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# taz.de -- Geflüchtete in Hamburger Unterkünften: Senat verschweigt Suizidve…
> In Hamburger Unterkünften haben viele Geflüchtete versucht, sich das
> Leben zu nehmen. Wie viele genau, will die rot-grüne Landesregierung
> nicht sagen.
Bild: Oft viel Blaulicht: Corona-Einsatz in der Flüchtlingsunterkunft in Hambu…
Hamburg taz | Mindestens 56-mal wurde im letzten Jahr die Polizei wegen
eines Suizidversuchs in eine Hamburger Unterkunft für Geflüchtete gerufen.
Dies geht aus einer Anfrage der Linksfraktion an den Hamburger Senat
hervor. Dennoch spricht der Senat von nur sieben Fällen, die als
Suizidversuch oder selbstverletzendes Verhalten gewertet werden können.
Regelmäßig fragt die flüchtlingspolitische Sprecherin der Linken Carola
Ensslen den Senat, wie viele Menschen in der öffentlichen Unterbringung für
Geflüchtete Suizidversuche oder Suizide unternommen haben. Doch seit
letztem Jahr verweist der Senat auf die Datenschutzgrundverordnung.
Informationen über Suizide und Suizidversuche seien „besonders geschützte
Gesundheitsdaten“, weshalb keine detaillierten Angaben gemacht werden
könnten.
Im Juli fragte Ensslen daraufhin alle Einsätze der Polizei und Feuerwehr in
den Flüchtlingsheimen ab. Der Senat antwortete mit einer Liste der Einsätze
im Jahr 2020 in der Zentralen Erstaufnahmestelle in Rahlstedt, weiteren
dezentralen Erstaufnahmen und einigen Folgeunterkünften. Nicht alle
Unterkünfte sind darin erfasst. In Summe finden sich dort 56 Einsätze wegen
eines „Selbsttötungsversuches“.
Diese Zahl taucht allerdings nicht in der Antwort des Senats auf.
Stattdessen heißt es dort, dass es in dem Ankunftszentrum und in den
Erstaufnahmen sieben Vorfälle gegeben habe, „die als Suizidversuch oder
selbstverletzendes Verhalten gewertet werden“. Außerdem habe es zehn
„Suizidandrohungen“ gegeben.
## Unterkunftsbetreiber bestimmt die Zahlen
„Ich konnte mir diesen Widerspruch nicht erklären“, sagt die Abgeordnete
Ensslen. Sie stellte daher eine Nachfrage, die nun vom Senat beantwortet
wurde und der taz vorliegt. Hier heißt es, dass das Leitsystem von Polizei
und Feuerwehr, das die Einsätze dokumentiert, nicht aussagekräftig genug
sei. Es sei kein System, „das für statistische Auswertungen geeignet ist“.
Mögliche Suizide und Suizidversuche würden daher von Fördern und Wohnen,
der Betreiberin der Heime, und dem Amt für Migration, das bei der
Innenbehörde angesiedelt und für die Koordination der Erstaufnahmen
zuständig ist, bewertet. „Da zu diesem Zeitpunkt mehr Informationen
vorliegen, als bei Anruf in der Einsatzleitstelle, kann das Geschehen
besser bewertet und eingeordnet werden“, heißt es in der Antwort.
Dies bedeutet, dass das Sozialmanagement in den Unterkünften die Vorfälle
unabhängig von Polizei und Feuerwehr auswertet und das Ergebnis der Sozial-
und der Innenbehörde mitteilt. „So kann sich der Senat die Lage zurecht
schustern, wie er gerade will“, kritisiert Ensslen.
Sie findet, dass „eine um das circa Achtfache höhere Zahl im
Einsatzleitsystem der Polizei“ nicht mit fehlerhaften Meldungen zu erklären
sei. Dies könne dazu führen, dass die Prävention von Suiziden
vernachlässigt werde. „Der Senat muss mit offenen Karten spielen“, sagt sie
und fordert ein Präventionsprogramm und mehr Sozialarbeit in den
Unterkünften.
Die Sozialbehörde teilte nur mit, dass allen Bewohner:innen interne und
externe Hilfsangebote zur Verfügung stünden, „sodass präventive Maßnahmen
im Vorfeld eines Suizides getroffen werden können“. Mitarbeiter:innen
unterstützten eine Vermittlung an entsprechende Stellen.
## Hohe Dunkelziffer
Im Vergleich zu den vergangenen Jahren dürfte ein Wert von 56
Selbsttötungsversuchen in 2020 eine Zunahme bedeuten. „Ob die Pandemie
damit zusammenhängt, kann nur spekuliert werden“, sagt Ensslen dazu. Umso
wichtiger sei es, dass der Senat sich damit befasse. Anfragen der
Linksfraktion zufolge wurden von April 2014 bis Ende 2017 insgesamt 69
Suizidversuche und zwei Suizide begangen. 2018 habe der Senat 34
Suizidversuche angegeben, 2019 seien es 30 gewesen.
In Deutschland werden nach Schätzungen etwa 10.000 Suizidversuche jährlich
begangen. Die Organisation „Antirassistische Initiative“ dokumentiert
Suizide und Suizidversuche von Geflüchteten in Deutschland. Nach ihren
Zählungen sind von 2016 bis einschließlich 2020 jeden Monat
durchschnittlich zwei bis drei Geflüchtete durch Suizid ums Leben gekommen
– insgesamt 159 Menschen. 2.466 Personen hätten Suizidversuche oder
Selbstverletzungen unternommen. Die Dunkelziffer sei hoch.
## Posttraumatische Belastungsstörungen
Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde wird bei Geflüchteten zehnmal so häufig
eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wie bei der übrigen
Bevölkerung. Sie erleben in ihrem Heimatland und auf der Flucht häufig
Schreckliches, doch auch ein langes Asylverfahren könne die
Wahrscheinlichkeit für eine psychische Störung erhöhen. Im Vergleich zur
Allgemeinbevölkerung begingen Geflüchtete auch mehr Suizidversuche.
2018 wurde [1][der Fall des Afghanen Jamal Nasser M.] bekannt, der sich
nach seiner Abschiebung nach Afghanistan das Leben nahm. Er war einer der
Asylbewerber:innen, die an Horst Seehofers Geburtstag abgeschoben wurden.
Über diese hohe Zahl hatte sich der Innenminister zuvor gefreut.
Verantwortlich für die Abschiebung von Jamal Nasser M. waren die Behörden
in Hamburg, wo der Afghane seinen Asylantrag gestellt und gelebt hatte.
Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie
können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (0800/111 0 111,
[2][www.telefonseelsorge.de])
3 Aug 2021
## LINKS
[1] /Protest-nach-Suizid-eines-Abgeschobenen/!5522067
[2] https://www.telefonseelsorge.de/
## AUTOREN
Sarah Zaheer
## TAGS
Hamburg
Rot-Grün Hamburg
Suizid
Unterbringung von Geflüchteten
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Geflüchtete
Flüchtlingspolitik
Schwerpunkt Coronavirus
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