späten Nachmittag, abends oder am Wochenende, Vierden mit den | |
Öffentlichen gar nicht an einem Tag erreichen, sondern abends irgendwo | |
stranden würden. | |
Die Kompromissverbindung ist eine feingliedrige Kette aus U-Bahn, S-Bahn, | |
Zug, Bus und nochmals Bus, bei der aus den knapp 60 Kilometern Direktweg, | |
die das Auto fahren würde, 174 Kilometer Zickzack werden. Das Umsteigen | |
muss sitzen: Wenn wir einen Anschluss verpassen, werden wir Vierden an | |
diesem Tag nicht mehr erreichen. | |
## Die Wege aufs Land | |
Erst mal sitzt es: Von der Emilienstraße in Hamburg-Eimsbüttel knapp 10 | |
Minuten U-Bahn bis Hamburg-Jungfernstieg, dann 42 Minuten mit der S-Bahn | |
bis Buxtehude. Dann noch viermal umsteigen. | |
Wo beginnt das Land? Hinter Fischbek, wo die ersten Kraniche auf dem Feld | |
stehen? Oder kurz vor Neu-Wulmstorf, wo die ersten Maisfelder auftauchen? | |
Mais sieht man überall, menschenhoch. Wenn man zwischen den Feldern | |
entlangläuft, ist es, als ginge man durch einen Wald. „Es ist Energie- oder | |
Futtermais“, sagt meine Schwester, die Biologin ist, als ich sie frage, | |
warum man überall nur noch Maisfelder sieht. „Bekommt man dafür mehr | |
Geld?“, frage ich. „Na ja“, sagt sie, [2][„Niedersachsen ist ein | |
Tiermastland.“] | |
Ich fühle mich als Gast auf dem Land, aber ich betrachte meine Gastgeber | |
mit Misstrauen. Wenn ich den Bauern hinter unserer Wiese übers Feld fahren | |
sehe, nehme ich an, dass er Gift versprüht. Und bin selbst die Karikatur | |
der ahnungslosen Städterin, die kaum ein Gemüse auf dem Feld erkennt. Was | |
kann ich, außer eine Tastatur zu bedienen, denke ich, wenn die Bauern an | |
mir vorüberfahren, oft grüßend, während sie sich mit Tieren und Pflanzen | |
auskennen, mit Bodenarten, Stallbau, Futtercomputern und Buchhaltung. | |
Bevor der Schaffner im Zug der EVB Elbe-Weser das Sternbild unserer Reise | |
auf das Faltblatt gemalt hat, hat er etwa auf der Höhe von Apensen, also | |
nach knapp 122 Kilometern und 3 Stunden Fahrzeit, festgestellt, dass unser | |
Fahrschein nicht ausreicht. „Sie können an der nächsten Station aussteigen | |
oder den erhöhten Fahrpreis zahlen“, sagt er, „aber dazu rate ich Ihnen | |
nicht.“ | |
Der Schaffner ist ein Mann in den 30ern, ein Hauch füllig, mit blondem | |
Haar, das sehr exakt hochgegelt ist. Es ist eine ähnliche Exaktheit wie die | |
der Vorgärten hier, in denen alles seinen Platz hat, gestutzte Bäume, | |
gestutztes Gras. In den Vorgärten überrascht sie mich weniger als an den | |
riesigen Höfen. Wie kann es sein, dass jemand neben all der anderen Arbeit | |
die Energie findet, all dies zu trimmen, frage ich mich mit Schauder, weil | |
ich den Anblick trostlos finde, aber auch mit Respekt vor diesem Willen, | |
sich der Entropie entgegenzustellen. | |
Wir können dem Schaffner abverhandeln, dass wir online ein neues Ticket | |
kaufen. „Vielen Dank für Ihr Verständnis“, sagt er mit geordneter | |
Freundlichkeit, als wir in Bremervörde aussteigen. 49 Minuten Wartezeit, | |
bis der Bus nach Zeven kommt, noch zweimal umsteigen. Es ist gerade mal | |
halb zwölf, aber es radeln massenweise Schulkinder vorbei. „Habt ihr jetzt | |
schon Schluss?“, frage ich drei Jungs. „Wir haben noch siebte und achte | |
Stunde“, sagen sie, „aber die Grundschüler haben nur vier oder fünf | |
Stunden.“ Mein Stadtkind kommt um Viertel vor vier aus der Schule und einen | |
Moment beneide ich stellvertretend diese hier: Wie frei sie sind. | |
Im Bus Nummer 800 zwischen Zeven und Kuhmühlen unterhalten sich zwei | |
