| # taz.de -- Essensgewohnheiten in Finnland: Das Erbsige muss erhalten bleiben | |
| > In Finnland trifft man sich zum Mittagessen um Punkt 11 Uhr am Buffet. | |
| > Eine ganz spezielle Kombination gibt’s donnerstags. Hyvää ruokahalua! | |
| Bild: Ein Käffchen in Finnland | |
| Jeder kennt diesen Kollegen, der sich mit der Verlässlichkeit einer Atomuhr | |
| um Punkt 12 vom Schreibtisch erhebt, um Mittag zu machen. Heimlich | |
| belächelt man ihn, weil er so gut auf das betriebsnudelige Klischee des | |
| überpünktlichen Kantinendeutschen einzahlt, und bewundert ihn zugleich, | |
| weil man weiß: Hier hat jemand sein Leben im Griff. Hier herrscht | |
| beruhigende Struktur, jedenfalls zur Tagesmitte. | |
| Nun, und dann fahren Sie mal nach Finnland. | |
| Hier wäre besagter Kollege ein Tagträumer und Spätesser. Die lounasaika, | |
| die Lunchtime also, beginnt in Finnland um 11 Uhr – und das ist keine | |
| Übung! Jüngst [1][hospitierte ich bei der Tageszeitung Helsingin Sanomat], | |
| in deren gläsernem Hauptquartier die Kantine im Kellergeschoss von oben gut | |
| einsehbar ist, und verlässlich wenige Minuten nach 11 war der Laden | |
| bumsvoll. | |
| Und so läuft das in ganz Helsinki, vor fast allen Restaurants werben | |
| Schilder für das Lounas-Angebot ab 11 Uhr, manchmal schon ab 10.30 Uhr. Es | |
| gibt sogar Webseiten [2][wie www.lounasmenu.fi], die einen Überblick über | |
| die Mittagskarten von über hundert finnischen Orten bietet. Doch wo in | |
| Deutschland der Mittagstisch aus Tellergerichten besteht, ist die | |
| Standardlösung in Finnland: das Buffet. Man nimmt sich ein Glas | |
| Leitungswasser (das in Finnland ohnehin überall kostenlos bereitsteht) oder | |
| auch – ja, warum denn nicht? – Milch. Es gibt Brot, eine Tagessuppe, eine | |
| stets reich bestückte Salatbar, dann mehrere Hauptgerichte und | |
| Stärkebeilagen. Und zum Schluss natürlich Filterkaffee, das heilige Getränk | |
| der Finnen, all inclusive, auch zum Mitnehmen. | |
| Wie bei uns liegt der Preis des Mittagsangebots deutlich unter dem für ein | |
| Abendessen am gleichen Ort. Das bedeutet in Helsinki: zwischen 12 und 14 | |
| Euro, auffällig oft genau 12,70 Euro. Für Sparfüchse ist das eine gute | |
| Chance, einige tolle Lokalitäten zu erkunden. Denn wie vor einigen Monaten | |
| auf diesen Seiten [3][bereits treffend festgestellt wurde], „sind viele | |
| frühere Zeugnisse der architektonischen Moderne in Helsinki zu Hause, | |
| Bauten der 1930er, -40er, -50er Jahre, die man vielerorts längst wieder | |
| demoliert und mit einer verklärten Vergangenheit ersetzt hat“. | |
| ## Lang, flach und weiß, der Lasipalatsi | |
| Da ist zum Beispiel [4][der Lasipalatsi]. Lang, flach und weiß liegt er wie | |
| ein elegantes Möbelstück in Helsinkis Zentrum und bildet einen deutlichen | |
| Kontrast zur wuchtigen, oft klinkerdunklen Blockbebauung der Stadt. Er ist | |
| ein Kind des Funktionalismus, 1936 eröffnet; heute verstrahlt das perfekt | |
| sanierte Gebäude auch dank der Neonbeleuchtung Retrocharme. Der setzt sich | |
| im Inneren fort, etwa im „Café Lasipalatsi“ mit seinen Freischwingerstühl… | |
| und den Messing-Garderobenständern. Das Essen hier ist grundsolide | |
| internationale Küche, ein Auszug aus der aktuellen Woche: | |
| Cashew-Blumenkohl-Suppe, Chorizobällchen in Arabiatta-Sauce, | |
| Rosmarin-Wurzelgemüse. Durch die großen Fenster lässt sich beim Verzehr das | |
| geschäftige Treiben auf dem Prachtboulevard Mannerheimentie verfolgen. | |
| Gleich über diese Straße, hinein ins 1947 eröffnete Sokos-Hotel, durch die | |
| atemberaubenden Lobby und hoch ins zehnte Stockwerk, schon steht man im | |
