# taz.de -- Geflüchtete im „Neuenfelder Fährdeich“: Leben im Nirgendwo | |
> In der Unterkunft „Neuenfelder Fährdeich“ leben Geflüchtete fern der | |
> Hamburger Innenstadt in Containern. Für viele dauert der Aufenthalt | |
> jahrelang. | |
Bild: Fern ab: die Flüchtlingsunterkunft „Neuenfelder Fährdeich“ am Hambu… | |
Hamburg taz | Ihr neues Leben beginnt auf einem Parkplatz. In hellgrauen | |
Containern, die zu Häusern gestapelt sind wie Legosteine. Aus ihren | |
Fenstern können sie auf kahle Apfelsträucher gucken, auf eine stillgelegte | |
Werft, eine Schnellstraße, zwei Deiche. Mehr gibt es hier nicht. Aber vor | |
vielen Fenstern hängen sowieso Rollos, an diesem Dienstagmorgen im Februar. | |
Abena Oppong (Name geändert) hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, als | |
sie aus dem Bus steigt. Zwei Stunden war sie gerade unterwegs. Einmal nach | |
Altona und zurück. Sie hat ihre Tochter in die Kita gebracht. „Ich bin es | |
so leid“, sagt sie auf Englisch. „Diesen Ort, diese langen Fahrten.“ Vor | |
zweieinhalb Jahren sei sie nach Deutschland geflohen, seitdem lebe sie | |
hier. Und wartet darauf, dass sie es nicht mehr muss. | |
Die Flüchtlingsunterkunft „Neuenfelder Fährdeich“ liegt dort, wo das Alte | |
Land beginnt und Hamburg endet. Inmitten von Apfelplantagen, zwischen den | |
Orten Cranz, Neuenfelde und Finkenwerder. Schon bevor im April 2016 die | |
ersten Menschen einzogen, kritisierten Bevölkerung und Bezirkspolitik das | |
Container-Dorf: Es sei zu abgelegen, zu schlecht angebunden, zu eng. Die | |
Kritik hält an. Im November stellte die Linke Bürgerschaftsfraktion eine | |
Anfrage an den Senat. Sie schrieb: „Wie wird eine so abgelegene Unterkunft | |
dem Recht auf soziale Teilhabe gerecht?“ | |
Der „Neuenfelder Fährdeich“ stammt aus einer Zeit der Not. Aus dem Jahr | |
2015, als Hunderttausende nach Europa flüchteten. Hamburg nahm damals | |
22.315 Menschen auf, dreimal so viele wie im Vorjahr. Sie brauchten | |
Schlafplätze, so schnell und so günstig wie möglich. Also ließ die Stadt | |
Zelte aufschlagen und Betten in Gewerbehallen stellen. Man mietete Flächen | |
für Holzhäuser und Container. Die „Vermeidung von Obdachlosigkeit“ hatte | |
damals oberste Priorität, schreibt die Sozialbehörde in einem Bericht. | |
## Zu lange Fahrt zum Sprachkurs | |
Die „prekären“ Unterkünfte baute sie in den folgenden Jahren wieder ab: | |
Zelte und Hallen. Auch einige [1][Container-Anlagen] wurden geschlossen. | |
Nicht die am Neuenfelder Fährdeich. 2020 wurde die Miete um drei weitere | |
Jahre verlängert. Heute leben hier vor allem Menschen aus humanitären | |
Hilfsprogrammen: afghanische Ortskräfte, Geflüchtete aus Lagern in | |
Griechenland und der Türkei. | |
Das Heim sei als „erster Anlaufpunkt“ gedacht, schreibt die Sozialbehörde | |
auf die Anfrage der Linken, für eine „zügige Verlegung“ in den Stadtberei… | |
oder eine Wohnung. Zügig läuft es bisher nicht: Im Schnitt bleiben die | |
Menschen eineinhalb Jahre auf dem Werftparkplatz. Vier Jahre dauerte der | |
längste Aufenthalt. | |
Im ersten Stock eines Container-Baus hämmert Abena Oppong an die Zimmertür | |
ihrer Freundin: „Alice!“ Im Flur steht ein Buggy, Babystrampler trocknen | |
über der Heizung. Zehn Container sind über den Gang verbunden, je 14 | |
Quadratmeter für zwei Personen. Alice Mensah (Name geändert) öffnet die | |
Tür. | |
Die Frauen haben sich an diesem Ort kennengelernt, sie kommen aus demselben | |
Land in Afrika. Ihre echten Namen und Nationalitäten sollen hier nicht | |
stehen – sie wollen keinen Ärger mit der Heimleitung. Mensah sagt, sie lebe | |
seit fast drei Jahren hier: „Ich sitze nur in meinem Zimmer.“ Die Fahrten | |
