# taz.de -- Ausstellung „Family Affairs“ in Berlin: Glanzbild mit modrigen … | |
> Die in Berlin lebende Finnin Niina Lehtonen Braun beschäftigt sich mit | |
> Rollenmodellen. Ihre Arbeiten problematisieren die „Hausfrauenkultur“. | |
Bild: Niina Lehtonen Braun in ihrem Atelier in Berlin 2021 | |
Die Frage umrahmt die beiden Frauen. Sie steht um sie herum, keilt sie | |
regelrecht ein: „What is actually wrong with us?“, lautet sie. Niina | |
Lehtonen Braun hat sie mit schwarzer Wasserfarbe auf das Papier des | |
Aquarells geschrieben, viermal, einmal rundherum. | |
Im Zentrum sind zwei Freundinnen im Zwiegespräch zu sehen, die eine mit | |
Baby im Arm und Likörglas zwischen den Fingern, die andere, dicht neben | |
ihr. Im Hintergrund stehen Birken auf blutrotem Grund, und ein kleines | |
Mädchen mit braver Schleife spielt mit ihrer Puppe, sittsam, ganz wie es | |
sich gehört. Ja, was stimmt eigentlich nicht mit uns? Die eine, in der man | |
ein Selbstporträt der Künstlerin erkennen könnte, aber nicht muss, schaut | |
die andere fragend an. Eine Antwort gibt es nicht. Welche sollte es auch | |
sein? | |
Was stimmt eigentlich nicht mit uns? Im Grunde könnten sich das alle Frauen | |
fragen, die Lehtonen Braun für ihr neues Künstlerinnenbuch „Mädchen lass | |
los“ gemalt, gezeichnet oder collagiert hat. Auch das eben beschriebene | |
Bild stammt aus dem Band. Um [1][gesellschaftliche Erwartungen an Frauen] | |
und Mädchen geht es darin, wie auch um Ängste, diese nicht erfüllen zu | |
können. | |
Niina Lehtonen Braun kennt beide selbst nur zu gut, als Frau, als Tochter, | |
als Mutter und als Künstlerin, die seit Jahren schon diese, ihre | |
Lebenssituation zum Thema ihrer Kunst macht. Ein Lebensmodell, das | |
verrückterweise auch heute, 2021, noch in den meisten Ländern der Welt als | |
riskant gilt. | |
Nach wie vor ist die [2][Kunst von Männern dominiert], die mehr verdienen | |
als ihre Kolleginnen, eher Preise und Auszeichnungen erhalten, denen mehr | |
Ausstellungen gewidmet werden. Mutter zu werden erscheint vor diesem | |
Hintergrund als ein Wagnis, das die Karriere nachhaltig gefährdet. | |
## Auf die Nase gefallen | |
Lehtonen Braun, geboren 1975 in Helsinki, hat es auf sich genommen, sehr | |
früh sogar schon. Als erste Frau ihrer Familie studierte sie und wählte | |
einen Beruf, sagt sie bei einem Treffen in ihrer Wahlheimat Berlin, der für | |
sie Berufung ist. An der Kunstakademie in Helsinki lernte sie ihren Mann | |
kennen, Ulu Braun, damals Austauschstudent in Finnland. Die beiden wurden | |
ein Paar, bereits bei ihrer Abschlussarbeit war Lehtonen Braun mit dem | |
ersten Kind schwanger. Nach Berlin zu ziehen war eine gemeinsame | |
Entscheidung. | |
Nicht einfach war das für sie. Naiv sei sie gewesen, hätte als Frau aus dem | |
Norden nie infrage gestellt, beides sein zu können, Künstlerin und Mutter. | |
Und sei in Deutschland prompt „hart auf die Nase gefallen“. Niemals | |
geschafft hätte sie es ohne spezielle Förderung für Künstler*innen von | |
den nordischen Staaten. Sie sei deswegen privilegiert, würde aber dennoch | |
gerne „ein lebendes Beispiel dafür sein, dass es möglich ist“. | |
Dass Lehtonen Braun hauptsächlich mit Papier arbeitet – außerdem ist sie | |
Teil eines Performance- und eines Projektraumkollektivs –, hat auch mit | |
ihrer Mutterschaft zu tun. „Das war ein bisschen aus der Not, zu Hause mit | |
