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# taz.de -- Verantwortung von Museen: Kunst ohne Kontext
> Museen müssen die Geschichte ihrer Sammlungen erforschen. Denn vieles
> wurde geraubt, mitgenommen, unredlich erworben.
Bild: Corrie Leitz in der Bibliothek des Johann-Friedrich-Danneil-Museums
Corrie Leitz hat ihr Handwerkszeug für diesen Tag zurechtgelegt: weiße
Stoffhandschuhe, Karteikästen, alte Zugangsbücher. Dazu das Inventarbuch
von 1948 und die große rote Kladde von 1978, auf der noch das
Hammer-und-Sichel-Emblem der DDR prangt. Mittendrin ihr Laptop. „Ohne den
geht gar nichts.“ Auf dem Sideboard lagern etwa 20 Kisten mit
Altinventarien aus dem Magazin.
Die Arbeit einer Provenienzforscherin ist kleinteilig, erfordert Akribie.
Und in Leitz’ Fall auch eine Lesebrille, die sie im Laufe des Tages auf-
und absetzen wird. Die Handschuhe bleiben vorerst unbeachtet. Aufgeregt
umrundet Leitz den Tisch und die Papierstapel. „Viel werden Sie nicht sehen
können“, hatte sie am Telefon gewarnt. „Ich stehe am Anfang meiner
Recherche.“
Hier im museumspädagogischen Raum des [1][Johann-Friedrich-Danneil-Museums]
in Salzwedel hat die 57-Jährige für heute Quartier bezogen. Das
Regionalmuseum bildet das materielle Gedächtnis der Region Altmark, von
archäologischen Funden bis zum Salzwedeler Baumkuchen. 660 Objekte, deren
Herkunft ungeklärt ist, sind im Bestand des Hauses, das hat ein „Erstcheck“
ergeben, den das Museum 2016 durchführen ließ. Die Liste hat Leitz in ihrem
Computer, mit allem, was man über die einzelnen Objekte weiß – und nicht
weiß. Ihre Erwerbsumstände soll sie erforschen.
Provenienzforschung ist seit der spektakulären Entdeckung der Kunstsammlung
von [2][Cornelius Gurlitt] 2012 eine wichtige Vokabel im kulturpolitischen
Geschehen der Bundesrepublik. Über tausend Kunstwerke aus der Sammlung
seines Vaters Hildebrand Gurlitt, Kunsthändler in der NS-Zeit, hatte der
Sohn in seiner Wohnung in München-Schwabing und seinem Haus in Salzburg
versteckt. Eine Taskforce zur Überprüfung der Kunstwerke wurde eingerichtet
und 2015 das [3][Deutsche Zentrum Kulturgutverluste] (DZK) in Magdeburg
gegründet, das von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden als
Stiftung finanziert wird.
Kein Museum, das auf sich hält, kommt heute drum herum, die Geschichte
seiner Sammlung zu erforschen. Und die nicht abreißenden Debatten um das
Berliner [4][Humboldt Forum], wo gerade das Ethnologische Museum und das
für Asiatische Kunst eröffnet wurden, lassen ahnen, dass es damit allein
nicht getan ist. Wie wurden die Stücke erworben? Waren es Schenkungen oder
Ankäufe, unter welchen Umständen fanden diese statt? Wie werden sie
präsentiert?
Stand anfangs bei der Provenienzforschung die Zeit des Nationalsozialismus
im Fokus, hat in den letzten Jahren die Diskussion um den Erwerb von
Objekten aus der Kolonialzeit an Dringlichkeit gewonnen. Gemälde wie die
„Berliner Straßenszene“ von Ernst Ludwig Kirchner wurden an die Erben
zurückgegeben, die „Herero-Schädel“ an Nachfahren dieser Volksgruppe im
heutigen Namibia überführt. Jedes Mal unter großer Anteilnahme von Politik
und Öffentlichkeit. Das Aufgabengebiet der Provenienzforschung ist immer
größer geworden.
In Salzwedel geht es um Bücher, Grafiken, alte Stiche, jüdische oder
Freimaurer-Schriften, die in den Jahren 1933 bis 1945 in den Museumsbestand
gekommen sein können. Was davon gehörte jüdischen Familien, die, emigriert
oder deportiert, ihren Besitz zurücklassen oder unter Wert veräußern
mussten? Die alte hebräische Bibel bestimmt. Aber was ist mit der
„Geschichte der Großen National-Mutter-Loge der Preußischen Staaten genannt
zu den Drei Weltkugeln“? Gehörte das Buch von 1875 einem von den
Nationalsozialisten verfolgten Freimaurerhaushalt?
