# taz.de -- Lübecker Projekt zum Auto-Ausstieg: Tausche Lappen gegen Ticket | |
> Die Stadt Lübeck bietet BürgerInnen, die ihren Führerschein abgeben, ab | |
> Januar 2022 ein Jahresabo für den Stadtverkehr gratis an. | |
Bild: Alter Lappen: Führerscheine können in Lübeck gegen ÖPNV-Tickets getau… | |
Lübeck taz | Im Januar wird der Führerschein von Joachim Conrad 50 Jahre | |
alt. So lange fährt er schon Auto, „unfallfrei“, wie er stolz betont. Er | |
hat den Wagen vor allem genutzt, um zum Golfplatz zu fahren oder in seine | |
alte Heimat Kiel. „Ich mochte den Bus nicht so gern, weil die Leute dort | |
aufeinanderhocken“, sagt er. | |
Trotzdem will er sich 2022 das Busfahren angewöhnen. Er wird seinen rosa | |
Papierführerschein abgeben, dafür bekommt er von der Stadt Lübeck eine | |
Jahreskarte für den Bus gratis, wenn auch „leider nur im Stadtgebiet“, sagt | |
Conrad. Bis zu 500 LübeckerInnen dürfen wie er in den nächsten drei Jahren | |
ihren Führerschein gegen einen Fahrschein für den öffentlichen Nahverkehr | |
tauschen. Der gilt für ein Jahr, der Führerschein ist dann aber dauerhaft | |
weg. | |
Margret Wulf-Wichmann hofft, dass das Modellprojekt den öffentlichen | |
Nahverkehr in Lübeck stärken wird. Doch das Angebot geht ihr nicht weit | |
genug. „Sinnvoll wäre es, das nicht nur für ein Jahr, sondern lebenslang | |
anzubieten“, sagt die Sprecherin des Arbeitskreises Bauen und Planen im | |
SeniorInnenbeirat der Stadt. Sie findet es auch nicht gut, dass die Große | |
Koalition aus CDU und SPD das Thema übernommen hat, nachdem sie einen | |
ähnlichen Antrag ihres Beirats und der Grünen 2019 ablehnten. | |
Die Antragsteller hätten damals ein Freiticket für drei Jahre beantragt: | |
„Zu viel auf einmal“, sagt CDU-Bürgerschaftsmitglied Carsten Grohmann. „… | |
ist ja erst mal nur ein Modellprojekt. Ich kann mir vorstellen, den | |
Zeitraum auf drei Jahre zu erhöhen, oder auch lebenslang. Das hängt davon | |
ab, wie gut es angenommen wird, und von der finanziellen Ausstattung.“ Eine | |
Jahreskarte für den Bus kostet in Lübeck 620 Euro. Für den | |
unwahrscheinlichen Fall, dass alle 500 Jahreskarten vergeben werden, kostet | |
das die Stadt 315.000 Euro, abzüglich der Umsätze durch zusätzliche | |
NutzerInnen, die dem Bus über das erste Jahr hinaus treu bleiben. | |
In einer Umfrage der Lübecker Nachrichten sagte immerhin ein Fünftel der | |
3.000 LeserInnen, sie könnten sich vorstellen, den Führerschein abzugeben. | |
Ob sie das tatsächlich tun würden, steht auf einem anderen Blatt. | |
## Stadtverkehr „immer aggressiver“ | |
Für Eva Heesch war die Aktion der Stadt ein Anreiz, endlich Nägel mit | |
Köpfen zu machen. Sie hat schon einen Termin bei der Führerscheinstelle | |
Ende November. „Ich kann nicht verstehen, wenn jemand vielleicht sogar zwei | |
Autos in der Garage stehen hat. In der Klimakrise muss das doch nicht | |
sein“, sagt sie. Die 69-Jährige hat sich oft geärgert, wie viel Geld und | |
Raum ein Auto verbraucht. „Ich habe so oft Parkplätze gesucht. Und über die | |
Jahre ist der Straßenverkehr immer aggressiver geworden“, sagt Heesch. Weil | |
sie in der Nähe der Innenstadt wohnt, ist das [1][Leben ohne Auto] für sie | |
kaum ein Verzicht. Sie macht viele Wege zu Fuß, für einen Großeinkauf | |
zweimal in der Woche nimmt sie ein Taxi. | |
Ein Schlüsselerlebnis war für sie ein Beinahe-Unfall, den sie vor Kurzem | |
hatte. Der Schreck sitzt ihr immer noch in den Knochen. Das Fahren im Alter | |
könne ein Sicherheitsrisiko sein, zum Beispiel, wenn Menschen langsamer | |
reagieren oder weniger gut sehen. „Ich kenne Pflegebedürftige, die nehmen | |
Medikamente, setzen sich aber hinters Steuer“, sagt Heesch. | |
Auch Carsten Grohmann hofft, dass sich die Sicherheit im Straßenverkehr | |
erhöht, wenn das Projekt in Lübeck erfolgreich ist: „Als Augenarzt sehe ich | |
Patienten, die glauben, sie seien fahrtüchtig, obwohl sie es nicht sind.“ | |
Nun hofft er, dass der Führerscheintausch auch in anderen Städten Nachahmer | |
findet. | |
Lübeck ist die erste norddeutsche Stadt mit einem solchen Modellprojekt. In | |
Kaufbeuren in Bayern und Biberach in Baden-Württemberg haben sich 200 | |
beziehungsweise 50 Menschen beteiligt. Der baden-württembergische Landkreis | |
Ludwigsburg startete schon 2015 eine Umtausch-Aktion und vermeldete nach | |
einem Jahr 45 Prozent mehr NeukundInnen für Nahverkehr-Abos. | |
Genaue Zahlen über die Beteiligung gibt es aber nicht. In allen drei | |
Städten waren die Projekte auf RentnerInnen beschränkt. Im bayerischen | |
Bamberg und im nordrhein-westfälischen Recklinghausen sind sie für alle | |
Menschen offen – wie jetzt auch in Lübeck. RecklinghausenerInnen fahren nur | |
drei Monate kostenfrei und weitere drei, wenn sie danach ein Abo | |
abschließen. | |
Ob die Projekte die Verkehrswende tatsächlich voranbringen, ist fraglich. | |
Etliche TeilnehmerInnen hätten ihren Führerschein wohl ohnehin abgegeben. | |
Der Effekt auf die Umwelt bestünde dann vor allem darin, dass weniger Pkw | |
ungenutzt den urbanen Raum verstopfen. | |
2 Sep 2021 | |
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[1] /Wie-Klimaschutz-im-Verkehr-funktioniert/!5791014 | |
## AUTOREN | |
Friederike Grabitz | |
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