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# taz.de -- Die Linke im Bundestagswahlkampf: Vom Winde verweht
> Zwei Parteichefinnen in Weimar – kaum jemand interessiert’s. Eine
> Kritikerin in Schwerte – und der Platz ist voll. Die Linke hat so lange
> gestritten, dass sich Wähler abwenden.
Der Wahlkampfstand, den die Linke Ende August im Plattenbauviertel
Weimar-West aufgebaut hat, steht etwas ungünstig. Die Leute gehen zum
Einkaufen oder Geldabheben nicht am Stand der Partei vorbei. Und es zieht.
Der Wind reißt irgendwann die rote Folie ab, die den Tisch umschließt. Zwei
ältere Genossen bemühen sich, die Verkleidung wieder zu befestigen. Ihre
Pappschilder vor Brust und Rücken mit der Aufschrift „Sparkasse Weimar-West
muss bleiben“ behindern sie. Die Parteivorsitzende [1][Susanne
Hennig-Wellsow] hantiert mit Kabelbindern. Es ist ihr Wahlkreis, sie will
hier das Direktmandat holen. Zu Gast ist an diesem Tag auch ihre
Co-Vorsitzende [2][Janine Wissler]. Die versucht erst gar nicht, mit
handwerklichen Fähigkeiten zu glänzen.
Der Wind ist schließlich stärker. Die Genoss:innen geben auf. Rollen die
Folie zusammen und packen sie in den Bus. Nun steht der Tisch ziemlich
nackt da.
Irgendwie passt die Lage des Tischchens zur Situation der Linken. Die liegt
seit Wochen hinter allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien, mal
ein, mal zwei Punkte über der 5-Prozent-Hürde. Und sie steht obendrein
neuerdings im Sturm echter und gespielter Entrüstung. Mit ihrer
Entscheidung, sich bei der Abstimmung über die Evakuierung afghanischer
Ortskräfte zu enthalten, habe sich die Linke selbst ins Abseits geschossen,
so die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Dann ging SPD-Kandidat
Olaf Scholz auf noch mehr Distanz, verlangt ein Bekenntnis zur Nato. Und
die CDU/CSU schießt sich nun auf Rot-Grün-Rot ein und warnt aktuell vor
einem Linksrutsch.
## Fest betoniert bei sechs bis sieben Prozent
Das alles könnte der Linken gelegen kommen, immerhin nimmt sie mal wieder
jemand wahr. In der Bundestagsfraktion ist man schon fast so weit,
Präsentkörbe für die Union zu packen. Doch die Mehrheit der Wähler:innen
hat offenbar noch nichts davon mitbekommen, wie brandgefährlich die Linke
ist. Wie festbetoniert stagnieren die Linken in den Umfragen. Die
Spitzenkandidaten Janine Wissler und Fraktionschef [3][Dietmar Bartsch]
bemühen sich bislang vergeblich, einen Hauch von Aufbruch zu erzeugen. Dass
von Bartsch ausgegebene Ziel, zweistellig zu werden, ist derzeit so fern
wie der Mars.
Sogar der Worst Case scheint nicht gänzlich ausgeschlossen. Die Partei
könnte, wie schon 2002, wieder aus dem Bundestag geweht werden.
Bundesgeschäftsführer [4][Jörg Schindler] antwortet am Telefon schnell und
entschieden. Das glaube er gar nicht. Die Stammwählerschaft bleibe der
Linken treu. Was ihm eher Sorgen bereitet: „Wir schöpfen unser
Wähler:innenpotenzial bei Weitem nicht aus.“ Sechs Prozent seien
fest entschlossen, die Linke zu wählen, doch 14 Prozent haben angegeben,
sie könnten sich zwar vorstellen, die Linke zu wählen. Tun es aber nicht.