Das Logenbuch ist einer der Treffer, die Corrie Leitz an diesem Tag landen
wird.
In den Eingangsbüchern sind Neuzugänge von Objekten dokumentiert, mit
Datum, kurzer Objektbezeichnung und Herkunftsangaben – sofern bekannt.
Wissenschaftlich erfasst, mit Beschreibung und Kenntnisstand, werden sie
normalerweise bei der Katalogisierung, erklärt Leitz, früher auf
Karteikarten, heute in Datenbanken. Doch auch Inventarbücher, sofern
vorhanden, enthalten oft lückenhafte Angaben. Leitz deutet auf eine Liste
im roten Inventarbuch von 1978. „Wenn hier steht: ‚Alter Bestand‘“, sagt
sie, „dann ist das meist ein Synonym für: Herkunft unbekannt.“
Salzwedel gehört heute zum Land Sachsen-Anhalt, frühere DDR. 1977 hatte man
dort verfügt, dass die Museen ihren Bestand inventarisieren. Durch Krieg,
Zeitumbrüche oder Ignoranz bedingt, fehlten vielerorts Eingangsbücher oder
Karteikarten. Dann wurde mit flotter Hand „Alter Bestand“ eingetragen. Im
roten Buch auf dem Tisch geht das seitenlang so. Provenienzforschung war
in der DDR meist „kein Thema“, sagt Leitz, die selbst in der DDR Geschichte
studiert hat. Heute sind Beschlagnahmungen aus dem Besitz von
Republikflüchtlingen und durch die Bodenreform enteigneter Familien
Gegenstand der Forschung.
## Selten sind die Eingangsbücher lückenlos
Durchgängige Eingangsbücher existieren in Salzwedel nur für die
Museumsbibliothek und die Archäologie, sagt Leitz. „Was sonst zwischen 1929
und 1948 ins Museum gekommen ist, wissen wir bis auf Ausnahmen nicht.“
Mutwillige Zerstörung, Diebstahl, aber auch schlicht Papiermangel könnten
Gründe für das Verschwinden der Archivalien sein. Ein Teil der Akten liegt
vermutlich im Landesarchiv in Magdeburg. „Wir müssen die Sache anders
angehen“ sagt Leitz, „wir werden mit Objektautopsie anfangen.“ Jedes Stü…
wird sie im Laufe der Zeit in die Hand nehmen, nach Inventarnummern,
Stempeln, Etiketten von Speditionen absuchen.
Leitz legt zwei hauchzarte Kupferstiche von 1650 auf den Tisch,
Stadtansichten, befreit sie vorsichtig aus dem Pergamentpapier. Die
Handschuhe hat sie übergestreift. Auf den Drucken ist mit Bleistift das
Erwerbsdatum notiert: 1938 beziehungsweise 12. Mai 1939. Auch der
Erwerbspreis: 2,50 Reichsmark. „Der normale Antiquariatswert“, sagt Leitz.
„Das heißt erst mal nichts.“
Um mit so mageren Angaben arbeiten zu können, muss sie in Erfahrung
bringen, „wer zwischen 1933 und 1945 in den Behörden und an
verantwortlicher Stelle saß“. Akteure wie Walter Neuling, der im
Vereinsvorstand des Altmärkischen Geschichtsvereins war und dessen
Handschrift die Ankaufsnotizen auf den Kupferstichen tragen.
Leitz will Personendossiers zu ihm und anderen Verantwortlichen anlegen,
parallel arbeitet sie mit Namenslisten der verfolgten und geschädigten
Familien und hofft, dass sich im Abgleich Überschneidungen ergeben.
Vielleicht. Gut möglich, dass es bei vielen Objekten weiterhin heißen wird:
Herkunft und Erwerb unbekannt. „Wir arbeiten ergebnisoffen“, sagt Leitz.
Verpflichtet ist sie nur ihrem Auftraggeber, dem Museumsverbund
Sachsen-Anhalt. Nach einem „Erstcheck“ in mehreren Museen des Bundeslandes
kam man zu dem Entschluss, für das Danneil-Museum Salzwedel einen Antrag
auf vertiefende Provenienzforschung zu NS-Raubgut beim Deutschen Zentrum
für Kulturgutverluste (DZK) in Magdeburg zu stellen. Laufzeit: 18 Monate.
