| # taz.de -- Dekolonisierung in Berlin: Wem gehört der Dino? | |
| > Der Senat will die koloniale Vergangenheit Berlins aufarbeiten. | |
| > Aktivisten fordern mehr Druck auf die Museen, ihre Sammlungen zu | |
| > hinterfragen. | |
| Bild: Diorama zur Dino-Expedition im Naturkundemuseum: Hinweise auf kolonialen … | |
| Wie gehen wir mit der kolonialen Vergangenheit Berlins um? Die Frage, die | |
| viele Jahre nur Nachkommen von Kolonialisierten und ein paar linke | |
| HistorikerInnen interessierte, hat seit einiger Zeit Konjunktur. In den | |
| Bezirken gibt es, zumeist angestoßen von zivilgesellschaftlichen | |
| AkteurInnen, inzwischen häufiger Debatten über koloniale Straßennamen, | |
| Museen machen Sonderausstellungen, Führungen und Workshops, an den Unis | |
| wird das Thema „Koloniales Erbe“ vermehrt erforscht. Radikale | |
| DenkmalstürmerInnen versahen vor einigen Wochen mehrere Standbilder mit der | |
| Aufschrift „Decolonize Berlin“ – darunter Reichskanzler Bismarck, den | |
| Initiator der sogenannten Afrika-Konferenz. Und auch wenn sie weiterhin | |
| eine Minderheit sein dürften, zeigt sich: Die Notwendigkeit einer | |
| „Entkolonialisierung“ der Stadt wird nach Jahrzehnten des Schweigens und | |
| Verdrängens mehr und mehr anerkannt. | |
| Auch in der Koalition: Im August 2019 beschloss das Abgeordnetenhaus unter | |
| der Überschrift „Berlin übernimmt Verantwortung für seine koloniale | |
| Vergangenheit“, der Senat solle ein gesamtstädtisches Aufarbeitungs- und | |
| Erinnerungskonzept entwickeln. Knapp ein Jahr später hat der Senat nun – | |
| mit etwas Verspätung – einen ersten Zwischenbericht vorgelegt. | |
| Neben dem Bekenntnis zu bereits Beschlossenem – etwa der Entwicklung einer | |
| zentralen Gedenkstätte für die Opfer des Kolonialismus – enthält der | |
| Bericht einige Neuigkeiten. So richtet der Senat eine Koordinierungsstelle | |
| ein, die die Erstellung und Umsetzung des Dekolonisierungskonzepts | |
| begleiten und vor allem die Teilhabe der Zivilgesellschaft gewährleisten | |
| soll. | |
| Träger ist das Bündnis Decolonize Berlin, ein Zusammenschluss von zehn | |
| postkolonialen und antirassistischen Intiatiativen, darunter Berlin | |
| Postkolonial, AfricAvenir und die Initiative Schwarzer Menschen in | |
| Deutschland (ISD). Budget: 250.000 Euro pro Jahr. Die Koordinierungsstelle | |
| soll Workshops organisieren, wissenschaftliche Gutachten in Auftrag geben, | |
| Online-Partizipationsformen entwickeln, Akteure vernetzen. Am 15. und 16. | |
| September wird sie im Betahaus eine zweitätige „Zukunftskonferenz“ | |
| veranstalten. | |
| ## Keine eigene Uni-Forschungsstelle Kolonialismus | |
| Auch was es nicht geben soll, steht im Zwischenbericht: eine eigene | |
| „Forschungsstelle Kolonialismus“ an einer hiesigen Uni – wie es sie in | |
| Hamburg seit 2014 gibt. Der Senat erachte dies nicht als „zielführend“, | |
| heißt es, da es bereits eine Vielzahl von Forschungsprojekten zum Thema | |
| gebe. Zudem fehlten aktuell die finanziellen Mittel. | |
| Christian Kopp, Historiker und Aktivist der Gruppe Berlin Postkolonial, | |
| findet: „Grundsätzlich und mittelfristig“ wäre eine solche Forschungsstel… | |
| schon zu wünschen. Allerdings sei es positiv, dass der Senat „zuerst einmal | |
| die enge Zusammenarbeit mit den afrodiasporischen und postkolonialen | |
| Initiativen“ gesucht habe und nun deren erinnerungskulturelle Aktivitäten | |
