| # taz.de -- Fazit des Grünen-Parteitags: Brav und regierungswillig | |
| > Annalena Baerbock gelingt es nicht ganz, in die Offensive zu kommen. Die | |
| > Grünen-Basis segnet auf dem Parteitag den Kurs des Vorstands ab. | |
| Bild: Annalena Baerbock machte sich rar auf dem Parteitag – ein bisschen defe… | |
| Berlin taz | Am Ende verströmt der Grünen-Parteitag dann noch ein bisschen | |
| internationales Flair. Die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright | |
| ist per Video zugeschaltet. Sie lobt die Biden-Regierung, betont die | |
| Wichtigkeit der transatlantischen Partnerschaft und erzählt, wie sie damals | |
| mit Joschka Fischer Weltpolitik machte. | |
| Kurz zuvor ist auch Stuttgart zugeschaltet. Ministerpräsident Winfried | |
| Kretschmann zitiert seine Lieblingsphilosophin Hannah Arendt – „Wo, wenn | |
| nicht in der Politik, sollen Wunder geschehen?“ – und stärkt Annalena | |
| Baerbock den Rücken. Max Weber habe drei Eigenschaften für gute Politiker | |
| ausgemacht, sagt Kretschmann. Leidenschaft in der Sache, Augenmaß, | |
| Verantwortungsgefühl. „Das ist eine sehr gute Beschreibung von Annalenas | |
| Profil.“ | |
| Von Baden-Württemberg bis Washington, wir sind bereit, Verantwortung zu | |
| übernehmen. Die beiden Szenen vom Sonntag binden gut zusammen, was die | |
| Grünen auf ihrem dreitägigen Parteitag in Berlin demonstrieren wollten. | |
| Aber gelingt das? | |
| Erst [1][Baerbocks Versäumnis bei der Angabe von Nebeneinkünften], dann | |
| das [2][mäßige Ergebnis der Grünen in Sachsen-Anhalt], schließlich [3][die | |
| Ungereimtheiten im Lebenslauf der Spitzenkandidatin]. Die Partei sah nicht | |
| gut aus zuletzt. Um das Bild zu korrigieren, trafen sich die Grünen drei | |
| Tage lang in einem Industriebau in Berlin, die wichtigsten Leute und | |
| JournalistInnen waren unter strengen Hygieneauflagen vor Ort, gut 800 | |
| Delegierte digital zugeschaltet. Offiziell ging es darum, das Wahlprogramm | |
| zu beschließen, aber über allem schwebte die Frage: Wie kommt die Partei | |
| wieder in die Offensive? | |
| ## Milieus, mit denen Grüne nichts anfangen können | |
| Annalena Baerbock merkte man den Druck an, der auf ihr lastet. Über weite | |
| Strecken war sie abgetaucht und nicht in der Halle, während ihr Co-Chef | |
| Robert Habeck entspannt durch die Gänge stromerte, lächelnd und immer zu | |
| einer Plauderei aufgelegt. Einerseits ist das ein Trick, die | |
| Kanzlerkandidatin macht sich rar. Wenn Baerbock mal durch die Halle lief, | |
| scharten sich sofort die Kamerateams um sie. Aber etwas defensiv wirkte es | |
| eben auch. | |
| Baerbock kämpfte bei früheren Parteitagen in Debatten für den Kurs der | |
| Grünen-Spitze, dieses Mal hält sie sich zurück. Auch ihre große Rede am | |
| Samstagnachmittag, mit der sie sich der Republik als Regierungschefin | |
| empfehlen will, als erste Grüne in der Geschichte überhaupt, gelingt ihr | |
| mittelprächtig. Sie wirkt wie ein Best-of des Wahlprogramms, kein | |
| leuchtender Satz, keine überraschende These bleibt hängen. | |
| Aber für das Fernsehpublikum, die „sehr geehrten Damen und Herren“, an die | |
| sich Baerbock richtet, dürfte der Überblick dennoch funktioniert haben. | |
| Baerbock erklärt Punkt für Punkt die Palette grüner Politik. Ihre zentrale | |