Einbezogen ist das [5][Altmärkische Museum Stendal], wo ebenfalls 160
Objekte unbekannter Herkunft vermerkt wurden. Dort sei die Aktenlage sehr
viel besser, sagt Corrie Leitz, deswegen knöpft sie sich Salzwedel zuerst
vor. Durch Walter Neuling gibt es eine personelle Überschneidung zwischen
den beiden Häusern – der Historiker war bis 1945 Mitglied im Altmärkischen
Museumsverein Stendal und von 1948 bis 1955 Leiter des Danneil-Museums
Salzwedel, wo er möglicherweise auch Objekte aus seiner vor 1945 angelegten
Sammlung einbrachte.
Neuling wirkte nicht nur im Altmärkischen Geschichtsverein, sondern war
außerdem Mitarbeiter des Auslandswissenschaftlichen Instituts in der
NS-Zeit. Seine Entsendung nach Prag könnte er genutzt haben, um dort
Kunstobjekte in seinen Besitz zu bringen. Sein Bruder Otto war
Antiquitätenhändler, saß später in der DDR wegen Antiquitätenschmuggels in
Haft. Walter Neuling ging 1956 in den Westen, ein Teil seines Nachlasses
lagert in Potsdam. Viel Forschungsbedarf.
Ulrich Kalmbach, Leiter des Danneil-Museums in Salzwedel seit 1989, hält
sich im Hintergrund, während Corrie Leitz ihre Arbeit erklärt. Wird Leitz
Dinge herausfinden, die er noch nicht weiß? Kalmbach nickt. „Bestimmt.“
Und, hat er Angst, Objekte aus dem Museumsbestand rausrücken zu müssen?
„Nein.“ Die zu untersuchenden Objekte gehören ohnehin nicht zur
Dauerausstellung – wie bei den meisten Museen sind die Depots umfangreicher
als die zur Schau gestellten Teile der Sammlung. „Es ist gut, einen
bereinigten Bestand zu haben“, sagt Kalmbach. „Aber natürlich trennt man
sich nicht gern. Wir sind zum Bewahren und nicht zum Weggeben da.
## Forschungsergebnisse müssen zentral gespeichert werden
Alle an der Provenienzforschung teilnehmenden Häuser verpflichten sich, den
Abschlussbericht in der Datenbank Proveana des Deutschen Zentrums
Kulturgutverluste (DZK) zugänglich zu machen und im Fall von
Restitutionsforderungen, diesen nachzukommen. Kaum jemand kennt sich in der
Materie so gut aus wie Uwe Hartmann, der die Abteilung Provenienzforschung
am DZK leitet. Hartmann empfängt in den sonnendurchfluteten Büroräumen der
Berliner Außenstelle des DZK, auch das ein Zeichen, dass die
Provenienzforschung und das von der Kulturbeauftragten des Bundes, Monika
Grütters, eingerichtete Zentrum eine Aufwertung erfahren haben.
„Wir haben mit 75 Prozent eine hohe Bewilligungsquote bei den Anträgen“,
sagt Hartmann, der in der DDR Kunstgeschichte studierte. 35 Mitarbeiter
zählt das DZK insgesamt, das mit 11,3 Millionen Euro vom Bund gefördert
wird. Bis zu 50 Neuanträge kämen pro Jahr rein, sagt Hartmann, nach dem
Gurlitt-Skandal fand ein richtiger Run statt. 300 langfristige und 120
kurzfristige Projekte laufen derzeit, allein in der ersten Antragsrunde
[6][2021 wurden 31 Projekte in Höhe von insgesamt 2,8 Millionen Euro
bewilligt].
Hartmann kann gut erklären, und es ist mit seiner eigenen Biografie
verflochten, dass Provenienzforschung nicht erst mit dem Schwabinger
Kunstfund 2013 angefangen hat. Er begann 2001 für die Koordinierungsstelle
für Kulturgutverluste in Magdeburg zu arbeiten, leitete später die
Arbeitsstelle Provenienzforschung am [7][Berliner Institut für
Museumsforschung], um dann 2015 ans DZK zurückzugehen.
