# taz.de -- Nordische Filmtage Lübeck: Im deutschen Skandinavien | |
> Groteske und Geradlinigkeit: Die nordischen Filmtage Lübeck finden ab dem | |
> 30. Oktober zum 60. Mal statt. Eine – durchaus persönliche – Annäherung. | |
Bild: Szene aus dem Film „Astrid“, der aus dem Leben von Astrid Lindgren er… | |
LÜBECK taz | Hanseatische Geradlinigkeit, Backsteingotik und im Winter ist | |
es eine Stunde früher dunkel als in Bayern: ganz klar, Lübeck gehört zu | |
Skandinavien. Das gilt besonders Anfang November. Dann sind die | |
Fußgängerwege der historischen Altstadt bevölkert von Frauen mit randloser | |
Brille und dunklem Wollponcho, die sich auf Norwegisch über Hummerfischerei | |
in Schweden unterhalten. Zwei von 33.000 Besuchern der Nordischen Filmtage | |
Lübeck, des europaweit einzigen Festivals für Filme aus dem Norden und | |
Nordosten des Kontinents. | |
Bevor ich die Nordischen Filmtage zum ersten Mal besuchte, war | |
skandinavisches Kino für mich vor allem der schräge, trockene Humor Aki | |
Kaurismäkis. Die Filmtage-Organisatoren rühmen sich, den wortkargen Finnen | |
mitentdeckt zu haben – so wie die Star-Regisseure Lasse Halmström, Fridrik | |
Thór Fridriksson und Bille August. Filme, die zum lakonischen Stereotyp | |
passen, gibt es hier regelmäßig im Programm, beispielsweise 2013 „Von | |
Menschen und Pferden“, dessen legendär gewordenes Plakat zwei kopulierende | |
Tiere beim Koitus zeigt – eines davon mitsamt Reiter. | |
Aber skandinavisch-baltisches Kino ist sehr viel mehr. In den letzten | |
Jahren bin ich – auf der Leinwand – tausende Kilometer gereist. Ich habe | |
Jugendliche im Sozialghetto von Oslo kennen gelernt, isländische | |
Naturschützer, war in der lettischen Sagenwelt und der Zukunft von | |
Kopenhagen unterwegs. Ich bin in einem blauen Bus über die Faröer getuckert | |
und mit der Kon-Tiki über den Atlantik gesegelt. Die Filmtage sind mein | |
cineastisches Reisebüro in den Norden. | |
Viele großartige, aufwendig gestaltete Produktionen kamen später nie ins | |
Kino. Der Anteil derer, die in der Versenkung verschwinden, ist | |
erschreckend hoch. Aber auch spätere Arthouse-Klassiker wurden hier | |
gezeigt, zum Beispiel „Das Orangenmädchen“, „Le Havre“ oder die schwed… | |
Musik-Komödie „Sound of Noise“. Letztes Jahr hatte „Thelma“ von Joachim | |
Trier hier seine Deutschland-Premiere. | |
## Prekär arbeitendes Team | |
Dieses Jahr findet das Festival zum 60. Mal statt. Es hat sich zu einem | |
wichtigen Branchentreff entwickelt. Seit dem vergangenen Jahr bildet der | |
Festival-Manager Florian Vollmers mit der langjährigen künstlerischen | |
Leiterin Linde Fröhlich eine Doppelspitze. | |
800.000 Euro kostet das Festival, das zu einem Viertel städtisch ist und | |
neben den Eintrittspreisen Stiftungs- und Landesgelder bekommt. Das reicht | |
für neun Filmpreise und ein kleines Team, das zum großen Teil prekär auf | |
Honorarbasis ganzjährig für das Festival arbeitet. | |
Die Programm-Pressekonferenz fiel dafür mit dem Sterne-Buffet in einer | |
Hotellobby eine Spur zu schick aus. Sie präsentierte knapp 200 Filme, die | |
an drei Spielorten in bis zu sieben Sälen parallel gezeigt werden, darunter | |
ein 360°-Kino, das aussieht wie ein außerirdisches Iglu in der Innenstadt. | |
Daneben gibt es Konzerte, Stummfilm-Vorführungen und Ausstellungen. | |
## Matrosenaufstand, Youtuber, Migration | |
An einem Sommertag in Lettland steht eine Menschenschlange vor einem | |
klapprigen Holztisch auf der Dorfstraße. Vier Mädchen stellen sich an: „Wir | |
unterschreiben, wir sind schon groß!“ – „Wofür unterschreiben wir denn?… | |
fragt die Jüngste. „Dafür, dass Lettland nicht mehr sowjetisch ist, und | |
dann gibt es Freiheit!“ – „Was heißt ‚Freiheit?‘“ – „Wir krieg… | |
Apfelsinen.“ Es ist eine Filmszene aus „Paradies ’89“, einer von mehrer… | |
historischen Spielfilmen aus Lettland, die anlässlich des Centenariums der | |
lettischen Staatsgründung im Programm sind. Auch der Eröffnungsfilm „Die | |