| Botschaft: Das Abwenden der Klimakrise sei das wichtigste Thema der | |
| nächsten Jahrzehnte, das traditionelle Wirtschaftsmodell müsse zu einer | |
| sozial-ökologischen Marktwirtschaft weiterentwickelt werden. „Wir haben uns | |
| 40 Jahre darauf vorbereitet, mit allen Ecken und Kanten“, sagt Baerbock. | |
| „Jetzt ist der Moment, unser Land zu erneuern, und alles ist drin.“ | |
| Niemand dürfe bei der Wende zurückgelassen werden, die Baerbock in eine | |
| Reihe stellt mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, der | |
| friedlichen Revolution in Ostdeutschland und der europäischen Einigung. | |
| Nicht der Stahlarbeiter dürfe zurückgelassen werden, nicht die Pendlerin, | |
| nicht die Handwerker und die Kohlekumpel. Bewusst spricht sie Milieus an, | |
| die mit den Grünen wenig anfangen können. Ebenso bewusst betont sie, wie | |
| wichtig sozialer Ausgleich ist. | |
| ## Ein herzhaftes „Scheiße!“ | |
| Die stärksten Stellen sind die persönlichen Anekdoten. Baerbock erzählt vom | |
| Tod der Schwester ihrer Mutter, als diese noch ein Kind war. Die Mutter | |
| hätte die Schule als lernschwach verlassen sollen. Aber Gespräche mit einem | |
| Kinderpsychologen und eine großartige Lehrerin hätten geholfen. So habe | |
| ihre Mutter es am Ende geschafft, Sozialpädagogin zu werden. Damit verweist | |
| sie auf eine Politik, in der Menschen aufgefangen werden. „Jeden Einzelnen | |
| zu sehen und zu hören und gleichzeitig das große Ganze im Blick zu behalten | |
| und dem Wohle aller zu dienen. Das ist unser Kompass.“ | |
| Sie wirkt verkrampft, wird erst mit der Zeit lockerer. Einmal verhaspelt | |
| sie sich, muss neu ansetzen. Am Ende lächelt sie erleichtert, nickt den | |
| eigens eingeladenen Neumitgliedern, die zuhören dürfen, knapp zu. Als sie | |
| die Treppe hinuntergeht und auf Habeck zuläuft, rutscht ihr ein herzhaftes | |
| „Scheiße!“ heraus. Eine Kamera zeichnet es auf, der Filmausschnitt geht auf | |
| Twitter sofort viral. Baerbock habe sich auf ihren Versprecher bezogen, | |
| heißt es danach in ihrem Umfeld. | |
| Die Szene sagt auch etwas über das gute Vertrauensverhältnis von Baerbock | |
| und Habeck. Wäre es vorstellbar, dass Armin Laschet so etwas zu Markus | |
| Söder sagt? Eher nicht. Die Delegierten stärken ihrem Spitzenduo – es wird | |
| über beide gemeinsam abgestimmt – demonstrativ den Rücken. [4][98,5 | |
| Prozent, ein geradezu sozialistisches Ergebnis.] | |
| Das ist wichtig für die grüne Selbstvergewisserung. ParteistrategInnen | |
| räumen hinter vorgehaltener Hand ein, dass die falsch angegebenen | |
| Mitgliedschaften Baerbocks Image beschädigt haben. Es sei blöd, dass es | |
| keinen ausreichenden Sicherheitscheck geben habe, heißt es. Da bliebe „ein | |
| tiefer Kratzer“. | |
| ## Der Wahlkampf wird brutal | |
| In der Krise wird Robert Habecks Rolle als Wingman neben Annalena Baerbock | |
| noch mal besonders deutlich. Er kann es sich erlauben, die Strippen zu | |
| ziehen, Spins zu setzen – etwa, als er in seiner Rede am Freitagabend den | |
| philosophischen Überbau zu Baerbocks konkreten Ansagen liefert. „Wer das | |
| Klima schützt, schützt die Freiheit.“ Durch das Klima-Urteil von Karlsruhe, | |
| so seine These, verschiebe sich paradigmatisch eine Polarität, die die | |
| Gesellschaft verdummt habe. | |