Collage und im Kleinformat auf Papier zu arbeiten.“ Inzwischen liebe sie | |
es, wie auch das Büchermachen. | |
## Bitterkeit mischt sich in die Süße | |
„Mädchen lass los“ ist bereits das dritte Buch, das die Künstlerin im | |
Kerber Verlag veröffentlicht. 2013 erschien ihr erstes: „Mother Said“ | |
kompiliert (vermeintlich) gute Ratschläge von Müttern. Darauf folgte „These | |
foolish Things remind me of You“, eine Sammlung von Geschichten über oft | |
banale Dinge, die einen an jemanden erinnern. Sie griff dabei auf eigene | |
Erfahrungen sowie die von Bekannten, Verwandten und Freundinnen zurück. Oft | |
deutet sie in ihren Bildern die Kontexte nur an, lässt Raum für eigene | |
Interpretationen. | |
Lieblich wirken manche Bilder nur auf den ersten Blick, bis sich Bitterkeit | |
in die Süße mischt, wie auf einem Glanzbild mit modrigen Kanten. Die | |
verwendet sie zum Teil tatsächlich für ihre Collagen, wie auch Abbildungen | |
aus den 50er-Jahren. So ergeben sich Kontraste, Brüche und ein Lachen, das | |
einem im Hals stecken bleibt. | |
Aktuell arbeitet die Künstlerin an der Serie mit dem Titel „Angst. Wir sind | |
wie immer glücklich“. Sie ist derzeit in Auszügen gemeinsam mit Arbeiten | |
aus „Mädchen lass los“ in Berlin gerade in einer Duoausstellung mit Laura | |
Kärki im Kulturhaus Karlshorst zu sehen. | |
## Deutsche Hausfrauenkultur | |
An den Wänden platziert ergeben Lehtonen Brauns Papierarbeiten selbst | |
wieder eine Collage. Zusammenhänge tun sich auf, auch der Vergleich | |
zwischen dem, was die Künstlerin mit Deutschland und mit Finnland | |
verbindet, drängt stärker noch in den Vordergrund. | |
„Hausfrauenkultur“ nennt Lehtonen Braun das, was ihr in Deutschland | |
begegnete. Und was sie als junge Frau verunsicherte. Sie meint damit die | |
Erfahrung, mit einer Mutter aufzuwachsen, die zu Hause bleibt, den Haushalt | |
führt und die Kinder umsorgt, wie es die Gleichaltrigen in der | |
Bundesrepublik zumeist noch machten. Und was häufig unbewusst deren | |
Vorstellungen prägt. Das Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen den Rollen, es | |
lässt sich ablesen etwa an einer Collage mit einer Frau, die zwar rührend | |
am Herd steht, ihren Blick jedoch fest auf ein Gemälde richtet, an dem sie | |
wohl viel lieber arbeiten würde. | |
[3][Das Bild, das die Künstlerin von Finnland zeigt], scheint in anderer | |
Hinsicht problematisch. Da geht es um religiöse Zwänge – Lehtonen Brauns | |
Mutter wuchs in einer streng religiösen Sekte auf, aus der sie sich in | |
einem „unglaublichen Kraftakt“ befreite – und um Alkoholismus. Sie | |
porträtiert die trinkende Frau – adrett gekleidet, aber mit Weinflaschen in | |
jeder Hand – oder auch diejenige, die den Trinker daheim hat. Und dann ist | |
da noch die häusliche Gewalt, bei der Finnland erschreckende Zahlen | |
aufweist. „Finnland ist das zweitgefährlichste Land in der Europäischen | |
Union für Frauen“ steht auf einem der Aquarellbögen. | |
[4][Was tun gegen all das?] [5][Kann Kunst heilen?] Lehtonen Braun stellt | |
die Frage immer wieder, auf mannigfaltige Weise, hoffnungsfroh bis utopisch | |
wirkt das im Zusammenspiel. Heilen vielleicht nicht, könnte man antworten, | |
aber sie kann Dinge zur Sprache bringen. | |
5 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
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