# taz.de -- Kleinpartei „Die Urbane“ im Wahlkampf: HipHop goes Bundestag | |
> Die Kleinpartei „Die Urbane“ setzt sich für Antirassismus und | |
> Dekolonialisierung ein. Wer steht dahinter? Ein Treffen im Hamburger | |
> Schanzenviertel. | |
Bild: Zwei für „Die Urbane“: Nana Asantewaa Asafu-Adjei und Zandile Amy Ng… | |
HAMBURG taz | Ein überrraschend sonniger Septembertag in Hamburg. Cafés, | |
Bistros und Restaurants [1][im Schanzenviertel] sind zur Mittagszeit gut | |
besucht. Vor einem Café auf einer schwarzen Bierbank nahe dem besetzten | |
Kulturzentrum „Rote Flora“ sitzen Zandile Amy Ngono und Nana Asafu-Adjei. | |
Die beiden Frauen, die sich als People of Color identifizieren, sind | |
Aktivistinnen der Partei „Die Urbane“ (DU). Die 44-jährige Asafu-Adjei | |
arbeitet in der [2][Geflüchtetenhilfe]. Zandile Ngono, 27, studiert | |
Sozialökonomie, einen Studiengang, der für sie eine besondere Bedeutung | |
hat: „Mir gefällt das Fach, weil es auch Menschen studieren können, die | |
kein Abitur haben“, sagt Ngono. | |
Die beiden befinden sich mit ihrer Partei mitten im Wahlkampf, für die | |
Bundestagswahl. Keine einfache Aufgabe, denn Wahlplakate kamen mit | |
Verspätung und allgemein bleibt wenig Zeit, um neben den | |
Alltagsverpflichtungen die Partei bekannt zu machen und Wahlkampf zu | |
führen: „Wir sind keine Berufspolitiker:innen sondern in erster Linie | |
Aktivist:innen“, erklärt auch Paula Bianka Abramik. Die 25-jährige Mutter | |
studiert Politikwissenschaften in Kiel und ist Mitglied in der gleichen | |
Partei wie Asafu-Adjei und Ngono. | |
## Vergesellschaftung privater Konzerne | |
„Die Urbane“ nennt sich im Untertitel „eine HipHop Partei“. Verorten l�… | |
sie sich links vom politischen Mainstream. Beim Thema Wohnen fordert Die | |
Urbane etwa die Vergesellschaftung privater Immobilienkonzerne. Die Urbane | |
versteht sich als „radikal, dekolonial und machtkritisch“. Gegründet wurde | |
sie 2017 von einer Gruppe Aktivistinnen. Mit 339 Mitgliedern zählt DU zu | |
den Kleinparteien in Deutschland. Eine von vielen bei dieser | |
Bundestagswahl. | |
Laut Bundeswahlleiter sind es diesmal 47 kleine Parteien, die am Sonntag | |
auf den Wahllisten vertreten sind. Die Politikwissenschaftlerin Isabelle | |
Borucki sieht in der Vielzahl der neuen Gruppierungen zwei Trends: „Wir | |
erleben eine Spezialisierung und Differenzierung im Parteiensystem und eine | |
zunehmende Politisierung verschiedener Milieus. | |
Gleichzeitig können wir eine Abnahme dieser Politisierung in den großen | |
Parteien beobachten“, sagt sie der taz. Das liege auch daran, dass mit dem | |
Ausscheiden von CDU-Bundeskanzlerin Merkel viele Gruppen die Chance für | |
einen Wandel sehen und politische Machtverhältnisse sich neugestalten | |
lassen, erklärt Borucki. | |
## Für Volksparteien relevant | |
Für den Parteienforscher Ulrich von Alemann haben neue Parteien einen | |
Mehrwehrt: „Sie sind Frühwarnsystem für Themen, die später für große | |
Parteien relevant sein könnten.“ Zudem schätzt von Alemann an ihnen den | |
niedrigschwelligen Einstieg in die Politik, den sie gewähren: „Es sind auch | |
Spielwiesen der Demokratie und eine Kiesgrube für manche radikalen | |
