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# taz.de -- Klimaneutralität und Kunst in Finnland: Alarm an Quay 6
> Finnland will 15 Jahre vor der EU klimaneutral werden. Auch die Kunst in
> Europas Norden achtet längst auf Nachhaltigkeit – und sieht gut aus.
Bild: „Quay 6“ von Jaako Niemelä. Das Dach markiert den Wasserstand, wenn …
Ein riesiges Gerüst aus Stahlrohren, gekrönt von einem roten Kassettendach.
Wer an der kleinen Insel Vallisaari an Land geht, 15 Minuten mit der Fähre
von Helsinki entfernt, hält den Aufbau für ein Baugerüst oder die Reste
einer Schiffswerft.
Doch „Quay 6“, die Installation des finnischen Künstlers Jaako Niemelä ist
das erste Werk, das Besucher:innen der neuen Helsinki-Biennale sehen,
die seit Juni auf dem verwilderten Eiland stattfindet, das Jahrhunderte als
militärisches Sperrgebiet diente. Niemeläs Arbeit ist klassische
„Umweltkunst“. Die silbern glänzende Konstruktion mit Alarmfarbe on top
soll warnen. Das rote Dach, sechs Meter über dem Boden, markiert den
Wasserstand, der erreicht wird, wenn die [1][Eisdecke Grönlands] weiter
schmilzt.
Die Warnung kommt keine Sekunde zu spät. Von der Öffentlichkeit kaum
bemerkt, hat es zum ersten Mal seit Beginn der Wetteraufzeichnungen am
höchsten Punkt des grönländischen Eisschildes geregnet. Dort fällt der
Niederschlag sonst als Schnee. Die Flut ist also nicht nur eine
[2][ästhetische Dystopie,] sie kommt tatsächlich.
Finnland scheint den Warnschuss gehört zu haben. Wer dieser Tage durch das
Land reist, das den Weltglücks-Index der Vereinten Nationen anführt, macht
an jeder Ecke den Willen zur Umkehr aus. „Take the change to a cleaner
world“ wirbt der staatliche Energiekonzern Fortum mit riesigen Plakaten
schon am Flughafen von Helsinki.
## Klimaneutrales Sinfonieorchester
Auch die Regierung hat die Zeichen der Zeit erkannt. „Agenda 2030“ nennt
sie ihre Kampagne, mit der sie Finnland schon 2035, 15 Jahre vor der
Europäischen Union, klimaneutral machen will. „85 Prozent unserer
Elektrizität ist bereits clean“, erklärt Krista Kristonen, die grüne
Umweltministerin, stolz ihrem Besucher im Ministerium in Helsinkis
Altstadt.
Der kleine Schönheitsfehler dieser Erfolgsrechnung: [3][Atomenergie gilt in
Finnland als „clean“]. Und für die (meist elektrisch betriebenen) 3,5
Millionen Saunen des Fünf-Millionen-Landes oder der immer noch erlaubten
Torfverbrennung muss sich Kristonen noch etwas einfallen lassen.
Weil sich die Stadt Lahti vorgenommen hat, das Klimaziel sogar fünf Jahre
früher als das ganze Land zu erreichen, ist die 120.000-Seelen-Gemeinde,
100 Kilometer nördlich von Helsinki, in diesem Jahr „Grüne Hauptstadt
Europas“.
Seit 1990 hat Lahti mit einem Bündel von Maßnahmen, von seiner
vorbildlichen Abfallwirtschaft bis zur eigenen Mobilitäts-App, seine
CO2-Emissionen um 70 Prozent reduziert. In dem früher übel verschmutzten
Vesijärvi-See können die Einwohner Lahtis wieder baden. Die Stadt hat sogar
das erste klimaneutrale Sinfonieorchester der Welt. In deren gläsernem Bau
direkt am Hafen wird gerade geprobt. „Wir sind eigentlich eine ganz normale
europäische Stadt“, sagt Bürgermeister Pekka Timonen beim Rundgang, „Wenn
wir es schaffen, schafft es jeder.“
## Das Leben der Pilze
Wie sehr auch den ganz normalen Finn:innen dämmert, wie notwendig ein
anderer Lebensstil ist, demonstriert Saimi Hoyer. Finnlands Ex-Topmodel hat
„die albernste Sache der Welt“ aufgegeben und führt jetzt ein kleines Hotel
in der Waldeinöde Punkaharju. Wer die charismatische Naturenthusiastin bei
ihren Inseltouren am Saima-See über das Leben der Pilze dozieren hört,
meint der intuitiven Version der Idee des Wahlrechts für Erdbeeren zu
lauschen, die documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev 2012 den Ruf der
Esoterikerin eintrug.