Ein wichtiger Grund heißt: [5][Sahra Wagenknecht]. Ein Gutteil der
potenziellen Wähler:innen sage nämlich, sie könnten die Linke nicht
wegen Sahra wählen. Und ein anderer Teil gebe an, die Linke nicht zu
wählen, weil die so schäbig mit Sahra umgehe. „In der Situation kannst du
es eigentlich niemandem recht machen, deshalb muss diese unproduktive
Polarisierung raus“, meint Schindler.
Sahra Wagenknecht ist prominent, eloquent und kann Populismus. Sie ist die
heimliche Spitzenkandidatin der Linken. Sie hat ein [6][Buch] geschrieben,
in dem sie die Lifestyle-Linken anprangert. Viele Genoss:innen lesen es
als Angriff auf Positionen der Partei. Aber sie zieht Leute, füllt Säle und
Plätze.
## Zu Wagenknecht strömen die Massen
Schwerte im Ruhrgebiet am vergangenen Donnerstag: Um 17 Uhr soll
Wagenknecht hier auftreten – und schon eine Stunde zuvor ist der Markt, auf
dem die Genoss:innen Bühne und Infostand aufgebaut haben, gut gefüllt.
Weil viele Menschen stehen müssen, tragen Helfer:innen Bierbänke heran.
Mag die einstige Fraktionschefin mit ihren Positionen zum Asylrecht, zur
Genderpolitik oder zum Klimaschutz auch polarisieren – auf die Straße
bringt sie ihre Anhänger:innen, aber auch Kritiker.innen noch immer.
„Aus Neugier“ sei sie hier, sagt Gabriele Schmidt. Die 64-Jährige ist
bekennende Unterstützerin der Linken, wählt die Partei wegen ihrer
Sozialpolitik. „49 Jahre habe ich gearbeitet“, erzählt die gelernte
Fleischfachverkäuferin. Zuletzt war Schmidt Hausmeisterin einer Schule.
Gerade Rentnerin geworden, muss sie jetzt mit 1.100 Euro im Monat
auskommen. „Für 49 Jahre harte körperliche Arbeit ist das ein Witz“, ärg…
sie sich. Wagenknecht sei ihr „sehr sympathisch“.
Für mehr Klimaschutz ist die Rentnerin auch, nur müsse der bezahlbar
bleiben, dürfe nicht überhastet eingeführt werden. Auf die Frage aber, ob
Deutschland ein sicherer Hafen für Schutzsuchende bleiben solle, reagiert
sie vorsichtig: „Das Thema Asyl ist sehr heikel“, sagt Schmidt.
Die Abiturientinnen Lea Gruner und Nele ter Jung hat dagegen die Skepsis
auf den Schwerter Marktplatz gebracht. „Eigentlich finde ich die Linke sehr
gut – aber von Wagenknecht bin ich nicht überzeugt“, sagt die 19 Jahre alte
ter Jung diplomatisch. Den Satz „Wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht
verwirkt“, mit dem die damalige Fraktionschefin 2016 die Angriffe der
Kölner Silvesternacht kommentierte, stößt die beiden Schülerinnen auch fünf
Jahre später noch ab. „Das Asylrecht zu einem ‚Gastrecht‘
abzuqualifizieren, geht gar nicht“, sagt die 17-jährige Lea Gruner.
Wagenknechts Ablehnung einer geschlechtergerechten Sprache ärgert beide.
Gegenderte Sprache sei ein Teil von Geschlechtergerechtigkeit – und
„Gerechtigkeit ist doch wohl Kern der Politik der Linken“, sagt ter Jung.
Für sie ist deshalb klar: „Wagenknecht repräsentiert die Linke nicht,
widerspricht dem Parteiprogramm.“ Ähnlich kritisch blickt auch Daniel
Kramer auf die NRW-Spitzenkandidatin der Partei: „Wagenknecht hat sich an
ein Milieu angebiedert, das ich verachte“, sagt der 41-jährige Lehrer.
