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# taz.de -- Grünen-Politikerin Touré über Migration: „Mitleid hilft nieman…
> Grünen-Politikerin Aminata Touré hat ihre ersten Jahre in einer
> Flüchtlingsunterkunft gelebt. Ein Gespräch über diese Zeit und eine
> gerechtere Migrationspolitik.
Bild: „Ganz viele sind überrascht, dass ich studiert habe“: Grünen-Politi…
taz: Frau Touré, Sie haben mal gesagt, dass Sie nicht über persönliche
Rassismuserfahrungen sprechen wollen, weil es Sie als Person
entpolitisiert. Jetzt haben Sie ein Buch geschrieben und sich anders
entschieden. Warum?
Aminata Touré: Ich möchte das in 15-Minuten-Interviews nicht machen, weil
oft kein Raum da ist, um Dinge zu kontextualisieren. Im Buch geht es um
meinen politischen Anspruch, ich reihe da ja nicht meine
Rassismuserfahrungen aneinander. Natürlich habe ich darüber nachgedacht, ob
ich es ausspare. Aber die Erfahrungen, die ich gemacht habe, gehören zu
meinem Leben.
Ihr Buch „Wir können mehr sein“ erzählt von Ihrem Aufwachsen in einer
Flüchtlingsunterkunft und Ihrem Weg in die Politik. Wen meinen Sie
eigentlich mit diesem Wir?
Wir als Gesellschaft können mehr sein, als wir gerade sind – mit Blick auf
den Wunsch, eine antirassistische Gesellschaft zu sein. Aber das „Wir“
richtet sich auch an die, die überlegen, in die Politik zu gehen. Und: Wir
als Minderheiten können mehr sein als das, was die Leute glauben, wer wir
zu sein haben.
Sie sind als erste Schwarze und jüngste Frau Vizepräsidentin in einem
deutschen Landtag geworden. Könnte man sagen: Sie möchten nicht so alleine
bleiben im Parlament?
Das wäre sehr zugespitzt. Ich bin ja nicht alleine, es gibt viele Menschen,
mit denen ich gemeinsam für politische Veränderung streite. Aber ich merke
schon, was für eine Erwartungshaltung an mich formuliert wird, wenn ich
über Migrationspolitik oder Antirassismus spreche – auch bundesweit, obwohl
ich Landespolitikerin bin. Ich kann diese Erwartungen alleine gar nicht
erfüllen. Also ja, ich würde mich freuen, wenn [1][unsere Parlamente
diverser werden]. Wenn mehr Menschen mit Migrationsgeschichte, Frauen,
nichtbinäre Menschen, in die Politik gehen und über unser Gemeinwesen
mitentscheiden.
Sie schreiben an einer Stelle, dass es Sie zunehmend belastet hat, nicht
mehr die Macht über die eigene Geschichte zu haben. Wird zu viel in Sie
hineinprojiziert?
Die Geschichte des bemitleidenswerten, armen geflüchteten Kindes, das es in
die Politik geschafft hat, ist zum Beispiel eine Geschichte, die viele
erzählen wollen. Aber ich bin nicht bemitleidenswert, weil meine Eltern aus
Mali geflohen sind. Darum geht es nicht.
Worum geht es?
Es geht um das Problem, das dahinter steht. Dass es in dieser Gesellschaft
Zugangsbarrieren gibt. Mitleid hilft niemandem weiter, wir müssen das
System verändern, das verhindert, dass Menschen wie ich partizipieren
können.
Was heißt das ins Politische übersetzt?
Dass es zum Beispiel ein Bleiberecht geben muss, bei dem Menschen [2][nicht
alle zwei Wochen fürchten müssen], dass sie das Land verlassen müssen. Das
sind Dinge, die Menschen destabilisieren, nicht die Tatsache, dass ich
Schwarz bin oder dass meine Eltern hierher geflohen sind. Es stört mich,
dass es als Wunder dargestellt wird, wenn Leute den Aufstieg schaffen und
niemand nach den Barrieren fragt.
Eine Barriere war: Sie durften nicht in den Kindergarten gehen – aus
„aufenthaltsrechtlichen Gründen“. Sie wurden 1992 in Neumünster geboren u…
haben die ersten fünf Jahre in einer Flüchtlingsunterkunft gelebt. Haben
Sie das damals verstanden?
Ich habe nur verstanden, dass ich etwas nicht darf, was andere Kinder
dürfen. Ich war traurig darüber, weil ich mich riesig auf den Kindergarten
und die Schule gefreut habe. Das lag auch daran, dass ich wenig Kontakt
hatte zu Kindern, die außerhalb der Flüchtlingsunterkunft waren.
Rückblickend würde ich sagen: Ich habe früh verstanden, was Melancholie
bedeutet, ohne das Wort gekannt zu haben. Alle Erwachsenen haben ständig
von Duldung gesprochen. Rechtlich wusste ich nicht, was das heißt, aber ich
wusste, dass das wichtig ist für unsere Familie.
Welche Ungleichheiten haben Sie noch wahrgenommen?
In den hinteren Wohnblöcken lebten diejenigen, die einen besseren
Aufenthaltstitel hatten. Sie durften bleiben, wenn auch nur für ein paar
Jahre. Bei den Menschen in den vorderen Blöcken stand noch alles auf der
Kippe. Wir haben mit Neid auf die hinteren Blöcke geblickt.
Was hieß es konkret, in den vorderen Blöcken zu leben?