Aktivisten, wo die etablierten Parteien froh sind, dass sie nicht offroad | |
die eigene Basis durcheinanderbringen.“ | |
Als radikal beschreibt sich Die Urbane auch selbst. So lautet eine ihrer | |
Forderungen die Abgabe von 50 Prozent aller individuellen, privaten oder | |
familiären Vermögen, die über 100 Millionen Euro liegen. Das geht weit über | |
das hinaus, was Die Linke oder die SPD in Bezug auf Vermögensteuern in | |
ihren Wahlprogrammen schreiben. | |
Dekolonialisierung ist ein weiteres Kernthema von DU, dabei geht es um | |
Aufarbeitung von Geschichte und Prävention: „Wenn wir von | |
Reparationszahlungen sprechen und die Aufarbeitung des kolonialen Erbes | |
verlangen, geht es nicht um Schuldzuweisungen“, sagt Ngono. Sie spricht von | |
Fehlerkultur: „Es ist okay, Fehler zu machen, aber wir müssen unsere | |
Fehlerkultur komplett ändern und uns nicht nur entschuldigen, sondern | |
verstehen, was falsch gemacht wurde und wie die Fehler in Zukunft vermieden | |
werden können.“ | |
## Aufarbeitung der Kolonialzeit | |
Um das Unrecht aus der [3][Kolonialzeit] umfassend aufzuarbeiten und solche | |
Vorkommnisse für alle Zukunft auszuschließen, setzt man neben Reparationen | |
bei der Urbanen vor allem auf Bildung. So möchte die Partei, dass die | |
Studiengänge „Black Studies“ und „Decolonial Studies“ eingeführt werd… | |
Ein Großteil der Vorstandsmitglieder der Urbanen hat beide oder einen | |
Elternteil aus Afrika. Zandile Ngonos Vater stammt aus Südafrika, die | |
Kielerin Paula Bianka Abramik ist ebenfalls Tochter eines Afrikaners, und | |
beide Eltern von Nana Asafu-Adjei kommen aus Ghana. | |
Alle drei geben an, aufgrund rassistischer Erfahrungen, die sie hierzulande | |
gemacht haben, politisch aktiv geworden zu sein. Dazu kommen individuelle | |
Beweggründe: „Die Familie meines Vaters hat im Südafrika der Apartheidszeit | |
aktiven Widerstand gegen das Regime geleistet, mir wurde Aktivismus in die | |
Wiege gelegt“, erläutert Ngono. | |
Abramik kandidiert in Schleswig-Holstein für ein Direktmandat. Sie hat eine | |
weite politische Reise zurückgelegt. In ihrer Jugend in Kiel war sie | |
Mitglied bei den Jungen Liberalen, der FDP-Jugendorganisation: „Das lag vor | |
allem daran, dass ich politisch noch nicht so gebildet war wie heute. Erst | |
später habe ich erkannt, was die Wurzel vieler Probleme ist“, sagt Abramik, | |
die inzwischen Neoliberalismus als Grundübel betrachtet. | |
## Antirassismus kein Thema im Wahlkampf? | |
Antirassismus, sagen die drei Parteimitglieder übereinstimmend, sei ein | |
wichtiges Thema. Nur: im aktuellen Wahlkampf komme es viel zu kurz, findet | |
Ngono: „Bei den TV-Triellen hat man gesehen, wie Antirassismus und | |
Migration von keiner der Kandidat:innen erwähnt wurden.“ Aber was genau | |
haben Antirassismus, Dekolonialisierung und Überwindung des Kapitalismus | |
mit HipHop zu tun? Einem Genre, dessen Stars hierzulande in jüngster Zeit | |
eher mit Markenfetischismus, frauenfeindlichen und antisemitischen Reimen | |
von sich reden gemacht haben. | |
Außer der Legalisierung von Graffiti kommt im Parteiprogramm der Urbanen | |
nichts vor, was sich direkt auf die Kulturform HipHop beziehen lässt. Es | |
geht der Partei in der Erinnerung an HipHop eher um die emanzipatorischen | |