| fördere. | |
| Dies geschieht vor allem mit dem fünfjährigen Kulturprojekt „Dekoloniale | |
| Erinnerungskultur in der Stadt“, das Berlin Postkolonial, Each One Teach | |
| One und der ISD zusammen mit dem Stadtmuseum durchführen werden. Das | |
| Projekt, vom Land bis 2024 mit 2 Millionen Euro finanziert, hat am Dienstag | |
| sein Programm vorgestellt (siehe Kasten). | |
| Als Schwachpunkt des Senatsberichts erweist sich der Bereich | |
| Provinienzforschung in den Museen, sprich: die Erforschung der Herkunft | |
| ihrer Bestände. An diesem Thema hatte sich die Debatte über das koloniale | |
| Erbe vor einigen Jahren zuerst entzündet – Stichwort Humboldt Forum im | |
| rekonstruierten Berliner Schloss. Der Senat betont, das Land habe auf | |
| Institutionen wie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Stiftung | |
| Humboldt Forum „keinen oder nur eingeschränkten inhaltlichen Einfluss“. Man | |
| setze sich aber im Rahmen des Möglichen „für eine kritische | |
| Auseinandersetzung“ mit den Sammlungen ein. | |
| ## Mehr Geld für Provinienzforschung nötig | |
| Für den kulturpolitischen Sprecher der Grünen-Fraktion, Daniel Wesener, ist | |
| diese „weitgehend indifferente Haltung des Landes Berlin im musealen Feld“ | |
| das „eigentliche Versäumnis“. Er fordert die Öffnung der Depots und Archi… | |
| aller Sammlungen und Institutionen sowie die schnelle Digitalisierung der | |
| Objekte, „bei denen ein Zusammenhang mit der Kolonialvergangenheit nahe | |
| liegt“ – damit die Herkunftsländer überhaupt erfahren, was in hiesigen | |
| Museen lagert – und was sie also zurückfordern könnten. Dafür müsse die | |
| Politik aber auch das Geld zur Verfügung stellen, gibt er zu. Bislang | |
| geschieht dies nur sehr begrenzt, wichtige erste Pilotprojekte, etwa zu | |
| menschlichen Überresten, wurden über die private Gerda-Henkel-Stiftung | |
| finanziert. Wesener verspricht: „Als Grüne werden wir uns dafür einsetzen, | |
| dass Berlin die notwendige finanzielle Vorsorge trifft.“ | |
| Auch gegenüber den Museen in eigener Hand zeigt sich der Senat bislang | |
| wenig fordernd. Zwar heißt es, das Land Berlin bekenne sich zu den „ersten | |
| Eckpunkten zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ der | |
| Kultusministerkonferenz, die zu „proaktiver Provenienzforschung und ggf. zu | |
| Restitutionen“ verpflichtet. Der Bericht bestätigt auch, dass Landesmuseen | |
| wie das Museum für Naturkunde (MfN), das Botanische Museum, das | |
| Medizinhistorische sowie das Brücke-Museum über Sammlungsbestände aus | |
| ehemaligen Kolonien verfügen – das MfN sogar zu einem „erheblichen Anteil�… | |
| Dennoch scheint das Thema bei Letzterem keine Priorität zu haben. Laut | |
| Bericht untersucht das Naturkundemuseum zwar die Erwerbungsgeschichte von | |
| „prominenten Objekten“. Im Folgesatz ist jedoch nur von einem einzigen | |
| Objekt die Rede: „Bislang betrifft dies den Dinosaurierer Giraffatitan | |
| (Brachiosaurus) brancai“. | |
| Das angeblich weltgrößte rekonstruierte Dino-Skelett ist eine der | |
| Hauptattraktionen des Naturkundemuseums. Es wurde, wie viele andere | |
| Ausstellungstücke im Dinosaurier-Saal, bei einer großen Expedition | |
| 1909–1913 am Berg Tendaguru in der damaligen Kolonie „Deutsch-Südost“, d… | |
| heutigen Tansania, ausgegraben. Von dort gibt es inzwischen vermehrt | |
| Forderungen von WissenschaftlerInnen, Museumsleuten und PolitikerInnen nach | |