Teenager, ein Junge und ein Mädchen. Man hört vor allem den Jungen. „Das | |
ist ein schöner Trecker“, sagt er. „Auf dem Trecker hab ich Ruhe“, sagt | |
sie. Laut Umfragen wollen nur 13 Prozent der Deutschen in der Stadt leben, | |
34 Prozent wünschen sich ein Leben auf dem Dorf. Ich wollte nicht dauerhaft | |
auf dem Land leben, zumindest nicht in Vierden. Ich bin dort, um auf der | |
Wiese auf der Bank zu sitzen und auf die Baumreihe gegenüber zu schauen, wo | |
sich drei Bäume zueinander neigen, als seien sie müde und trostbedürftig. | |
Ich bin dort, weil ich hier nicht jedes Mal, wenn die Kinder kreischend | |
hintereinander herlaufen, fürchte, dass die Nachbarn hochkommen, um sich zu | |
beschweren. Ich nutze das Land als Pause, als Kulisse meiner Pause. | |
Nach 3 Stunden 20 Minuten Fahrtzeit hakt es in der Kette: Der Bus Nummer | |
3860 hat in Kuhmühlen Bahnhof 6 Minuten Verspätung. Der Busfahrer streckt | |
den Kopf heraus, nachdem wir ausgestiegen sind: „Sie wollen nicht nach | |
Sittensen“, ruft er, halb feststellend, halb fragend, als sollten wir uns | |
noch einmal überlegen, was wir in diesem Nirgendwo zwischen altem | |
Wartehäuschen und staubigem Parkplatz zu verlieren haben. „Hier fährt doch | |
der Bus nach Vierden“, rufen wir zurück. „Ist er schon weg?“ Der Busfahr… | |
weiß nichts von einem Bus nach Vierden. | |
Ein junger Mann im schwarzen Golf fährt vom Parkplatz hinter uns los. Ob | |
der Bus Nummer 865 schon weg ist? Vielleicht. Ob er uns mitnehmen könnte? | |
Nein, er muss in die andere Richtung. Wir stehen vor dem Wartehäuschen, | |
halb ratlos, halb schicksalsergeben, als ein kleiner weißer Personenbus | |
eilig angefahren kommt. Selbst aus der Ferne scheint mir, dass die Fahrerin | |
uns überrascht ansieht. Es ist die Linie Nummer 865, auch wenn das | |
schwierig zu erkennen ist, weil der Bus nicht beschildert ist. Hinten | |
sitzen zwei Schulkinder, die uns interessiert angucken, als seien sie Teil | |
einer Kleinfamilie, die nun zwei Tramper mitnimmt. | |
Die Busfahrerin kennt die Kinder beim Namen, sie bringt die beiden | |
nacheinander nach Hause. Mit dem Mädchen steigt sie aus und hält ihm die | |
Jacke hin: „Möchtest du die anziehen?“, fragt sie, während das Kind den | |
Ranzen aufsetzt. Dann erst fährt sie uns nach Vierden. | |
„Früher hieß das Schülerbus“, sagt mir der grüne Lokalpolitiker, den ich | |
hinterher anrufe, „heute heißt es öffentlicher Nahverkehr. Aber technisch | |
hat sich nichts geändert.“ Die Kommunen organisieren eine Grundversorgung – | |
was bedeutet, dass die SchülerInnen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur | |
Schule kommen können. Mehr nicht. Der Grüne hat im Landkreis einen | |
Bürgerbus organisiert, der ehrenamtlich organisiert versucht, die Lücken zu | |
schließen. | |
Der Bus bräuchte mehr FahrerInnen – und dafür Geld, damit die | |
Kostenerstattung etwas üppiger ausfallen könnte. Aber das erfordert | |
politische Bereitschaft. „Das Land ist träger als die Stadt, das muss man | |
schon sagen“, sagt der Grüne und es klingt entschuldigend. Aber ist es nur | |
Trägheit? Laut Verkehrsclub Deutschland sind die meisten LandbewohnerInnen | |
sehr zufrieden mit der eigenen Mobilität. Wie auch nicht? 90 Prozent | |
besitzen ein Auto, und anders als in der Stadt stecken sie damit nicht im | |
Stau. Auf den Schulbus wartet außer uns hier niemand. | |
## Ankommen in Vierden | |
Es gibt eine Tradition im Anmieten von Ferienhäusern in meiner Familie, | |
aber seit den Anfängen haben sich die finanziellen Verhältnisse umgedreht. | |