Als Wagenknecht mit 25 Minuten Verspätung in einer schwarzen Audi-Limousine
vorfährt, wird trotzdem spürbar, für viele hier ist sie eine Ikone: Der
Applaus beginnt bereits, als die Bundestagsabgeordnete aussteigt. „Die
schönste Frau der Welt“, ruft eine Frauenstimme aus der Menge.
## „Politiker vom Hof jagen“
Auf der Bühne kommt Wagenknecht schnell zur Sache. Sie lobt das
kategorische Nein ihrer Partei zu Rüstungsexporten. Danach folgt die
soziale Frage in allen Facetten. Gerade die Christdemokraten hätten während
der Pandemie plötzlich von „Solidarität“ geredet – und dabei
Geringverdiener, auf Hartz IV Angewiesene, kleine Selbstständige vergessen.
Mit 700 Millionen Euro an Kurzarbeitergeld beglückt worden sei dagegen der
Daimler-Konzern. Und der habe die Millionen schnell wieder an seine
Aktionäre ausgeschüttet. „Politiker, die so etwas zulassen, die muss man
doch vom Acker jagen“, ruft Wagenknecht unter viel Beifall.
Weitere Klassiker der Linken folgen. Der Zwang, nach nur einem Jahr ohne
Job den Großteil der Rücklagen aufzubrauchen, um überhaupt Hartz IV zu
bekommen, sei „Enteignung“ – und nicht, wie von der Union behauptet, eine
Vermögenssteuer „für Multimillionäre und Milliardäre“, donnert die
NRW-Spitzenkandidatin. Auch für die Geringverdiener kämpfe die Linkspartei
– mit ihrer Forderung nach einem Mindestlohn von 13 Euro.
Denn der Niedriglohnsektor sei „nicht vom Himmel gefallen“ – jetzt geht es
gegen die Sozialdemokraten. Deren Kanzlerkandidat Olaf Scholz verspreche
„stabile Renten“, habe aber offenbar noch nicht mitbekommen, dass „viele
Menschen von ihrer Rente nicht leben können“.
Und die Grünen seien erst recht keine Alternative, donnert sie: „Grün ist
die Farbe der Verteuerung.“ Den „schicken Tesla, das Niedrigenergiehaus“
könnten sich viele schlicht nicht leisten.
Zum Thema Migration, zur gendergerechten Sprache, zum Schutz von
Minderheiten dagegen kein Wort.
## Schadet Wagenknecht? Oder hilft sie?
„Eine gute Rede – genau meine Themen“, sagt Rentnerin Gabriele Schmidt.
„Sahra Wagenknecht hat viele gute Sachen gesagt – aber viel Kontroverse
vermieden“, finden die Abiturientinnen Nele ter Jung und Lea Gruner.
Allerdings: „Populistisch“ seien die Klimaschutzpassagen gewesen –
natürlich müsse auch der individuelle Lifestyle verändert werden. Wohl auch
deshalb ist Lehrer Daniel Kramer nicht mehr zu sehen. Schon vor
Wagenknechts Rede hat er erklärt, er werde dieses Mal wohl die Grünen
wählen.
Es gibt Genoss:innen, die glauben, ohne Wagenknecht stünde die Linken
besser da. Sie sei die größte Hypothek für den Wahlkampf, meint ein
Mitglied des Parteivorstands. „Sahra hat uns eine Million Wählerstimmen
gekostet“, meint ein anderer Genosse aus der Fraktion. „Wir lagen 2017 in
allen Großstädten vor den Grünen. Bis Sahra eine Debatte über
Migrationspolitik vom Zaun gebrochen hat und Aufstehen gegründet hat.“ Die
Grünen hätten sich bedankt.
Die Sammlungsbewegung [7][Aufstehen], die Wagenknecht vor drei Jahren
gemeinsam mit Politiker:innen von SPD und Grünen aus der Taufe gehoben
hatte, ist inzwischen gescheitert. Dass eine Fraktionsvorsitzende eine
Bewegung gründet, die dem eigenen Laden den Kampf ansagt, kann man bei
vielen Linken bis heute nicht verwinden.