Dass man zum Beispiel alle zwei Wochen einen neuen Aufenthaltstitel
brauchte oder nur eine Aufenthaltsberechtigung für drei Monate. Es hieß vor
allem Angst vor Abschiebung in ein Land, das ich nicht kannte.
Mit 12 Jahren haben Sie die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Was hat
sich damit verändert?
Bleiben zu dürfen, war eine krasse Veränderung. Aber die Illusion, dass ich
dann auch als Deutsche gesehen und behandelt werde, hat sich nicht
bewahrheitet.
Besonders in den 1990er Jahren gab es viele rassistische
[3][Ausschreitungen und Anschläge]. Wie viel haben Sie davon mitbekommen?
Ich hatte eine sehr kindliche Perspektive auf die 1990er Jahre. Das klingt
vielleicht absurd, aber ich habe das nie im Zusammenhang mit unserer
Lebenssituation gesehen. Beruflich habe ich mich zwar als
flüchtlingspolitische Sprecherin im Landtag viel mit dieser Zeit
auseinandergesetzt, auch im Jahr 2015, als ich im Bundestag gearbeitet
habe, als so viele Menschen hierherkamen. Aber auf familiärer Ebene habe
ich das erst im Zusammenhang mit dem Buch gemacht, als ich Gespräche mit
meiner Mutter und meinen Schwestern geführt habe. Es ist krass, wie sich
unsere Wahrnehmungen unterscheiden.
Wie denn?
Meine kleine Schwester ist erst 1996 geboren, sie kann sich gar nicht
erinnern. Meine älteren Schwestern haben die feindliche Stimmung
mitbekommen, dass wir hier nicht willkommen waren. Für meine Mutter war es
am schlimmsten: Sie hatte Bekannte, die Familienmitglieder bei einem
Brandanschlag verloren haben. Sie hat eine Angst vor Feuer entwickelt, die
sich auch auf eine Schwester übertragen hat.
Warum hat der Aufstieg bei Ihnen trotz allem funktioniert?
Ganz viele sind zum Beispiel überrascht, dass ich studiert habe, das hat
auch viel mit dieser Projektion zu tun, über die wir gesprochen haben. Aber
die Bildung der Eltern ist in Deutschland auch maßgeblich dafür, welchen
Weg Kinder gehen – unabhängig davon, ob man geflüchtet ist oder nicht. Bei
uns war es höchste Priorität, dass wir gut in der Schule sind. Und dann gab
es viele Menschen auf meinem Weg, die mich unterstützt haben.
Warum wollten Sie überhaupt in die Politik und zu den Grünen gehen?
Ich wollte mitgestalten. Wir können nicht schimpfen, dass wir konservative
Mehrheiten haben und uns dann weigern, in die Strukturen zu gehen, um sie
zu verändern. Ich fand die Grünen inhaltlich am besten, auch im Hinblick
auf das Personal: Da waren Cem Özdemir oder Claudia Roth. Ich habe mich
dort am wohlsten gefühlt.
Sie sind heute in der Grünen-Fraktion in Schleswig-Holstein Sprecherin für
Migration und kämpfen für eine humanere Flüchtlingspolitik. Nun wurde am
16. August eine Abschiebehaftanstalt in Glückstadt eröffnet, obwohl die
Grünen gegen Abschiebehaft sind. Wie erklären Sie das denn den
Wähler:innen?
Ich habe das auch in meinem Buch thematisiert. Ich erkläre das so, dass wir
dafür das Aufenthaltsgesetz auf Bundesebene ändern müssen und dass
Landespolitik oft bedeutet, umzusetzen, was Bundesrecht ist, auch wenn man
es, wie in diesem Fall, falsch findet, dass es solche
Abschiebehafteinrichtungen gibt.
Die Grünen in Schleswig-Holstein haben in der Jamaika-Koalition [4][auch
Abschiebungen nach Afghanistan] mitzuverantworten. Ist das nicht eine
Schmerzgrenze?
In Schleswig-Holstein wurden in den letzten Jahren Straftäter dorthin
abgeschoben, das stimmt. 2021 waren es vier Personen. Wir haben keinen
Kompromiss mit CDU und FDP hinbekommen, das sein zu lassen. Abseits dessen
finde ich es schon wichtig, darauf zu verweisen, dass die Grundlagen
hierfür vom Auswärtigen Amt stammen, die die Lage für einige Orte in
Afghanistan als sicher eingestuft haben. Das haben wir als Grüne immer
kritisiert. Wir können in den Bundesländern keine Außenpolitik machen. Was
wir aber tun können, ist, ein eigenes Landesaufnahmeprogramm für
Afghanistan zu beschließen. Das haben wir getan.
Heißt Politik machen, manchmal nur das Schlimmste zu verhindern?
Ja, aber darüber war ich mir im Klaren, bevor ich in die Politik gegangen
bin. Was mich motiviert, ist, wenn politische Initiativen erfolgreich
umgesetzt werden wie zum Beispiel ein Landesaktionsplan gegen Rassismus
oder Landesaufnahmeprogramme, mit denen wir konkret Menschenleben
verbessern.
24 Aug 2021
## LINKS
[1] /Initiative-fuer-diversere-Parlamente/!5790040
[2] /Initiative-von-Schleswig-Holstein/!5769970
[3] /Umgang-mit-rechter-Gewalt/!5786356
[4] /Selektive-Aufnahme-von-Gefluechteten/!5789918
## AUTOREN
Jasmin Kalarickal
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Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Afghanistan
Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF)
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