| einer Rückgabe der Knochen. | |
| ## Tansania angeblich kein Interesse an Restitution | |
| Im Senatsbericht heißt es dazu nur knapp, dass es bislang keine | |
| „offiziellen Restitutionsanfragen“ gebe. Auch Museumsdirektor Johannes | |
| Vogel betont dies auf taz-Nachfrage. Tansanias Außenminister habe im Mai | |
| 2018 anlässlich eines Besuchs des deutschen Außenministers sogar betont, | |
| „dass es kein Interesse an einer Rückforderung gibt“, sagt Vogel. | |
| Wesener gibt zu bedenken, dass Regierungen ehemaliger Kolonien womöglich | |
| wegen Abhängigkeit von Entwicklungshilfe oder anderen politischen Gründen | |
| „die Interessen der Nachkommen der ehemals Kolonisierten nur bedingt | |
| vertreten“. Mnyaka Sururu Mboro von Berlin Postkolonial argumentiert, es | |
| genüge nicht, auf offizielle Forderungen von Regierungen zu warten. Museen | |
| wie das MfN müssten von sich aus aktiv werden und den | |
| Herkunftsgesellschaften die Rückgabe von Objekten aus kolonialen Kontexten | |
| anbieten. | |
| „Denn Versöhnung kann nur dann gelingen, wenn eine Einsicht in Unrecht zu | |
| erkennen ist und der Wille, von sich aus Wiedergutmachung zu leisten“, sagt | |
| Mboro. „Es braucht Zeichen setzende Rückgabeangebote, wie zum Beispiel von | |
| Dinosaurier-Überresten aus Tansania.“ Wesener findet, das MfN solle „die | |
| koloniale Geschichte von Teilen seiner Sammlung von sich aus zum Thema | |
| machen, anstatt ständig abzuwiegeln“. | |
| Das geschehe doch längst, erwidert Museumsdirektor Vogel. Seit Jahren | |
| arbeite man mit Wissenschaftlern aus Tansania zusammen. Auch er verweist | |
| auf das im Senatsbericht erwähnte Forschungsprojekt zum Brachiosaurus, das | |
| 2018 mit der Buchveröffentlichung „Dinosaurierfragmente“ abgeschlossen | |
| wurde. „Wir haben die Beschriftungen im Sauriersaal entsprechend | |
| überarbeitet“, sagt er, schon heute können sich BesucherInnen dort über die | |
| Grabungsarbeiten ein Bild machen. | |
| ## „Dinosaurierjagd am Tendaguru“ | |
| Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Zwar gibt es im Sauriersaal seit | |
| 2007 einen Schaukasten über die Grabungsarbeiten. Das Diorama ist unter der | |
| Überschrift „Dinosauerierjagd am Tendaguru“ im Stil einer | |
| Abenteuergeschichte gehalten, Hinweise auf den kolonialen Kontext der | |
| Expedition sucht man vergebens. Gleiches gilt für die übrigen | |
| Beschriftungen, die auch zwei Jahre nach Veröffentlichung des | |
| Forschungsberichts unverändert sind. | |
| Andere Landesmuseen scheinen ambitionierter zu sein. Das Botanische Museum | |
| etwa plant, die kolonialen Bezüge seiner Sammlung in der neuen | |
| Dauerausstellung ab 2023 „zeitgemäß“ zu vermitteln. Auch das Technikmuseum | |
| „scheint sich glaubhaft und von sich aus auf den langen Weg der | |
| Dekolonisierung begeben zu haben“, loben Kopp und Mboro. | |
| Insgesamt sind die beiden Aktivisten mit dem Zwischenbericht des Senats | |
| recht zufrieden: Die Politik sei in puncto Aufarbeitung auf einem guten | |
| Weg. Zumindest wenn am Ende genügend Geld fließe, um all die aufgelisteten | |
| Projekte zu verwirklichen. Man habe auf jeden Fall den Eindruck, dass der | |
| Senat ernsthaft an dem Thema interessiert sei „und hier auch eine | |
| Vorreiterrolle in Deutschland und international einnehmen möchte“. | |
| 19 Aug 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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