Die Wirtschaft hat natürlich längst umgedacht. „Schauen Sie mal“, sagt
Peter Vanacker. Der smarte Chef des Energiekonzerns Neste steht in dessen
Forschungszentrum in einer malerischen Seelandschaft am Finnischen
Meerbusen und hält ein Glas mit kristallklarer Flüssigkeit hoch. „Komplett
sauber. Kein Schwefel, keine Aromastoffe.“ Das Unternehmen ist führend bei
der Herstellung von Biokraftstoffen.
Nestes erneuerbaren Diesel sehen Umweltschützer zwar kritisch, weil er
Palmöl enthält. Doch zu 80 Prozent produziert das Unternehmen seine
Treibstoffe aus Speiseöl-Abfällen und recyceltem Kunststoff. Neste
unterhält ein Netz von 140 Tankstellen. Die Flughäfen Hamburg und Stuttgart
betanken ihre Flieger mit dem emissionsarmen Neste-Treibstoff SAF.
## Kein moralischer Zeigefinger
Wie das Pendant zu dieser neuen Konversionswirtschaft wirkt die Arbeit
„Satellite Reef“ von Margaret und Christine Wertheim auf der
Helsinki-Biennale. Das in tausend Farben leuchtende Korallenriff in einem
der alten Militärbunker auf Vallisaari ist auch aus Plastikabfällen
geknüpft. Wie ein kostbares Geschmeide erinnert es an das bedrohte
Unterwasser-Diadem der Meere in Australien. „Umweltkunst“ muss nicht immer
den moralischen Zeigefinger erheben, sie kann einfach schön sein.
Die Biennale selbst folgt dem Nachhaltigkeitsziel. Als erste ihrer Art hat
die Schau einen Umweltkoordinator im Leitungsteam, arbeitete mit dem
EcoCompass der Agentur für das Nationale Kulturerbe und unter strenger
Aufsicht der Forstverwaltung. Bestimmte Areale der Insel durften nicht
bespielt werden, um die sieben dort hausenden Fledermaus-Arten zu schützen.
Glaubt man Sofi Oksanen, beschäftigt sich die Kunst in Finnland eigentlich
nicht übermäßig mit Natur. „Wir haben so viele Wälder“, rechnet die 1977
geborene Bestsellerautorin, die mit Romanen wie „Stalins Kühe“ (2003)
bekannt wurde, ihrem Besucher beim Abendessen in einem winzigen
Slow-Food-Restaurant in Helsinki vor.
## Sound des Verrottens
Die feministische Ikone mit dem markanten bunten Dreadlock-Haarschopf
schwärmt für finnischen Wodka wegen der Qualität des heimischen Wassers.
Auf die Frage, ob der Klimawandel für die Künstler:innen des Landes ein
Thema ist, zuckt sie mit den Schultern. „Niemand würde noch mehr Natur in
der Kunst erwarten.“
Die 41 Arbeiten der von Pirkko Siitari und Taru Tappula hervorragend
kuratierten Helsinki-Biennale straft Oksanens Aussage freilich Lügen. Ob es
Teemu Lehmuruusus „House of Polyphores“ ist, die den Prozess eines
verrottenden Baumes in eine Soundinstallation überführt. Oder ob es IC-98’s
„Abendland“ ist.
In der Videoinstallation des Künstlerduos Visa Suonpää and Patrik Söderlund
sieht man einen entlaubten Inselbaum sich sanft im Winde wiegen. Dessen
Blätter haben die Künstler:innen in einem Gelass der nach dem russischen
Zaren benannten Kaserne „Alexander Battery“ auf Vallisari als Symbol des
Kreislaufs zwischen Leben und Tod gelegt.
## Soziale Nachhaltigkeit
Ökologische Nachhaltigkeit ist die eine, soziale Nachhaltigkeit die andere.
Das brennt Maija Mustonen und Anna Maria Häkkinnens Performance
„Treat-Behandlung“ magisch ins Bewusstsein. „coming to our senses“ hei�…
die Ausstellung in der 1928 gegründeten Kunsthalle von Helsinki, für die
sie eine Rauminstallation in Form eines großen Bettes kreiert haben. Zwei
Stunden lang an acht Tagen pflegen sich die beiden Künstlerinnen in ihrer
„Care“-Lounge in Zeitlupe symbolisch.
Für das Sozial- wie das Ökosystem gilt dieselbe wechselseitige Abhängigkeit
und Fürsorge, die „The Same Sea“, der Titel der beeindruckenden Biennale,
aufruft. Aus diesem symbolischen Grund hat Jaako Niemelä auch seine
Installation am Ufer von Vallisaari so konstruiert, dass, wenn man nur
eines der Stahlteile herauslöst, das ganze Gerüst kollabiert.
1 Sep 2021
## LINKS
[1] /Neues-von-der-Klimakatastrophe/!5746418
[2] /Diskussionsreihe-zum-Untergang/!5794418
[3] /AKWs-vom-Fliessband/!5720692
## AUTOREN
Ingo Arend
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