| # taz.de -- Hamburger Rapper über St. Pauli und Marx: „Ich lebe permanent im… | |
| > Disarstar kam mit 15 Jahren in eine Notunterkunft, war drogenabhängig und | |
| > vorbestraft. Heute ist er als Musiker erfolgreich und studiert nebenbei. | |
| Bild: Glaubt nicht, dass er mit einer Goldenen Schallplatte glücklicher wird: … | |
| taz: Disarstar, sind Sie ein Gewinnertyp? | |
| Disarstar: Nein, jedem Erfolg geht eine lange Kausalkette im Leben voraus. | |
| Und in dieser Kette gibt es nur wenige Momente, auf die du aktiven Einfluss | |
| nehmen kannst. Das führt die neoliberale Erfolgsgeschichte von „Jeder ist | |
| seines Glückes Schmied“ ad absurdum – sie ist eine Lüge. | |
| Bei vielen deutschen Rappern klingt das anders. | |
| Viele von ihnen haben die Lüge internalisiert, weil sie bei ihnen | |
| funktioniert hat: Sie haben es aus der Scheiße nach oben geschafft. Aber | |
| wenn sie in ihren Songs sagen, dass du ein Gewinner sein musst, | |
| reproduzieren sie die Ideologie, die erst dafür gesorgt hat, dass sie in | |
| der Scheiße aufgewachsen sind. | |
| Ist Ihr Rap also der Richtige im Falschen? | |
| Der Kapitalismus nimmt meine Kritik an ihm auf und macht sie zu einer Ware. | |
| Das ist das Perverse an diesem System. Neulich stand ich in Gütersloh in | |
| dem Werk, in dem meine Fan-Box produziert wird. Plötzlich lief da meine | |
| Gesicht in Folie verpackt über das Fließband. | |
| Was war das für ein Moment? | |
| Ein krasser Widerspruch: Ich kritisiere den Kapitalismus und diese Kritik | |
| kannst du dir bei Amazon kaufen. Aber als Marxist lebe ich permanent in | |
| einem Widerspruch. Denn alles, was uns umgibt, ist schräg und unnatürlich. | |
| Deshalb ist der Zwang, an diesem gesellschaftlichen Spiel teilnehmen zu | |
| müssen, Teil meiner Kritik. | |
| Sie rappen nicht nur über Karl Marx, sondern auch über Georg Wilhelm | |
| Friedrich Hegel. Warum? | |
| Marx ist für mich die dialektische Weiterentwicklung von Hegel. Er hat | |
| selbst geschrieben, Hegel auf den Kopf gestellt zu haben. Du musst also | |
| Hegel lesen, um Marx verstehen zu können. Beide glaubten, dass | |
| gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte zu Fortschritt führen. Hegel | |
| hat das Dialektik genannt. Ich glaube, dass Dialektik der Motor der | |
| Weltgeschichte ist. | |
| Wie kommt es, dass Sie mit diesen Themen erfolgreich sind? | |
| Ich erzähle ja seit sieben Jahren die gleiche Geschichte. Mittlerweile | |
| kommt mir der dialektische Fortschritt zugute; unsere Gesellschaft | |
| verändert sich. Viele Themen nehmen unheimlich an Fahrt auf: Es wird etwa | |
| viel stärker über strukturellen Rassismus diskutiert als noch vor ein paar | |
| Jahren. | |
| Wie sähe Ihre ideale Gesellschaft aus? | |
| Es gibt ein Gedankenexperiment von dem Philosophen John Rawls: In einem | |
| fiktiven Naturzustand entscheiden alle Menschen über die Struktur einer | |
| gerechten Gesellschaft. Allerdings wissen sie nicht, in welcher Position | |
| sie geboren werden: Sind sie schwarz oder weiß? Mann oder Frau? Homo- oder | |
| heterosexuell? Haben sie eine Behinderung? Sie wissen es nicht. Deshalb | |
| versuchen sie, eine Gesellschaft zu erschaffen, in der jedes Los ein | |
| würdiges Leben ermöglicht. So wünsche ich es mir: Jeder Mensch sollte ein | |
| schönes Leben führen können. | |
| Wie ist das Leben auf St. Pauli? | |
| St. Pauli ist Kapitalismus in a nutshell. Du siehst polnische Arbeiter, | |
| die nach Deutschland gekommen sind, um sich mit harter Arbeit etwas | |
| aufzubauen. Jetzt sitzen sie vor Penny und ballern sich Wodka rein, während | |
| Fußballerfrauen im Range Rover an ihnen vorbeifahren. | |
| Was ist vom alten St. Pauli noch übrig? | |
| Nur Pseudo-Romantik. Das Viertel wird immer stärker gentrifiziert. Als bei | |
| den G-20-Demonstrationen ein blondes Mädel aus Winterhude mit teurer | |
| Fensterglasbrille da stand und schrie: „Die zerlegen hier unser Viertel!“, | |
| konnte ich nur lachen. Digga, das ist nicht dein Viertel. | |
| Was hält Sie im Stadtteil? | |
| Ehrlich gesagt, immer weniger. St. Pauli ist anstrengend, ermüdend und | |
| meiner Lebensqualität nicht immer zuträglich. Als sensibler Typ ist es | |
| schwer, sich das Ganze jeden Tag anschauen zu müssen. | |
| Wie sind Sie nach St. Pauli gekommen? | |
| Ich bin mit 15 Jahren von Zuhause ausgezogen. Ich habe erst in einer | |
