| # taz.de -- Essen wie am Filmset: Zu Tisch bei Aki Kaurismäki | |
| > Helsinkis Restaurants sind eine einzige Filmkulisse. Mit | |
| > Midcentury-Charme, avantgardistischen Lampen und Heringsgerichten. | |
| Bild: Filmsszene aus „Wolken ziehen vorüber“ von Aki Kaurismäki | |
| Helsinki taz | Zahlreiche Orte dieser Stadt sind schon auf der Leinwand | |
| erschienen. [1][Aki Kaurismäki], der wohl finnischste aller finnischen | |
| Regisseure, hat Helsinkis Häuser, Kneipen und Tavernen gern als Set für | |
| seine Filme genutzt. In seiner Tragikomödie „Wolken ziehen vorüber“ lässt | |
| er den Protagonisten Lauri seiner Ehefrau beichten, gerade gefeuert worden | |
| zu sein. Dabei sitzt das Paar in einem Restaurant, das ausschaut, als habe | |
| es sich der Filmemacher extra für diesen Anlass ausgedacht. | |
| Doch das „Kolme Kruunua“, einer dieser unwirklich-wirklichen Orte in | |
| Helsinki, existiert wirklich: Mit seinen Holzverkleidungen, den | |
| avantgardistischen Lampen aus den 1930er Jahren, den bunten Glaspanoramen | |
| und dem Originalmobiliar wirkt das 1952 zur Olympiade in Helsinki eröffnete | |
| Restaurant der Zeit entrückt. | |
| Heute kann man immer noch hier sitzen und den Zukunftsoptimismus | |
| vergangener Dekaden atmen. Aber auch die Küche des Hauses ist ein guter | |
| Grund für die Einkehr: Sensationell schon die kleine Vorspeise, süß-sauer | |
| gebeizter, butterzarter [2][Hering] auf Roggenbrot mit Streifen von roter | |
| Bete und Büscheln an Dill. Der schmeckt weniger vulgär als zu Hause, leicht | |
| und krautig. | |
| Als Hauptgericht empfiehlt das Haus die nach eigener Aussage besten | |
| Fleischbällchen Finnlands, serviert in einer klassischen Bratensauce, aus | |
| der man Spuren von Zimt und ähnlich weihnachtlichen Gewürzen | |
| herauszuschmecken meint. Anderswo inzwischen eine Rarität, steht hier | |
| außerdem noch das traditionelle finnische Lieblingsessen Läskisoosi auf der | |
| Karte, für das Schweinebauch im eigenen Fett angebraten, mit Zwiebeln und | |
| Mehl geschmort und schließlich in einem Ring aus Kartoffelbrei serviert | |
| wird. | |
| Die finnische Küche ist fleisch- oder fischlastig und, wie viele | |
| Nationalküchen dieser Welt, ein Hybrid aus anderen. So gibt es | |
| Schnittmengen mit der schwedischen und der russischen beziehungsweise der | |
| karelischen Küche. Auch Wiener Schnitzel findet sich standardmäßig auf | |
| erstaunlich vielen Speisekarten, neben Rentiersteak oder Lachssuppe und | |
| einem ursprünglich jüdisch-osteuropäischen Gericht namens Vorschmack: ein | |
| Aufstrich aus Hering und gedünsteten Zwiebeln, der mit Roggenbrot nebst | |
| saurer Sahne, Pellkartoffeln und roter Bete angerichtet wird. Vegetarier | |
| haben es schwerer, aber immerhin, auch Kartoffeln und Gemüse werden deftig | |
| und aromatisch zubereitet. | |
| ## Man begegnet der Vergangenheit selbstverständlich | |
| Wie überschätzt der Beilagensalat ist, weiß man jedenfalls in Finnland. | |
| Statt grüner Blätter gibt es traditionell Eingelegtes oder Fermentiertes. | |
| Eine obligatorische saure Gurke, die hier süßlich schmeckt wie die | |
| Sandwich-Pickles im Diner in New York, und Rote Bete begleiten das Essen in | |
| der/die/das (im Finnischen gibt es kein grammatikalisches Geschlecht oder | |
| Pronomen) Ravintola Kolme Kruunua, das durch drei strahlende Kronen von | |
| außen gut sichtbar ist. | |
| In Restaurants wie dieses zieht es einen besonders im finnischen Winter, | |
| wenn Attraktionen geschlossen und auch die Schäreninseln vor der Stadt nur | |
| noch wenig einladend sind (es sei denn für einen Besuch in den dortigen | |
| Saunen). Generell rückt in dieser Zeit, wenn der Tag nur wenige Stunden | |