nach Altona, etwa zum Sprachkurs, seien ihr zu lang. Allein um Windeln zu | |
kaufen, brauche sie eine halbe Stunde mit dem Bus. Mensahs Kinder hätten | |
keinen Kita-Platz. Sie sagt: „Den ganzen Tag spielen sie hier auf dem Flur, | |
wo die Leute rauchen. Draußen ist ja nicht mal ein Sandkasten.“ | |
Über die Hälfte der 252 Bewohner*innen sind Kinder und Jugendliche. Für | |
sie gibt es ein Basketballfeld mit Korb, ein Fußballtor, eine | |
Tischtennisplatte. Von den Älteren gehen fast alle zur Schule. Von den | |
Jüngeren besuchten im Mai 2021 nur vier eine Kita. | |
Carola Ensslen, Abgeordnete der Linken Bürgerschaftsfraktion, findet: „Das | |
ist eine Katastrophe. Diese Menschen sind vulnerabel. Und dann kommen sie | |
in so eine Gegend, in der sie kaum angebunden sind an | |
Unterstützungsangebote.“ Sie zählt auf: Fachärzte, Rechtsberatung, | |
Psychologische Betreuung – alles zu weit weg. | |
„Das ist ein Problem“, sagt auch Olaf Kleist, Politikwissenschaftler am | |
Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. „Externe | |
Beratungen müssen einfach zugänglich sein. Sie sind wichtig für den | |
Gewaltschutz und die gesundheitliche Stabilisierung.“ Generell bestimme die | |
Lage einer Unterkunft die Teilhabechancen, sagt Kleist. „Wenn Geflüchtete | |
fernab leben, fällt ihnen der Anschluss an den Alltag in Deutschland | |
schwerer.“ | |
Lange war der Anschluss gar nicht so schlecht. Weil die Unterkunft nicht | |
ins Dorf kam, kam das Dorf in die Unterkunft. Bürger*innen luden mit der | |
Initiative „Willkommen in Neuenfelde“ zum Sommerfest ein, sie besuchten die | |
Bewohner*innen zum Kaffeetrinken, begleiteten sie zu Behörden und | |
spendeten Kleider. 2016 gewann die Initiative den Harburger Bürgerpreis. | |
Heute herrscht Funkstille. „Im Laufe der Zeit ist das Projekt | |
eingeschlafen“, sagt Sabine Heinemann, eine der Initiator*innen. [2][Seit | |
Corona ist der Zugang zur Unterkunft erschwert.] Das merken auch die | |
„Falkenflitzer“. Jeden Donnerstag fahren sie mit einem Wohnmobil auf den | |
Parkplatz, packen Bälle aus, Hula-Hoop-Reifen, Malsachen und spielen und | |
reden mit den Kindern. Seit Weihnachten geht das nicht mehr: zu viele | |
Coronafälle. Die Pandemie verschärft die Isolation. | |
## Eine Sozialarbeiter*in für 42 Geflüchtete | |
In der Unterkunft selbst arbeiten sechs Sozialarbeiter*innen. Das bedeutet: | |
eine Person für 42 Geflüchtete. Sie sollen ihnen bei Fragen rund um | |
Jobcenter, Einwohnermeldeamt, Bank, Krankenkasse, Schule und Kita helfen. | |
„Das sind zu wenig“, findet Carola Ensslen. Sie plant deshalb einen Runden | |
Tisch. Flüchtlingszentrum, Bezirksamt, Jobcenter, Heimleitung, Sozial- und | |
Innenbehörde sollen diskutieren, wie man die Versorgung verbessern kann. | |
Den Antrag hat sie schon geschrieben. | |
Es gibt auch Stimmen, die das Heim weniger kritisch sehen. Angelika | |
Friedrich von den „Falkenflitzern“ sagt: „Aus den fünf Jahren, die ich h… | |
arbeite, habe ich den Eindruck: Den Kindern geht es gut. Sie können hier am | |
Stadtrand zur Ruhe kommen. Und in Schulen, Kitas und Sportvereine werden | |
sie sehr gut integriert.“ Auch eine junge Bewohnerin findet das Heim | |
„okay“. Sie sei das schon gewohnt. „Diese Unterkünfte sind alle gleich�… | |
sagt sie. | |
Im Container-Flur schüttelt Alice Mensah den Kopf: „Sie sollten diesen Ort | |
schließen.“ Ihre Freundin Abena Oppong nickt und schaut auf ihr Handy. In | |
ein paar Stunden muss sie wieder los, um ihre Tochter abzuholen. | |
8 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anaïs Kaluza | |
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