| Jugendnotunterkunft gewohnt, bis ich in trägereigenen Wohnraum vom | |
| Jugendamt gezogen bin. Mit fast 18 Jahren habe ich einen | |
| Dringlichkeitsschein erhalten und mir wurde die Wohnung auf St. Pauli | |
| vorgeschlagen, in der ich heute noch wohne. | |
| Sie sind im beschaulichen Nordwesten von Hamburg aufgewachsen. War St. | |
| Pauli ein Schock für Sie? | |
| Ja, voll. Ich bin verloren gegangen und hatte die schlimmsten ein bis zwei | |
| Jahre meines Lebens. Ich habe damals angefangen zu reflektieren, was mir in | |
| meiner Jugend und Kindheit widerfahren ist. Und auch die Wege zu Drogen | |
| sind auf St. Pauli kurz, ich war total verballert in dieser Zeit. | |
| Weshalb sind Sie von Zuhause raus? | |
| Es sind Dinge passiert, über die ich nicht sprechen möchte. Zum damaligen | |
| Zeitpunkt gab es aber keine andere Option – das Jugendamt hat mich | |
| rausgeholt. | |
| Wie haben Sie sich da herausgezogen? | |
| Ich hatte den kompetentesten Sozialarbeiter, den man sich vorstellen kann. | |
| Der war Sozialarbeiter und systemischer Berater zugleich. Und auch die | |
| Musik hat mir sehr geholfen. Ich hatte immer ein schlechtes | |
| Selbstvertrauen, aber Musik brachte mir Erfolgserlebnisse. Dadurch habe ich | |
| mir immer mehr zugetraut. | |
| Begleiten Sie die Erfahrungen noch? | |
| Ja, zu 100 Prozent. Ich hatte immer gehofft, dass irgendwann alles vorbei | |
| ist und ich ein leichtfüßiger und ausgeglichener Typ werde, der durchs | |
| Leben tanzt. Jetzt, mit 27, weiß ich: Das wird nicht passieren. Meine | |
| Persönlichkeit wird sich nicht mehr verändern. Ich lerne aber immer besser, | |
| damit umzugehen, wie ich bin und was ich tun kann, wenn ich einen schweren | |
| Kopf habe. | |
| Was machen Sie in depressiven Phasen? | |
| Ich bin sehr gut darin, Hilfe einzufordern und Ressourcen zu aktivieren. | |
| Erwachsen zu sein bedeutet auch, sich um sich selbst zu kümmern: Sport und | |
| Musik sind Bewältigungsstrategien, die ich mir erschaffen habe. | |
| Waren es früher die Drogen? | |
| Ja. Ich habe diagnostiziertes ADHS. Obwohl ich denke, dass es eine Diagnose | |
| ist, damit Krankenkassen Rechnungen bezahlen. Ab der dritten Klasse habe | |
| ich Ritalin genommen und glaube, dass dies für mich der Einstieg in eine | |
| Drogenkarriere war. Wenn man früh Psychopharmaka bekommt, ist es schwer, | |
| später einen guten Umgang mit Substanzen zu finden. | |
| Sie wurden als Jugendlicher wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer | |
| Bewährungsstrafe verurteilt. Spielt Gewalt in Ihrem Leben noch eine Rolle? | |
| Nein, mir liegt nichts ferner, als irgendwem ins Gesicht zu schlagen. Ich | |
| weiß nur, dass ich es könnte. Denn wenn man einmal massiv Gewalt ausgeübt | |
| hat, geht eine Hemmschwelle verloren. Auch wenn das nach einem | |
| Kalenderspruch klingt: Ich bin die Summe meiner Erfahrungen. So etwas trägt | |
| man ein Leben lang mit sich. | |
| In einem Song sagen Sie, dass Sie fast jedes Ihrer Ziele erreicht, aber | |
| keinen Millimeter Frieden haben. | |
| Ich glaube, dass viele Künstler am Höhepunkt ihrer Karriere am | |
| depressivsten und kaputtesten sind. An diesem Höhepunkt bin ich zum Glück | |
| noch lange nicht. Aber so wie ich bin, kann ich nicht davon ausgehen, dass | |
| ich mit einer goldenen Schallplatte glücklich werde. Das Glück muss aus | |
| einem selbst herauskommen. | |
| Gibt Ihnen Ihre Position heute mehr Verantwortung? | |
| Ich freue mich eher über die Anerkennung, die ich immer mehr erhalte. In | |
| der deutschen Linken hat es Gewicht, was ich sage. Ich fühle mich langsam | |
| wie eine Gallionsfigur. Aber ich habe nie Pläne: Ich stand bislang nur am | |
| Bahnhof herum und war immer schlau genug, in den richtigen Zug | |
| einzusteigen, als er vorbeifuhr. | |
| Ist Ihr Studium ein solcher Zug? | |
| Ja, ich versuche damit, mein Glück zu provozieren. Wer weiß, wen du im | |
| Studium kennenlernst? Wer weiß, wo das hinführt? Ich muss in Bewegung | |
| bleiben und dürste nach Inspiration und neuen Perspektiven. Ich glaube, | |
| dass man depressiv wird, wenn man nichts hat, worauf man sich freuen kann. | |
| Vielleicht lerne ich im Studium ja einen Freund fürs Leben kennen oder ein | |
| Girl, mit dem ich drei heftige Jahre oder sogar ein ganzes Leben zusammen | |
| habe? | |
| 14 Mar 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Finn Starken | |
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