| Licht kennt, die gebaute Umgebung mit ihren Besonderheiten und insbesondere | |
| ihren Innenräumen in den Fokus. Zum Beispiel der wohl gemütlichste | |
| futuristische Sakralbau der Welt: die Temppeliaukio-Kirche, 1969 erbaut – | |
| oder vielmehr hineingeschlagen – in einen der mächtigen Granitfelsen, auf | |
| denen die finnische Hauptstadt steht. | |
| Überhaupt sind viele frühere Zeugnisse der architektonischen Moderne in | |
| Helsinki zu Hause, Bauten der 1930er, -40er, -50er Jahre, die man | |
| vielerorts längst wieder demoliert und mit einer verklärten Vergangenheit | |
| ersetzt hat. Alte Kinos (zum Beispiel das Orion), Kneipen und Esslokale, in | |
| denen man der Vergangenheit überhaupt nicht nostalgisch begegnet, sondern | |
| mit schöner Selbstverständlichkeit. Sie erscheinen an diesem Ort eingedenk | |
| seiner geografischen Lage wie eine versöhnende Melange aus Ost und West, | |
| Fantasie und Funktion. | |
| Ein bisschen gediegener als im Kolme Kruunua, aber kaum weniger charmant | |
| geht es im Sea Horse zu. Außen leuchtet grünes Neon auf Helsinki-typisch | |
| grauem Putz den Weg, innen befindet sich das behutsam renovierte Lokal noch | |
| heute nahezu in seinem Originalzustand von 1934, mit Seepferdchen-Dekor an | |
| der Wand und schlichtem, klassisch modernem Holzmobiliar. Hier isst man zum | |
| Beispiel das legendäre Zwiebelsteak des Hauses oder gegrillten Zander à la | |
| Mannerheimer, benannt nach dem finnlandschwedischen Offizier und | |
| Präsidenten, der bis heute wie ein Nationalheiliger verehrt wird. | |
| Fernab von jeglichem Hype findet man außerdem die Ravintola Meiccu. Wer | |
| diesen [3][Midcentury]-Traum aus holzvertäfelten Wänden, knallroten Sitzen | |
| und türkisfarbenen Säulen besuchen möchte, muss ein paar Kilometer mit der | |
| Tram in Richtung Meilahti fahren. Zu essen gibt es Klassiker der finnischen | |
| Küche, aber auch Risotto und wechselnde Tagesgerichte. Von hier aus kann | |
| man gleich noch wenige Stationen weiterziehen zum ehemaligen Wohnhaus des | |
| finnischen ArchitektInnen-Paares schlechthin, Alvar und Aino Aalto, die | |
| hier auf eher kleinem Grundriss hervorragend wie behaglich gewohnt haben. | |
| Für 30 Euro pro Person ist der Rundgang nicht billig, aber gerade bei | |
| kühlem Wetter und langer Dunkelheit lohnenswert (eine Anmeldung vorab über | |
| die Webseite wird empfohlen). | |
| Und mitten in der Innenstadt liegt dann noch eine weitere kulinarische | |
| Koryphäe. Das Essen tadellos, die Patina großartig – trotzdem fühlt sich | |
| das Kosmos mit seinen Horden an Businessgästen, den meterhohen Räumen und | |
| dem Service im Akkord an diesem Abend ärger nach Kulisse an als die anderen | |
| Klassiker der finnischen Hauptstadt. Charmant allerdings der rot getünchte, | |
| David Lynch zu Ehren gereichende Vorraum plus Garderobier (stilechte 3,50 | |
| Euro pro Kleidungsstück). Zu essen gibt es frittierte Heringe zum | |
| Kartoffelbrei und natürlich Rote Bete, aber auch angemachtes Tatar mit | |
| rohem Ei und saurer Sahne oder eben das Wiener Schnitzel; ein Mix aus | |
| Landesküche, französischen, russischen und österreichischen Klassikern, | |
| Reminiszenz an eine historische Vorstellung von Internationalität. | |
| Leider verpasst haben wir das hauseigene Roggenbrot: Dessen Sauerteig geht, | |
| so wird es stolz auf der Karte erklärt, auf einen seit über einem | |
| Dreivierteljahrhundert dauerhaft aktiven Teigansatz zurück. Die schöne | |
| Kontinuität der Moderne – wie gesagt, man findet sie in Helsinki. | |
| 5 Feb 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina J. Cichosch | |
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