| # taz.de -- Debatte um U-Bahnhof Mohrenstraße in Berlin: Nicht akzeptabel | |
| > Die Berliner U-Bahn-Haltestelle Mohrenstraße soll jetzt Glinkastraße | |
| > heißen. Dabei war der russische Komponist Glinka wohl ein Antisemit. | |
| Bild: Den Rassismus im Namen: Der U-Bahnhof Mohrenstraße in Mitte | |
| Berlin taz | Die überraschende Ankündigung der Berliner Verkehrsbetriebe | |
| (BVG), die U-Bahn-Haltestelle Mohrenstraße in Glinkastraße umzubenennen, | |
| stößt auf Kritik. Grüne und Linke fordern einen offenen Diskussionsprozess | |
| über einen möglichen Nachfolgenamen – und die Einbeziehung von Initiativen, | |
| die sich seit Jahren gegen die Mohrenstraße engagieren. | |
| [1][Antje Kapek, Fraktionsvorsitzende der Grünen] im Abgeordnetenhaus, | |
| sagte am Dienstag der taz, die Entscheidung der BVG „war längst überfällig, | |
| denn der alte Name war unerträglich und diskriminierend. Doch natürlich | |
| soll auch der neue Name niemanden herabwürdigen oder diskriminieren“. Anne | |
| Helm, Fraktionsvorsitzende der Linken, sagte zum Vorgehen der BVG: „Ich | |
| hätte es besser gefunden, wenn sie zunächst die Diskussion gesucht hätte – | |
| mit dem Bezirk und vor allem mit den Initiativen, die für eine Umbenennung | |
| der Straße kämpfen.“ | |
| Dies forderte auch Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne), die zugleich | |
| Aufsichtsratschefin der BVG ist, am Rande der Senatspressekonferenz am | |
| Dienstag: „Ich erwarte ein offenes Verfahren und nicht Schnellschüsse mit | |
| Vorschlägen, die sich dann festsetzen.“ Pop wollte sich auf Nachfrage aber | |
| nicht festlegen, dass die Station künftig in keinem Fall Glinkastraße | |
| heißen dürfe. | |
| Die [2][BVG hatte die Umbenennung] vergangenen Freitag mit dem „Verständnis | |
| und Respekt für die teils kontroverse Debatte um den Straßennamen“ | |
| begründet. Als „weltoffenes Unternehmen“ und einer der größten Berlins | |
| lehne man jegliche Form von Rassismus und Diskriminierung ab. | |
| Im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung hat die Diskussion um | |
| diskriminierende Relikte der Kolonialzeit etwa in Form von Straßennamen und | |
| Denkmälern neue Fahrt aufgenommen; das beweist auch die plötzliche | |
| Entscheidung der BVG. Um die Bezeichnung der Mohrenstraße und der | |
| dazugehörigen Haltestelle wird nämlich bereits seit Jahren heftig | |
| gestritten. | |
| ## Jüdisches Komplott gegen die Russen | |
| Doch nicht nur das einsame Vorgehen der BVG, auch der neue Name selbst | |
| wirft Fragen auf: Der Namensgeber Michail Iwanowitsch Glinka (1804–1857), | |
| ein russischer Komponist, soll Antisemit gewesen sein. Seine Oper „Fürst | |
| Cholmskij“ etwa spielt im 15. Jahrhundert und handelt von einem jüdischen | |
| Komplott, das zum Ziel hat, den russischen Streitkräften in ihrem Kampf | |
| gegen den deutschen Schwertbrüderorden Livlands entgegenzuwirken. Die | |
| Jüdische Allgemeine nannte die Entscheidung deshalb am Montag eine | |
| „schlechte Wahl“. | |
| Petra Nelken, Pressesprecherin der BVG, verteidigt gegenüber der taz die | |
| Namenswahl: „Die Umbenennung ist vielmehr eine Entscheidung gegen den | |
| bisherigen Namen als für den Namen Glinka.“ Wenn ein Name jemanden kränke, | |
| solle man ihn ändern. Die Wahl sei auf Glinkastraße gefallen, weil die | |
| Bezeichnung von Haltestellen eine Orientierungsfunktion habe und die | |
| Glinkastraße nun einmal in unmittelbarer Nähe liege. Eine andere | |
| Möglichkeit sei nur die nach dem „absolutistischen“ Kaiser Friedrich | |
| Wilhelm I. benannte Wilhelmstraße gewesen, aber auch dies sei ja keine | |
| „akzeptable Lösung“, findet Nelken. | |
| Also alles ausweglos? Nicht ganz. Eine Entscheidung im Sinne der | |
| Befürworter:innen einer Umbenennung wäre möglich gewesen, wenn man sich so | |
| lange geduldet hätte, bis auch die Mohrenstraße, nach welcher der Bahnhof | |
| benannt ist, endlich einen adäquaten Namen erhält. Dafür setzen sich | |
| Aktivist:innen seit vielen Jahren sein. | |
| Ein Hindernis war bislang allerdings die BVG selbst, die stets den | |
| angeblich großen Aufwand durch eine Umbenennung als Grund anführte. Dass | |
| ausgerechnet sie nun vorgeprescht ist, hat neben der öffentlichkeits- und | |
| pressewirksamen Begründung der Weltoffenheit und Toleranz daher auch ganz | |
| pragmatische Gründe, wie Nelken der taz sagte: Ab Dezember verbindet die | |