| Egal, ob es ums Nackensteak, ums Fliegen oder ums Tempolimit geht: Die | |
| Zeiten, in denen interessierte Kreise hemmungslosen fossilen Konsum mit | |
| Freiheit gleichsetzen konnten, seien vorbei. Ob sich Habecks Deutung in der | |
| Realität durchsetzt, ist offen. Neulich wetterten CDU, SPD und Bild-Zeitung | |
| gegen höhere Benzinpreise, obwohl die Große Koalition mit ihrem Beschluss | |
| zum CO2-Preis selbst dafür gesorgt hatte. Mit Zahlenfresserei kommen die | |
| Grünen gegen derlei Polemik nicht an, glaubt Habeck. Stattdessen will er | |
| das große Ganze erzählen, klar machen, dass es bei dieser Wahl um eine | |
| Jahrhundertfrage geht. | |
| Die Benzinpreis-Diskussion werfe die Frage auf, wie glaubwürdig die | |
| Lippenbekenntnisse zum Klimaschutz seien, sagt Kretschmann. „Man kann sich | |
| doch nicht gleich aus dem Staub machen, wenn es mal Gegenwind gibt.“ Einen | |
| Vorteil hatte die Aufregung aber für die Grünen: Sie dürfte auch dem | |
| rebellischsten Basisgrünen klar gemacht haben, wie brutal der Wahlkampf | |
| wird. | |
| Gleich reihenweise lassen die Delegierten in Onlineabstimmungen Anträge | |
| abblitzen, die das Wahlprogramm verschärfen würden. Ein Beispiel ist die | |
| Klimaschutzdebatte am Freitagabend: Der Klimaaktivist Jakob Blasel will den | |
| CO2-Preis auf 80 Euro pro Tonne Kohlendioxid setzen statt auf 60 Euro. | |
| Blasel beruft sich auf WissenschaftlerInnen wie die Energieökonomin Claudia | |
| Kemfert. Habeck geht persönlich in die Bütt – und entgegnet kühl: Es gebe | |
| nicht die Wissenschaft, ebenso wenig, wie es die Politik gebe. | |
| ## Deutschland bleibt drin | |
| Ein Tempolimit von 70 km/h auf Landstraßen? PendlerInnen verlieren Zeit für | |
| ihre Familien, kontert Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. Ausstieg aus | |
| dem Verbrennungsmotor schon 2025? Man dürfe die Beschäftigten der | |
| Autokonzerne nicht in die Arme der Fanatiker von rechts außen treiben, | |
| findet Cem Özdemir. [5][Grüne Spitzenleute klingen wie Liberale und | |
| Konservative], als sie für den moderaten Kurs kämpfen. Die Argumente | |
| scheinen austauschbar zu sein. | |
| Arbeitsam und bürokratisch haken die Delegierten einen Tagesordnungspunkt | |
| nach dem anderen ab. Rede, Gegenrede, Abstimmung, oft liegt man sogar vor | |
| dem eigenen Zeitplan – was sonst so gut wie nie vorkommt bei | |
| Grünen-Parteitagen. Sie wollen engagiert, aber nicht zu radikal wirken – | |
| und heraus kommt eine etwas verklemmte Professionalität. Fast überall wird | |
| der Vorstandskurs gestützt. Ein Antrag, der einen Mindestlohn von 13 Euro | |
| fordert, scheitert – die Grünen bleiben bei 12 Euro. Einer, der ein | |
| Wahlalter von 14 Jahren fordert, wird ebenfalls abgelehnt. Die Grünen | |
| ziehen wie geplant mit der Idee in den Wahlkampf, das Wahlalter auf 16 | |
| Jahre abzusenken. | |
| Eine viel versprechende Kampfabstimmung fällt gleich ganz aus. Die | |
| Überschrift des Wahlprogramms lautet: „Deutschland. Alles ist drin.“ Eine | |
| Gruppe linker Grüner hatte vor dem Parteitag gefordert, das Wort | |
| „Deutschland“ zu streichen – zur großen Freude der Redaktion der | |
| Bild-Zeitung. Doch die Antragsteller ziehen ihr Anliegen am Samstagabend | |
| zurück und ersparen Baerbock eine unsinnige Debatte, die für peinliche | |