Urwerte des Genres und nicht um die kommerzialisierte Form der Musik heute: | |
„Du kannst auch Helene Fischer hören und Mitglied bei uns werden, | |
Hauptsache, du lebst HipHop“, erläutert Abramik. Die besagte Emanzipation | |
findet im Zeitalter von „Ballin“, einer Zurschaustellung von extremem | |
Reichtum und Gebrotze, aber kaum mehr statt. | |
HipHop und Pop als Inszenierungselemente in der Politik kennzeichnen eine | |
lange Geschichte von Fehlschlägen, Missinterpretationen und frechen | |
Aneignungen. Man erinnere sich nur an die Amtszeit von Donald Trump, der | |
viele Kleinkriege und juristische Auseinandersetzungen mit den Stars der | |
Popwelt führte, weil er unerlaubt ihre Songs für Auftritte nutzte. Für die | |
Inaugurationszeremonie Anfang 2017 fanden sich kaum Bands, die bereit | |
waren, für ihn aufzutreten. | |
## Trumps Aneignungen | |
Während seiner Amtszeit als Präsident distanzierten sich wiederholt | |
Musiker:innen öffentlich von Trump, weil er deren Songs spielte. Zudem | |
unternahm Trump verzweifelte Versuche, sich unter jungen Wähler:innen | |
beliebt zu machen, indem er öffentlich die Nähe zum HipHop-Genre suchte. | |
[4][Superstar Kanye West] lud er gar ins Weiße Haus ein. Als eine seiner | |
letzten Amtshandlungen begnadigte Trump den Rapper Kodak Black, der wegen | |
Waffenvergehen inhaftiert war. Das tat der US-Präsident auf Bitten des | |
afroamerikanischen Rappers Lil Wayne. | |
Die Urbane möchte dagegen die positiven Aspekte von HipHop in die Politik | |
überführen und hat ambitionierte Ziele: „Wir möchten bei der Wahl am | |
Sonntag 0,5 Prozent der Stimmen erreichen, um in die Parteienfinanzierung | |
zu kommen, damit wir uns ganz auf Politik konzentrieren können und zur | |
nächsten Legislaturperiode im Bundestag sitzen“, erklärt Zandile Ngono. | |
Die Aktivistinnen der Kleinpartei bewegen sich derweil weiter durch das | |
Hamburger Schanzenviertel, vorbei an einem linken Buchladen, in dem Ngono | |
und Asafu-Adjei viel Zeit verbringen. Die beiden treffen zufällig eine | |
befreundete Aktivistin, die sich für Geflüchtete einsetzt. Der Smalltalk | |
entwickelt sich bald zu einer Debatte darüber, was in der Geflüchtetenhilfe | |
in der Hansestadt derzeit falsch läuft. | |
## Öffentliche Debatten | |
Debatten öffentlich zu führen ist ein weiteres Ziel der Partei: „Wir wollen | |
die Debatten aus den Hinterzimmern wieder auf die Straße holen“, zeigt sich | |
Ngono entschlossen und spielt dabei das Lied „Nachbarschaft“ des | |
[5][Hamburger Rappers Disarstar] auf ihrem Smartphone ab. Sein Song | |
beschreibe für sie sehr akkurat, dass viele Politiker:innen den Bezug | |
zu ihrer Wählerschaft verloren haben. | |
In einer Zeile des Songs heißt es: „Und die Bonzenpolitik scheißt auf uns / | |
Und Seehofer hab ich nie in mei’m Viertel gesehn“. Das klingt | |
machtkritischer und passt besser zu einer Partei, die mithilfe von HipHop | |
das System von unten umkrempeln möchte. | |
23 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Jugendliche-muessen-endlich-feiern-duerfen/!5776320 | |
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## AUTOREN | |
Victor Efevberha | |
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