kleine Genossin“ von Moonika Siimets zeigt lettische Vergangenheit aus der | |
Perspektive eines Kindes. | |
Ein anderer Schwerpunkt liegt auf historischen Filmen. Zum Beispiel | |
„Christian IV.“, ein Low-Budget-Kostümfilm, der fast komplett in einer | |
Kutsche gedreht wurde, Das Programm für nordische Serien hat einen | |
Dramen-Schwerpunkt, unter anderem mit der neuen Produktion von | |
„Borgen“-Regisseur Adam Price über einen Pfarrer mit Doppelmoral und einer | |
Produktion aus Norwegen über die Folgen der Ölbohrungen in Stavanger. | |
In der Kategorie „Filmforum“ wird der Matrosenaufstand von 1918 | |
nacherzählt, und der Ecuadorianer Dario Aguirre zieht in einer persönlich | |
gefärbten Kulturstudie seine Bilanz aus 15 Jahren in Deutschland als | |
geduldeter Immigrant. „Another Day in Life“ über einen Kriegsfotografen in | |
Angola wurde als Spielfilm fotografiert und anschließend mit der | |
Rotoskopie-Technik übermalt. | |
Im Kinderfilmprogramm, das auch Vorführungen für Schulklassen anbietet, | |
verwandelt sich eine Superheldin in ein Meerschweinchen und ein dänischer | |
Youtuber erzählt in „Team Albert“ die Geschichte seiner Karriere als | |
Spielfilm nach. | |
Es gibt eine Programmsparte für Kurzfilme, die unter den Slogans „Periskop“ | |
(Perspektivwechsel), „Sexkapaden“ (Paarbeziehungen) und „Nachspiele“ | |
zusammengefasst sind. In der Reihe „Specials“ wird „Border“ gezeigt, ei… | |
ungewöhnliche Liebesgeschichte um eine Grenzbeamtin mit besonderen | |
sinnlichen Fähigkeiten. „Astrid“ erzählt eine prägende Episode aus dem | |
Leben Astrid Lindgrens, die sie als Feministin porträtiert und zeigt, woher | |
ihre Kinderbücher inspiriert wurden. Und einen Sonderplatz im Programm | |
bekommt dieses Jahr Ingmar Bergmann zu seinem 100. Geburtstag. | |
Im Dokumentarprogramm sind einige Produktionen speziell, ja, fast skurril: | |
Der Kalte Krieg in Island oder litauische Juden in Südafrika werden wohl | |
kaum ein großes Publikum interessieren. Andere Dokus thematisieren | |
Landflucht, den Umgang mit Migranten oder die Veränderung der Arbeitswelt – | |
für Hummerfischer in Schweden, zum Beispiel. | |
29 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Friederike Grabitz | |
## TAGS | |
Filmfestival | |
Lübeck | |
Skandinavien | |
Reiseland Finnland | |
Film | |
Moderne Kunst | |
Filmbranche | |
Filmtage | |
Filmtage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Essen wie am Filmset: Zu Tisch bei Aki Kaurismäki | |
Helsinkis Restaurants sind eine einzige Filmkulisse. Mit Midcentury-Charme, | |
avantgardistischen Lampen und Heringsgerichten. | |
Neuer Spielfilm aus Island: Der Zorn einer Frau | |
Eine isländische Bäuerin nimmt den Kampf gegen eine mafiöse Genossenschaft | |
auf. Neu im Kino: „Milchkrieg in Dalsmynni“ von Grímur Hákonarson. | |
Ausstellung „Kunst der Färöer“: Kunst mit Kimm | |
Zum ersten Mal in Deutschland: Das Schifffahrtsmuseum und der Museumsberg | |
in Flensburg präsentieren zeitgenössische Kunst von den Färöern. | |
Hausbesuch bei Wüste Film: Die Flexiblen | |
Die Hamburger Filmproduktionsfirma Wüste Film hat zwar viele Preise | |
gewonnen, muss aber auch regelmäßig mit kleinen Budgets auskommen. | |
Phantastischer „Flut-“Film in Lübeck: Der Tag, als das Wasser weg war | |
Wenn an der Küste phantastische Dinge geschehen: Sebastian Hilgers Film | |
„Wir sind die Flut“ läuft bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck und dana… | |
im Kino | |
Premiere bei den Nordischen Filmtagen: Von glücklichen Anfängen | |
„Lutterbek – der Film“ erzählt von einem Sehnsuchtsort an der Ostseeküs… | |
in dem die Karriere von Ina Müler startete. Premiere feiert er bei den | |
Nordischen Filmtagen | |
Nordische Filmtage: Im ewigen Eis | |
Expeditionen zu den Polen sind nach wie vor ein beliebtes Thema für Spiel- | |
und Dokumentarfilme. Zu sehen sind die alten und neuen Werke dieses Sujets | |
nächste Woche in Lübeck . |