Doch Teile der Führung haben einfach so getan, als ob Wagenknecht und
Aufstehen eine gutgelaunte Rasselbande seien, die man eben ertragen müsse.
Bis Wagenknecht 2019 ausstieg. Kurz darauf trat sie auch als
Fraktionschefin zurück, nicht ohne darauf zu verweisen, wie sehr sie die
dauernden Angriffe auf ihre Person zermürbt hätten.
## Beim Streiten die Wähler aus dem Blick verloren
Doch es wäre zu einfach, die Probleme der Linken Sahra Wagenknecht in die
Schuhe zu schieben. Tatsächlich haben sich die debattierfreudigen
Genoss:innen in den letzten Jahren bevorzugt mit sich selbst beschäftigt
und in endlosen Diskussionen verloren. Muss es „offene Grenzen“ oder
„offene Grenzen für alle“ heißen? Gehören Klima, Gender, Antirassismus zu
den eigenen Brot-und-Butter-Themen oder sollte man sie den Grünen
überlassen? Will man grüner als die Grünen sein oder das Wort „grün“ li…
ganz aus dem Parteivokabular tilgen? Und – der alte Evergreen seit Gründung
– will man überhaupt regieren?
4,3 Millionen Menschen gaben der Linken bei der letzten Bundestagswahl 2017
ihre Stimme. Doch die Genoss:innen gebärdeten sich zeitweise wie
Gastgeber:innen einer Party, die sich nicht um die Gäste kümmern,
sondern stattdessen darum streiten, ob der Grill links oder rechts steht
und wer die Grillzange halten darf.
Diese Zerrissenheit führte dazu, dass die Linke in wichtigen Fragen
Kompromisse schloss, die vor allem dem internen Frieden dienten, aber kaum
vermittelbar waren. Jüngstes Beispiel: Die Linksfraktion enthielt sich im
Bundestag bei der Abstimmung über die Evakuierung von Ortskräften, obwohl
sie schon im Juni gefordert hatte, diese rasch auszufliegen. Ein Kompromiss
zwischen den Pragmatikern und den orthodoxen Linken, für die eine
Zustimmung zu Auslandseinsätzen ein Sakrileg ist.
Diese inhaltliche Unentschiedenheit spiegelt sich auch in den aktuellen
Wahlplakaten wieder. Diese changieren zwischen violett, rosa und
dunkelgrün, mal mit, mal ohne Personen, die eh kaum ein Mensch kennt. Ein
Ausdruck der neuen Diversität in der Partei, wie Bundesgeschäftsführer
Schindler sagt. Ja, es habe Genoss:innen gegeben, die wollten lieber die
alten Plakate zurück: Schwarze Großbuchstaben, weiß abgesetzt auf rotem
Untergrund, „Hartz IV muss weg“.
Allein, das Rot hat die SPD für sich gebunkert, ebenso die schwarz-weiße
Optik und die klaren Ansagen. Olaf Scholz hängt auch in Weimar an den
Laternenpfählen und verspricht „Kompetenz für Deutschland“. Selbst die
Parteivorsitzende der Linken, Hennig-Wellsow, muss zugeben, dass ihr die
SPD-Plakate zusagen. „Kompetenz für Deutschland, das hat was“, murmelt sie.
Zur Kampagne der eigenen Partei äußert sie sich lieber nicht.
## Das Sofortprogramm der Linken
Kompetenz für Deutschland, das würde Hennig-Wellsow, die sechs Jahre lang
die Linke als Regierungspartei in Thüringen vertrat, auch gern versprechen.