„Es wäre in Deutschland bis heute nicht viel passiert“, sagt Hartmann,
„wenn nicht 1998 die Washingtoner Konferenz stattgefunden hätte.“ Aus der
internationalen Konferenz, an der 44 Staaten und verschiedene jüdische
Opferverbände teilnahmen, resultierte die Washingtoner Erklärung, der 1999
in Deutschland eine „Gemeinsame Erklärung“ des Bundes, der Länder und der
kommunalen Spitzenverbände folgte: eine Selbstverpflichtung zur Auffindung
und Rückgabe von „NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern,
insbesondere aus jüdischem Besitz“. Aber erst der Fall Gurlitt brachte den
Prozess, der mit der Washingtoner Erklärung angefangen hatte, „mit
Nachdruck“ voran.
Hartmann darf die Gelder nicht allein verteilen, das entscheidet der
Vorstand nach Empfehlung eines Beirats. Aber er kennt die Projekte, berät.
Anfangs wurden Forschungen zur Klärung von Einzelfällen und Überprüfung von
Sammlungsbeständen öffentlicher Einrichtungen gefördert, heute können auch
Einzelpersonen und private Stiftungen Gelder beantragen. Nach einer
Evaluierungsphase stellte man fest, dass überwiegend Landesmuseen und große
staatliche Einrichtungen Mittel beantragt hatten; Museen in der
Trägerschaft von Städten und Kommunen, insbesondere die kleinen
Heimatmuseen, waren kaum dabei. Fördermittel bereitzustellen reichte nicht,
um die Provenienzforschung an Häusern zu etablieren, die kein
wissenschaftliches Personal hatten.
In der Folge wurde 2015 das Modell der sogenannten Erstchecks für die
kleineren und mittleren Museen entwickelt, in Zusammenarbeit mit den
regionalen Museumsverbänden. Sie wählen nach Rücksprache Gruppen von Museen
aus, bei denen NS-Raubgut im Bestand nicht ausgeschlossen werden kann.
Ergeben sich beim Erstcheck Verdachtsmomente, werden
Provenienzforscher:innen beauftragt, um vor Ort und in Archiven
gründlich zu recherchieren.
„Wir haben festgestellt, die Museen schaffen das nicht allein“, sagt
Hartmann. „Schon gar nicht die kleineren, weil die Sammlungsdokumentation
nicht auf einen aktuellen Stand gebracht werden konnte oder auch die
Arbeitsbedingungen in Werkstätten und Depots mitunter so waren, dass sie
lieber niemanden hineingucken lassen wollten.“
Auch in der Lutherstadt Wittenberg lässt man sich nicht gern in die Karten
gucken. Es fällt dort schwer, das Erbe des Sammlers Julius Riemer
aufarbeiten zu lassen. Uwe Hartmann nennt das „den stabilen langen Schatten
einer Stifterpersönlichkeit“.
Dem Handschuhfabrikanten [8][Julius Riemer], Jahrgang 1880, verdankt
Wittenberg eine große Sammlung. Das nach ihm benannte Natur- und
Völkerkundemuseum im Wittenberger Schloss wurde 1949 eröffnet. Dass ein
Sammler, selbst kein NSDAP-Mitglied, aber in verschiedenen NS-Verbänden
aktiv, in der DDR ein Privatmuseum für seine naturkundliche und
ethnologische Sammlung betreiben durfte, gehört zu den Kuriosa der
Geschichte. Auch hier: Forschungsbedarf.
An einem freundlichen Montagmorgen im September empfängt Andreas Wurda,
Leiter der [9][Städtischen Sammlungen Wittenberg], die Besucherin aus
Berlin, an seiner Seite die Pressesprecherin der Stadt, Karina Austermann.
Am Tag zuvor hat Wittenberg den Tag des offenen Denkmals ausgerichtet. Die
Gäste sind wieder abgereist, das Zeughaus, wo die Riemer-Sammlung
inzwischen untergebracht ist, hat Ruhetag.
Im unteren Geschoss finden sich die „Kronjuwelen der Stadt“, einzelne
Schauobjekte der Stadtgeschichte: Amtskette, Beutelordnung, Richtschwert,
KZ-Kennkarte, Amboss, aus jeder Epoche ein Schaustück – aber auch ein
präpariertes Giraffenhaupt und der „Uli“, eine kultische Figur aus
Neuguinea, sind zu sehen. Eine Einstimmung auf „Riemers Welt“, die in der
zweiten Etage beheimatet ist. Erst Ende 2018 ist die neu konzipierte
Ausstellung eröffnet worden. Sie wirkt jetzt schon aus der Zeit gefallen.