| Schlagzeilen gesorgt hätte. Deutschland bleibt drin. | |
| 13 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Verspaetete-Meldung-von-Nebeneinkuenften/!5769735 | |
| [2] /Gruene-in-Sachsen-Anhalt/!5776674 | |
| [3] /Zurueck-in-die-Normalitaet/!5774731 | |
| [4] /Annalena-Baerbock-ist-Kanzlerkandidatin/!5778515 | |
| [5] /Parteitag-der-Gruenen/!5774736 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
| Jasmin Kalarickal | |
| ## TAGS | |
| Annalena Baerbock | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Parteitag | |
| Robert Habeck | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| Kolumne Der rote Faden | |
| Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
| GNS | |
| Annalena Baerbock | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Annalena Baerbock | |
| Annalena Baerbock | |
| Kolumne Die Woche | |
| Parteitag | |
| Annalena Baerbock | |
| Annalena Baerbock | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gedanken zum Wahlkampf: Wo Özdemir Außenminister wär | |
| Ein Paralleluniversum bräuchte es, um Fehler ungeschehen zu machen. Und um | |
| Wunschkandidaten auf Wunschposten zu befördern. | |
| Selbstoptimierung, Patriarchat, Jogi Löw: Freiheit und Freiheitsmutationen | |
| Die bunten Erscheinungsformen der Freiheit reichen von peinlich bis weit | |
| über besorgniserregend. Manche verwechseln sie auch mit faulen Ausreden. | |
| Ex-Außenminister Joschka Fischer: „Die 60er-Wahlkämpfe waren härter“ | |
| Ein Gespräch mit Ex-Außenminister Joschka Fischer (Grüne) über seine | |
| Partei, den Wahlkampf und die künftige Außenpolitik der Bundesrepublik. | |
| Grüne Wahlkampf-Strategien: Baerbock und der Spritpreis-Opi | |
| Die Sache mit der ersten grünen Kanzlerin im Herbst wird wohl doch etwas | |
| schwieriger. Aber ist es überhaupt entscheidend, ob das klappt? | |
| Baerbock-Pläne für Firmen: Grüner Pakt mit den Unternehmen | |
| Positionspapier für mehr Klimaschutz: Energieintensive Firmen sollen in | |
| einer Regierung mit grüner Beteiligung mehr Sicherheit bekommen. | |
| Buchvorstellung von Annalena Baerbock: Im Männerbetrieb der Politik | |
| Annalena Baerbock hat ein Buch geschrieben, in dem sie Parteiprogramm und | |
| Persönliches verbindet – mit feministischem Blick. | |
| Nachwuchs-Grüne über Hartz IV: „Einiges wiedergutzumachen“ | |
| Die Grünen haben die Forderung verworfen, Hartz-IV-Sätze auf 600 Euro zu | |
| erhöhen. Eine vertane Chance, sagt Sarah-Lee Heinrich von der Grünen | |
| Jugend. | |
| Lebensläufe, SEK und die Fußball-EM: Nichts draus gelernt | |
| Deutschland diskutiert über Lebensläufe. Hessen kämpft mit seinem | |
| Polizeiproblem. Und: Ein EM-Spiel wird trotz eines Schocks nicht | |
| abgebrochen. | |
| Carolin Emcke auf dem Grünen-Parteitag: Eklat entdeckt | |
| Äußerungen der Publizistin Carolin Emcke auf dem Grünen-Parteitag | |
| veranlasst die CDU zu Antisemitismus-Vorwürfen. Was ist dran? | |
| Parteitag der Grünen: Pragmatisch und einig | |
| Auf ihrem Parteitag zeigen sich die Grünen diszipliniert und pragmatisch: | |
| Baerbock erhält volle Unterstützung, beim CO2-Preis wagt man nur wenig. | |
| Annalena Baerbock ist Kanzlerkandidatin: „Rückenwind nach dem Gegenwind“ | |
| Mit 98,5 Prozent wählte der Grünen-Parteitag seine erste Kanzlerkandidatin. | |
| Baerbock hält eine souveräne Rede, gibt sich aber auch nahbar. |