| neue U5 Alexanderplatz und Brandenburger Tor – das heißt, die Fahrpläne | |
| müssen ohnehin neu gedruckt, die technischen Systeme aktualisiert werden. | |
| Und die BVG macht dies nicht zum ersten Mal. Der Bahnhof erhält nun bald | |
| seinen fünften Namen: Bei seiner Eröffnung 1908 hieß er Kaiserhof, ab 1950 | |
| dann Thälmannplatz und von 1986 bis 1991 Otto-Grotewohl-Straße. Damals | |
| setzte sich ausgerechnet die SPD dafür ein, dass der frühere Sozialdemokrat | |
| Grotewohl keine Ehrung durch eine Straße mehr zuteil wurde. Seitdem heißt | |
| die Straße Mohrenstraße – ein gutes Beispiel für die Tatsache, dass | |
| Bezeichnungen von Straßen, Plätzen oder Bahnhöfen immer im Geiste der Zeit | |
| stehen und einladen, die eigene Vergangenheit kritisch zu reflektieren. | |
| Der Konflikt um das Wort „Mohr“ gründet in seiner kolonialrassistischen | |
| Bedeutung. Argumentieren Gegner der Umbenennung gern mit der Wortherkunft | |
| „Maure“ als vermeintlich historisch neutrale Bezeichnung für die Bewohner | |
| Nordafrikas, weisen Befürworter:innen auf die Umdeutung des Begriffs in der | |
| Kolonialzeit hin: Spätestens dann sei er als abwertende Bezeichnung für | |
| schwarze Menschen im Kontext weißer Herrschaftsverhältnisse geprägt worden | |
| und somit bis heute Ausdruck einer rassifizierten Ordnung. | |
| ## Der Gegenvorschlag: Anton Wilhelm Amo | |
| Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) setzt sich daher | |
| zusammen mit Berlin Postkolonial schon lange für die [3][Umbenennung der | |
| Mohrenstraße] ein, zusammen bilden sie das Bündnis Decolonize Berlin. Mit | |
| der Namensgebung Glinkastraße sind auch sie nicht zufrieden. Wenngleich | |
| Tahir Della, Sprecher der ISD, die Entscheidung der BVG grundsätzlich | |
| begrüßt, findet er es schade, dass der kolonialhistorische Bezug mit dem | |
| Namen Glinka verloren geht. Die Aktivisten haben vorgeschlagen, die Straße | |
| nach Anton Wilhelm Amo (geb. ca. 1703) zu benennen. Er gilt als erster | |
| Schwarzer Gelehrter und Philosoph Deutschlands. | |
| Der Name hätte den Vorteil, dass das Standardargument jeglicher Umbenennung | |
| – diese seien „Geschichtsklitterung“ – nicht greift, da der historische | |
| Bezug von Sklaverei und Kolonialismus mit einer Benennung nach Amo gar | |
| nicht verloren ginge: Er würde im Gedenken an den ersten Schwarzen | |
| Sklavereigegner Deutschlands vielleicht sogar noch mehr in den Fokus | |
| rücken. | |
| Auch Thilo Urchs, Fraktionsvorsitzender der Linken in der | |
| Bezirksverordnetenversammlung Mitte, befürwortet die Umbenennung der | |
| Mohrenstraße: „Wir haben uns schon vor etwa zehn Jahren für die Umbenennung | |
| eingesetzt, die anderen Fraktionen und die Presse haben damals allerdings | |
| Solidarität vermissen lassen.“ Auch an wenig kompromissbereite Berliner | |
| Verkehrsbetriebe will er sich erinnern. Umso mehr habe ihn deren | |
| Ankündigung am Freitag überrascht, sagte er. | |
| Als Grund für den schleppenden Fortschritt in der Politik nennt er die | |
| Schwierigkeit, alle Akteure an einen Tisch zu bringen, denn „die Straße | |
| soll ja nicht einfach umbenannt werden, sie soll auch zu einem Lern- und | |
| Erinnerungsort werden“. Es lägen zahlreiche Anträge vor, und auch | |
| Diskussionen würden geführt – doch eine Straßenumbenennung sei langwierig | |
| und kompliziert. | |
| Dem schließt sich auch Bezirksstadträtin Sabine Weißler (Grüne) an. „Die | |
| Hürden für eine Umbenennung nach dem Berliner Straßengesetz sind hoch. Da | |
| Klagen, die eine Umbenennung jahrelang verzögern können, zu erwarten sind, | |
| muss ein Beschluss für eine Umbenennung den gesetzlichen Anforderungen | |
| entsprechen.“ Ob sie den Alleingang der BVG nun begrüßt oder nicht und was | |
| sie von dem Namen Glinka hält, wird auf Nachfrage der taz nicht | |
| beantwortet. | |
| Im Kampf um die Mohrenstraße geht es also bisher vor allem um eines: Der | |
| wahre Beitrag zu einer rassismuskritischen und sensibilisierten | |
| Gesellschaft besteht nicht nur in der Umbenennung von Straßen, Bahnhöfen | |
| oder der Zerstörung kolonialistischer Denkmäler – auch wenn sie gewiss | |
| starke Symbolkraft bergen –, sondern um die Debatten, die mit ihnen | |
| verbunden sind. | |
| 8 Jul 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Kühne | |
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