Vor etwa 90 Jahren haben meine Großeltern ein Haus auf dem Land gemietet | |
und die Familie erzählt immer noch von der Unfreundlichkeit der Altbäuerin, | |
die einen Kropf hatte. Meine Großtante bezahlte die Operation, nach der die | |
Altbäuerin, so heißt es, deutlich umgänglicher wurde. Für Vierden komme ich | |
als Wohltäterin nicht infrage, denn dort verdient vermutlich jeder mehr | |
Geld als wir. Unser Auto ist das schäbigste im Ort und ich müsste eine | |
Weile sparen, um auch nur die Eingangstür eines der Häuser zu bezahlen. | |
Direkt am Ortsausgang von Vierden liegt das Neubaugebiet, ein Kreis | |
properer Einfamilienhäuser. Schnäppchen sind es nicht. Die Immobilienpreise | |
im Landkreis sind zwischen 2019 und 2020 um 17 Prozent gestiegen, das ist | |
die höchste Teuerungsrate im Hamburger Umland. Für ein Einfamilienhaus | |
zahlte man 2020 rund 269.000 Euro. | |
Es ist eine sonderbare Gleichzeitigkeit von Absterben und Prosperität: 1966 | |
wurde die Schule in Vierden nach über 300 Jahren geschlossen, 1977 | |
verabschiedete sich der Dorfladen, in den 1990ern die Dorfkneipe. Vierden | |
ist tot, was öffentliche Begegnungsmöglichkeiten angeht, aber das macht es | |
nicht weniger reizvoll für die Zuzügler. Warum auch? Es sind ja genau die | |
Städter, denen es zu viel geworden ist: zu viel Lärm, zu viel Kontakte, | |
denen sie nicht aus dem Weg gehen können. | |
Die Busfahrerin von Bus 865 wünscht uns noch einen schönen Tag, als sie uns | |
vor der Mühle absetzt. Nach 3 Stunden 40 Minuten sind wir am Ziel. Es ist | |
möglich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Mühle zu kommen. Man muss | |
nur in der Lage sein, sein Leben darauf einzustellen und eine Existenz als | |
Privatier führen. Wir setzen uns auf die Wiese und betrachten die Bäume, | |
die sich zueinander neigen. Aber nur kurz: Man darf nicht länger als zwei | |
Stunden bleiben, wenn man noch am selben Tag zurück nach Hause kommen will, | |
der letzte Bus fährt um 16.09 Uhr. | |
Aber ohne Not katapultiere ich uns aus dem Sternbild. An der Haltestelle | |
Ramshausen Ort warten wir 40 Minuten, bis mir klar wird, dass der Bus 2036 | |
nach Sauensiek ein Rufbus ist und ich uns dafür 45 Minuten vor Abfahrt | |
telefonisch hätte anmelden müssen. Auf dem Hinweg haben wir eine andere | |
Route genommen, deswegen habe ich es im Fahrplan schlicht übersehen. | |
Stattdessen gehen wir zu Fuß nach Sittensen. Es sind 7 Kilometer dorthin, | |
die wir in einer Stunde laufen müssten, um den nächsten Bus zu bekommen. Es | |
sieht nicht danach aus. | |
Ich würde gern jemanden anrufen und bitten, uns abzuholen, aber ich kenne | |
ringsum niemanden. Zumindest niemanden, der Auto fährt. In fünf Jahren in | |
Vierden habe ich einen Menschen kennengelernt: einen zwölfjährigen Jungen, | |
der mir auf dem Rad begegnete, als ich zwei Katzenkinder im Feld gefunden | |
hatte. Gemeinsam suchten wir die Mutter, vergeblich, aber seitdem freue ich | |
mich, wenn ich ihn sehe. Kinder, Tiere und Notlagen sind die einzige | |
Brücke, denke ich, wenn es keine Treffpunkte mehr gibt, keine Kirche, | |
keinen Laden, keine Kneipe. Ich versuche, ein Auto anzuhalten. Wenn nach 16 | |
Autos eines hält, so die Wette, bekomme ich eine Flasche Wein, wenn nicht, | |
bekommt sie der Fotograf. | |
Es hält keines, und wir erreichen Hamburg viereinhalb Stunden später, nach | |
dreimal umsteigen, bei Einbruch der Dunkelheit. | |
11 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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