An diesem Montag wird sie zusammen mit Wissler und den
Fraktionsvorsitzenden ein Sofortprogramm präsentieren: Mindestlohn von 13
Euro, eine Kindergrundsicherung, eine Anhebung des Rentenniveaus und die
Kürzung der Rüstungsausgaben um 10 Milliarden Euro verlangt die Linke
darin. Von der Abschaffung der Nato ist nicht die Rede. Doch statt
Regierungswillen auszustrahlen, hat die Partei in den vergangenen Jahren
vor allem nach ihrer Funktion in der Gesellschaft gesucht.
Die PDS war die Partei, die den Osten im wiedervereinigten Deutschland
vertrat. Die mit der Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit zur
Linken vereinigte Partei bot der Agenda 2010 die Stirn. Doch die
Mitglieder, die die Partei durch die letzten 30 Jahre getragen haben,
sterben langsam aus.
60.000 Genoss:innen zählt die Partei, der Stand hat sich in den letzten
Jahren wenig verändert. Die Konstanz kaschiert, dass die Linke in dieser
Zeit ein Drittel ihrer Mitglieder verloren hat. Die Verluste wurden durch
neue Mitglieder ausgeglichen, zwei Drittel sind unter 35 Jahre. Viele sind
sozial engagiert, finden aber Themen wie Gender, Race und Klimawandel
mindestens genauso wichtig. Mit den heutigen Rentner:innen im Osten, die
im Kleingartenverein und in der Volkssolidarität waren und Arbeitslosen
beim Ausfüllen der Hartz-IV-Anträge halfen, haben sie wenig gemein.
„Die Linke muss den Schwenk von der Kümmererpartei zur Empowermentpartei
machen, es geht darum, Menschen zu organisieren und deren Stimmen zu
transportieren“, meint Tim Detzner. Der Stadtvorsitzende in Chemnitz
gehörte zur Hausbestzer:innenszene, er war in der Anti-Atomkraft-Bewegung
und bei Globalisierungskritiker:innen aktiv. Im Frühjahr, als die
Partei ihre Listen für die Bundestagswahl wählte, schlug er Landeschef
Stefan Hartmann beim Kampf um einen aussichtsreichen Listenplatz.
Das geschah mit Unterstützung einer ziemlich jungen, ziemlich kleinen und
dennoch recht einflussreichen Strömung in der Partei, die sich
„Bewegungslinke“ nennt. Die Gruppierung aus ehemaligen
Wagenknecht-Anhänger:innen, Altlinken und Neumitgliedern fand sich
ursprünglich aus Frust über die damalige Fraktionschefin zusammen.
Auch die Bewegungslinke will die Partei erneuern. Sie hat fast die Hälfte
der Sitze im Parteivorstand erobert. Ihre Frontfrau: Janine Wissler. Ihre
politische Vita ähnelt der von Detzner: Die 39-Jährige Hessin fuhr mit 14
zu ihrer ersten Demo. Sie war Sprecherin von Attac in Frankfurt am Main.
Obwohl Wissler seit 2008 im hessischen Landtag sitzt, bleibt sie den
außerparlamentarischen Bewegungen bis heute treu: Von Blockupy bis
Waldbesetzungen, von Black Lifes Matter bis Fridays for Future – keine Demo
ohne Wissler.
Das sind Anliegen, die Wagenknecht als Probleme von Lifestyle-Linken
bezeichnet, die anderen vorschreiben wolle, „wie sie zu leben, zu essen, zu
reden haben“. Glaubt man ihr, dann seien diese Leute für den Niedergang der
gesellschaftlichen Linken verantwortlich. Wissler widerspricht. „Ich glaube
nicht, dass es am Gendern liegt.“ Aber natürlich müsse man sich überlegen,
wie man die Menschen besser erreichen könne.
In einem Punkt hat Wagenknecht recht: Diejenigen, für die die Linkspartei
Politik machen möchte, die in prekären Jobs arbeiten, auf staatliche
Unterstützung angewiesen sind, abgehängt sind, die wählen die Partei kaum
noch. Viele wanderten zur AfD ab oder gehen gar nicht zur Wahl.