Es liegt an ihrem Charakter als Schaudepot, Kuriositätenkabinett: übervolle
Vitrinenschränke mit Tierpräparaten, Schlangen, Vögeln, Reptilien,
Kultgegenständen, sogar eine Mumie findet sich. Inmitten des Raums dreht
sich ein Karussell, das einzelne Sammlungsstücke darbietet. „Riemer war ein
leidenschaftlicher Sammler, die Ausstellung will ihn in seiner Zeit
vermitteln“, sagt Andreas Wurda, der mit seiner weißen Schiebermütze,
heller Hose, hellem Jackett plus Fliege so aussieht, als wolle er bald auf
Expedition.
Riemer betrieb in den Jahren zwischen 1933 und 1945 den Erwerb natur- und
volkskundlicher Objekte aktiv. Am Eingang zur zweiten Etage steht der
Original-Arbeitstisch Riemers, ein massives Möbelstück, darauf ein kleines
Schild: „Liebe Besucher, dieser Teil der Ausstellung ist noch nicht
abschließend Provenienz erforscht“. Die dazugehörige Medienstation ist
wegen Corona nicht benutzbar.
Tatsächlich hat die Stadt Wittenberg nach einem ersten, intern gebliebenen
Gutachten einen Antrag zur vertiefenden Provenienzforschung beim DZK
gestellt, bei der es um Riemers Beziehung zu [10][Oscar R. Neumann], einem
jüdischen Ornithologen und Wissenschaftler, geht. 1941 erwarb Riemer einen
Teil seiner Sammlung, einen anderen übertrug ihm Neumann zur Aufbewahrung,
bevor dieser 1941 noch in die USA emigrieren konnte, wo er 1946 starb. Die
Stadt schrieb das Forschungsprojekt aus, den Auftrag bekam die Berliner
Geschichtsagentur Facts & Files. Vor 20 Jahren hatten sich Beate Schreiber
und ein Kompagnon, die sich vom Geschichtsstudium kannten, selbstständig
gemacht. Angefangen haben sie mit Vermögensrecherchen und
Archivierungsprojekten, seit ein paar Jahren macht Facts & Files vermehrt
Provenienzforschung. „Jeder Fall ist anders interessant“, sagt Schreiber am
Telefon.
Gemeinsam mit zwei Kollegen recherchiert die Historikerin seit einem Jahr
zur Causa Neumann – Riemer. Die Laufzeit des Projekts wurde bis Februar
2021 verlängert, da eine Reise in die USA coronabedingt nicht möglich war.
Die Akten sind mittlerweile gescannt und ein erster [11][Zwischenbericht]
liegt vor. Auskunft darüber hinaus zu geben wurde Schreiber nicht
gestattet.
Neumann war ein bekannter Wissenschaftler, er hat viel publiziert und ging
später ans [12][Field Museum in Chicago]. Übergabe und Verkauf der Sammlung
im Jahr 1941 sind in jedem Fall als „NS-verfolgungsbedingt“ zu sehen, heißt
es im Zwischenbericht. „Freiwilligkeit gab es zu diesem Zeitpunkt nicht
mehr“, sagt Schreiber am Telefon.
Der Wittenberger Autor [13][Mathias Tietke] ist überzeugt, dass Riemer ein
„Nazifreund“ gewesen ist. Er liefert sich seit Jahren Kämpfe mit
Stadtverwaltung und Museumsleitung, ist ins Bundesarchiv gegangen, um die
Riemer’sche Korrespondenz zu sichten. Einer, der den Burgfrieden des in der
Stadt einflussreichen [14][Julius-Riemer-Freundeskreises] nickelig stört
und sagt: „Sachlichkeit in Wittenberg bedeutet, dem Nationalsozialismus
positive Seiten abzugewinnen oder sich einer Bewertung zu enthalten.“
Darauf angesprochen, sagt die Pressesprecherin Karina Austermann: „Wir
haben nicht den geringsten Grund, etwas zu verheimlichen.“
Herauszukriegen, wie eng oder gut Riemer dem NS-Regime verbunden war,
gehört mit zum Aufgabengebiet des Facts-&-Files-Teams. Riemer war unter
anderem in der Forschungsgemeinschaft NS-Ahnenerbe und im Reichsbund für
Karst- und Höhlenforschung aktiv. Er war kein NSDAP-Mitglied – was nichts
heißen muss, da die Partei immer wieder Aufnahmestopps verfügte. Klar ist
aber bereits, dass die Sammlung von Julius Riemer vorbelastet ist. Warum
heißt es dann bei Museumsleiter Andreas Wurda: „Wir sind noch mitten im
Erkenntnisprozess“? Wäre es nicht an der Zeit, sich bereits Gedanken über
eine Neukonzeption zu machen? „Wir wollen erst ordentlich recherchieren und
herauskriegen, welche Objekte betroffen sind“, sagt Wurda.