| Restaurant „10. Kerros“. Auf der einen Seite des Raumes bietet das | |
| klassische Interieur intime Clubhausatmosphäre, auf der anderen Seite eine | |
| langgestreckte Fensterfront mit tollem Ausblick. Der 13-Euro-Deal gilt hier | |
| nur für Suppe und Salatbuffet, was zum Sattwerden reicht. Wer aber nur ein | |
| paar Euro mehr investiert, bekommt ein Tellergericht dazu; in meinem Fall | |
| war das ein hervorragendes Stück Lachs. | |
| Weiter geht’s ins Bistro des für die Spiele von 1952 erbauten | |
| Olympiastadions. Kugellampen aus gelb getöntem Glas setzen Akzente im sonst | |
| schmucklosen Raum, dessen Schräge an eine Dachgeschosswohnung erinnert – | |
| gegessen wird unter der Zuschauertribüne. Fenster öffnen den Blick ins | |
| Stadioninnere, man sitzt direkt neben der Tartanbahn und kann sich | |
| vorstellen, wie [5][gleich Emil Zapotek vorbeitrabt]. | |
| Und dann ist da noch der Donnerstag. An dem gibt es in Finnland eine | |
| kulinarische Doppeltradition: Erbsensuppe und Pfannkuchen, keine Sorge – | |
| hintereinander. Als möglicher Ursprung gilt, dass vorm (Fasten-)Freitag | |
| noch mal Kalorien getankt werden sollten. Das Ergebnis kann man auch im | |
| säkularisierten Jetzt noch genießen, und das sehr gut im „Pompier“ in der | |
| Albertinkatu. | |
| Hier geht es in einen Hinterhof und dort in einen fensterlosen Flachbau. | |
| Drinnen wartet herzliches Personal an der Kasse, wer mag, bestellt sich | |
| auch einen Lounasviini, Wein, 4 Euro für 12 cl – sonst bekommt man diese | |
| Menge in Helsinki selten unter 10 Euro. Die Stühle im Gastraum sind | |
| petrolfarben bezogen, die Wände mit hellem Holz vertäfelt, an ihnen hängen | |
| Vitrinen voller Pokale und Trinkhörner, historische Fotografien und | |
| Männergemälde, und schließlich steht noch eine große Metallglocke herum: Es | |
| sind Räumlichkeiten der Freiwilligen Feuerwehr Helsinkis, daher auch der | |
| Name Pompier. Dezent ertönen finnische Schlager, die interessanterweise | |
| entweder wie russische oder wie japanische Popsongs klingen. So urig das | |
| Ambiente, so gemischt ist auch das Publikum. Es ist auch ein wenig so | |
| [6][ein Aki-Kaurismäki-Ort]. | |
| Neben dem Salatbuffet steht das Wesentliche, ein großer Topf, reichlich mit | |
| Suppe gefüllt. Die ist hellgrün und mild, die einzelnen Erbsen deutlich | |
| sicht- und spürbar. Dazu als Toppings kleingeschnittene Zwiebeln, | |
| Speckwürfel und dunkelgelber Senf. Sie alle machen die Suppe noch besser, | |
| vor allem der Crunch des Specks, und die wahre Kunst besteht nun darin, von | |
| allem viel, aber nicht zu viel zu nehmen, damit man sich das Erbsige | |
| erhält. | |
| Außerdem braucht man ja noch Platz für die Pfannkuchen! Die werden hier im | |
| Ofen in einer flachen Form gebacken, dann in handliche, daumendicke Stücke | |
| geschnitten und kalt serviert. Mit Himbeermarmelade sowie einer | |
| Schlagsahne, die so dicht und süß ist, dass man sie für Baisermasse halten | |
| könnte. | |
| Anschließend weiß man, warum das Mittagessen schon um 11 Uhr beginnt. Denn | |
| man ist satt bis zum Abend und noch lange darüber hinaus. | |
| 23 Jul 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.hs.fi/mielipide/art-2000009531794.html | |
| [2] https://www.lounasmenu.fi/ | |
| [3] /Essen-wie-am-Filmset/!5910489 | |
| [4] https://www.myhelsinki.fi/de/sehen-und-erleben/sehensw%C3%BCrdigkeiten/lasi… | |
| [5] /Leichtathletik-Legenden/!5879431 | |
| [6] /Bremer-Filmpreis-fuer-Aki-Kaurismaeki/!5846349 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Brake | |
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