Im Plattenbaubezirk Weimar-West, dort wo die Linke ihren Stand aufgebaut
hat, wohnen viele Menschen, die arm sind. Man sieht es an den billigen
Klamotten, den klapprigen Kinderwagen, den fehlenden Zähnen. Da ist Rosi,
Rentnerin, die für 450 Euro in einer Schule Mittagessen ausgibt. „Wir
wurden bei den Coronamaßnahmen vergessen“, sagt sie. Ohne die Ersparnisse
ihrer Mutter käme sie nicht über die Runden. Rosi ist Genossin und nimmt
gleich noch eine Unterschriftenliste mit.
Wissler inspiziert die Flyer auf dem Wahlkampftisch. „Da liegen wir ja
einträchtig nebeneinander“, sagt sie zu Hennig-Wellsow. Die lacht: „Da
passt kein Blatt zwischen uns.“ Die Harmonie zwischen den beiden
Spitzenfrauen ist echt. Eigentlich sind sie grundverschieden, die
burschikose Thüringerin und die immer elegant gekleidete Hessin. Die eine
ist pragmatisch und regierungserfahren, die andere mischte bis vor Kurzem
beim trotzkistischen Zusammenschluss Marx 21 mit. Doch die prekäre Lage der
Partei und persönliche Erfahrungen haben die beiden in den letzten Monaten
zusammengeschweißt.
Als sie später am Abend mit 150 Mitgliedern in einer Videokonferenz sitzen,
teilen sie sich einen Bildschirm. Die Genoss:innen wollen wissen, wie
man denn mit den Konflikten in der Partei umgehen soll: „Ich sach mal, der
Ortsverband ist gespalten, die Hälfte hat gar keine Lust auf Wahlkampf.“
Wissler und Hennig-Wellsow schauen sich an. „Wir müssen jetzt unsere
Konflikte nach hinten stellen und die Inhalte nach vorn“, sagt Wissler und
ihre Stimme wird laut und klar. „Wir müssen deutlich machen: Es geht um
was.“
Die beiden Frauen vertrauen einander. Sie teilen sich die Aufgaben.
Wissler, die begabte Rednerin, bestreitet Talkshows, Hennig-Wellsow, die
Macherin, fährt ins Saarland und lotst Oskar Lafontaine und seine Frau
Sahra Wagenknecht nach Thüringen.
Ende August, eine Woche nach Wisslers Ausflug in Weimar, sprechen
Wagenknecht und Lafontaine gemeinsam mit Hennig-Wellsow in der Goethe-Stadt
vor 700 Menschen. Dass es erstmals seit Jahren wieder zu einem gemeinsamen
Wahlkampfauftritt einer Parteivorsitzenden mit Wagenknecht kommt, habe eine
extreme Wirkung in der Partei, sagt ein Spitzengenosse. Die Debatten hätten
sich entspannt.
Die Wege von Wissler und Wagenknecht, der offiziellen und der heimlichen
Spitzenkandidatin, werden sich im Wahlkampf nicht kreuzen, es gibt keine
gemeinsamen Auftritte. Doch dass Wagenknecht eher die kleinen Städte und
Wissler eher die Metropolen bespielt, das kann man auch als eine Art von
Aufgabenteilung betrachten. Wisslers Verhältnis zu Wagenknecht? Sie zuckt
die Schultern. „Freundlich, aber nicht eng.“
In Weimar klappen die Genoss:innen später am Tag den Tisch zusammen und
verabschieden die beiden Parteichefinnen. „Uns allen viel Erfolg“, ruft ein
Mann mit grauem Schnurrbart. „Wir lagen hier schließlich mal bei 43
Prozent, jetzt sind wir noch bei 25. Aber wir werden das schon noch
schaffen.“
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg – für die Linke und ihre
Führungsfrauen.
6 Sep 2021
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Anna Lehmann
Andreas Wyputta
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