Ein Erkenntnisprozess, für den er acht bis zehn Jahre Forschung ansetzt. Er
habe Ideen im Kopf, sagt Wurda, doch sei die Neugestaltung einer
Dauerausstellung ein Prozess, der durch einen wissenschaftlichen Beirat,
Oberbürgermeister, Stadtrat und die Bürger der Stadt bestimmt werde. „Das
ist nicht mit einer Maßnahme abgetan.“
Uwe Hartmann vom DKZ sagt: „Das Museum tut gut daran, die Riemer’sche
Sammlung aufarbeiten zu lassen. Das kommt für das Museum auch viel
positiver rüber.“
## Mit Digitalisierung allein ist es nicht getan
Rund 90 Prozent der historischen Akten vor 1945 sind laut Wurda
digitalisiert. Der Museumsleiter, gelernter Ausgrabungstechniker, träumt
davon, die archäologische Sammlung der Stadt in 3-D-Filmtechnik zu
präsentieren. In den USA seien sie mit der Digitalisierung viel weiter,
sagt Beate Schreiber von Facts & Files. Dort stünden Objektdatenbanken,
Provenienzen und Abbildungen – alles online – zur Verfügung. „Hier in
Deutschland kaufen die Museen Lizenzen für Datenbanken und hoffen, es sei
damit erledigt.“
Die nachhaltige Sicherung der digitalen Forschungsinfrastruktur ist eine
Herausforderung – für alle Beteiligten. „Unser Job ist es, die Forschung zu
fördern“, sagt Uwe Hartmann vom DKZ. Offen bleibt die Frage, was mit
Dokumentationen und Datenbanken passiert, die im Rahmen von Projekten
entstehen. Wer pflegt und aktualisiert sie in Zukunft? „Hierzu sind
kleinere Museen oder Bibliotheken oft gar nicht in der Lage,“ sagt
Hartmann. „Wenn wir das bei Antragstellung zur Vorbedingung machen würden,
würden wir gerade jene ausschließen, die wir besonders unterstützen
wollen.“
Ein Dilemma, das das [15][Schifffahrtsmuseum Bremerhaven] gerade durchlebt:
Dort läuft ein Forschungsprojekt, vom DZK gefördert, zum Verbleib von
zurückgelassenen Umzugskisten jüdischer Emigranten im Containerhafen. Dafür
hat das Museum sogar eine Datenbank entwickelt: „LostLift“. Aber um diese
online gehen zu lassen, gibt es keine Finanzierung. Und aufgrund seiner
komplexen Struktur lässt sich LostLift nicht in die Forschungsdatenbank des
DZK integrieren.
„Digitalisierung allein reicht nicht“, sagt Meike Hopp, Juniorprofessorin
an der TU Berlin und Vorsitzende des [16][Arbeitskreises
Provenienzforschung], „man muss auch die Metadaten zusammenbringen.“ Sonst
lassen sich keine Verknüpfungen herstellen, zwischen Objekten und Akteuren,
Institutionen und Geschädigten. „Welche Metadaten werden aufgenommen? Wer
entscheidet nach welchen Kriterien?“, fragt Hopp. „Das wird in den Häusern
unterschiedlich und nicht transparent gehandhabt. Die Daten müssen
vergleichbar sein, um Forschungsbemühungen zu bündeln und
Forschungskontexte herzustellen. Das wäre gerade für kleinere Häuser
hilfreich.“ Und würde langfristig internationale Kooperationen
ermöglichen, die in der Förderstruktur nicht vorgesehen sind.
„Es ist in den letzten Jahren viel und wenig erreicht worden“, sagt Hopp
beim Treffen in einem Berliner Café. Viel – weil die Provenienzforschung in
den letzten Jahren ausgebaut worden ist. Wenig – weil die
Forschungsprojekte auf maximal drei Jahre beschränkt sind, was zur Folge
habe, dass Forscher:innen abwandern und ein akademisches Prekariat
entsteht.
## Die Provenienzforschung muss langfristig gefördert werden
Hopp wünscht sich „fairere“ Laufzeiten für Projekte, je nachdem wie
umfangreich das zu untersuchende Konvolut ist. Die Kunstwissenschaftlerin
befürchtet außerdem, dass die Museen sich nach der Projektförderung nicht
in der Verpflichtung sehen, weiterführende Forschung zu machen. Sie
fordert: „Die Museen brauchen bessere Ausstattung für die
Provenienzforschung.“ Feste Stellen? Wenn möglich, ja. „Es ist ein
Museumsberuf, das ist in der öffentlichen Wahrnehmung noch nicht
angekommen. Diese begann mit Fokus auf die NS-Zeit, aber wir wissen, dass
1945 nicht Schluss war.“
Dass Provenienzforschung oft mit Restitutionsforschung gleichgesetzt wird,
ärgert sie. „Das setzt einen fiktiven Endpunkt, als gebe es einen
Schlussstrich. Dadurch wird das Prozesshafte der Provenienzforschung nicht
wahrgenommen.. Aber geht es nicht ums Aufspüren, Recherchieren, letztlich
auch um Sichtbarmachung und um Wiedergutmachung? Was die Restitution
angeht, hat Hopp klare Ansichten: Rückgabe, wo möglich und gefordert.
„Provenienzforschung muss sich als akademische Disziplin emanzipieren“,
sagt sie. Es gehe um Kontextforschung zu Kulturgutverlagerungen,
Institutionengeschichte, Rechtssicherheit. „Wir jagen keinen Schnipseln
hinterher, die Detektivarbeit ist nur ein Teil davon.“
Aber ein wichtiger Teil, und sie steht oft am Anfang. Corrie Leitz in
Salzwedel atmet tief aus, ihre Augen leuchten: „Ich mache diese Spürarbeit
gern.“ Die Historikerin, die früher in kleinen Museen gearbeitet hat, hat
sich 2016 für Provenienzforschung an der Berliner FU fortgebildet. Seither
macht sie Erstchecks und Grundlagenforschung in Sachsen-Anhalt. Bisher war
die NS-Zeit ihr Schwerpunkt, aber Provenienzforschung in kolonialen
Kontexten würde sie auch reizen.
Sie schlägt den alten Band zur „Geschichte der Großen National-Mutter-Loge�…
auf, die mit Bleistift eingetragene Nummer 5/ 1948 steht im
Zugangsverzeichnis. Eine Museumsmitarbeiterin hat das Buch im
Bibliotheksbestand gefunden. Ein Erfolgserlebnis. Weitere Herkunftsangaben
sind nicht vorhanden. Der damalige Museumsleiter Walter Neuling könnte das
Buch regulär erworben oder aus seiner eigenen, in der NS-Zeit erworbenen
Sammlung mitgebracht haben. Leitz findet beim Blättern noch den Stempel
eines Anwalts in Perleberg. Wieder ein neuer Name, ein anderer Ort, eine
unbekannte Größe im Spiel. Die Suche geht weiter.
30 Sep 2021
## LINKS
[1] https://www.museen-altmarkkreis.de/johann-friedrich-danneil-museum/
[2] /Eroeffnung-von-Gurlitt-Ausstellungen/!5457629
[3] https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Start/Index.html
[4] https://www.humboldtforum.org/de/
[5] https://museum.stendal.de/
[6] https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Forschungsfoerderung/Projektstatis…
[7] https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/institut-fuer-museumsforschung/…
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Julius_Riemer
[9] https://lutherstadt-wittenberg.de/kultur/museen-ausstellungen/museum-stadtg…
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Oscar_Neumann
[11] https://www.mz.de/lokal/wittenberg/julius-riemers-vergangenheit-wird-in-wi…
[12] https://www.fieldmuseum.org/
[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Mathias_Tietke
[14] https://www.riemer-museum.de/
[15] https://www.dsm.museum/forschung/forschungsprojekte/uebersiedlungsgut-jued…
[16] https://www.arbeitskreis-provenienzforschung.org/
## AUTOREN
Sabine Seifert
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fordern mehr Druck auf die Museen, ihre Sammlungen zu hinterfragen.
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