| # taz.de -- Nele Stuhlers Buch über das Nichtwissen: Das Keine-Ahnung-Problem | |
| > Wissen ist Macht, Nichtwissen peinlich. Nele Stuhler hat mit „Keine | |
| > Ahnung“ ein gedankenreich verwirrendes Buch über das Nichtwissen | |
| > geschrieben. | |
| Bild: Weiß, dass sie nix weiß: Die Autorin Nele Stuhler | |
| Das Zitat „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist wahrscheinlich das | |
| berühmteste geflügelte Wort der Antike. Zuzugeben, dass man etwas nicht | |
| weiß, ist trotzdem unangenehm, vor allem, wenn alle anderen alles zu wissen | |
| scheinen. | |
| Wie man Wissenslücken verschleiert und dementiert, beschreibt die Autorin | |
| Nele Stuhler, Versagenspanik schwingt dabei unüberhörbar mit: „Warum ich, | |
| wenn die Rede auf eine bestimmte Autorin oder, keine Ahnung, einen | |
| bestimmten Film kommt, nicht sagen kann, dass ich diese eine, keine Ahnung, | |
| Künstlerin nicht kenne, noch nie von diesem Song gehört habe und | |
| stattdessen eine Stunde lang, oder so lange das Gespräch eben dauert, nur | |
| so vage und nichtssagende Äußerungen oder Meinungen von mir gebe, dass sie | |
| zu jeder beliebigen Sache auf der Welt gesagt werden könnten, nach dem | |
| Gespräch nach Hause eile, einen Abend lang alles lese, was ich über das | |
| besagte Buch finde, um dann am nächsten Tag einen nebensächlichen Kommentar | |
| zu platzieren, der jedoch meine Fachkenntnis hinsichtlich des gegebenen | |
| Diskussionsgegenstandes einwandfrei beweist.“ Szenen wie diese dürften | |
| nicht wenigen vertraut vorkommen. Nele Stuhler hat mit „Keine Ahnung“ nun | |
| ein Buch über das Nichtwissen geschrieben. | |
| Keine Ahnung haben kann man von so ziemlich allem: Von Geschichte, vom | |
| Universum, der Verdauung, der Liebe oder davon, wie man Fisch zubereitet. | |
| Das Internet kann zwar Wissenslücken schnell schließen, wirft dabei jedoch | |
| stets neue Fragen auf. „Es gibt ja auch im Internet nicht einen Ort, der | |
| einem sagt, wie alles geht“, sagt Stuhler. Die Berliner Theatermacherin | |
| bekennt auch im Gespräch ihr Nichtwissen, antwortet oft mit „weiß nicht.“ | |
| Zwei Jahre lang hat sie sich mit der Ahnungslosigkeit beschäftigt, den | |
| Stoff erst auf der Bühne, in den Berliner Sophiensaelen, dann im | |
| [1][Hörspiel für den Deutschlandfunk] verarbeitet. Nun hat die 31-Jährige | |
| ihr erstes Buch veröffentlicht. Ein Roman ist die Handlung rund um Sandra | |
| und Kassandra nicht geworden. Zwar passiert immer mal wieder etwas, die | |
| Protagonistin arbeitet und unterhält sich und reist zweimal nach Sizilien, | |
| doch die meisten Seiten füllen Gedankenströme, mal mehr, mal weniger | |
| zielführend; einzuordnen irgendwo zwischen Blogeintrag und Lektürenotizen. | |
| ## Das Wissen, das keiner hören will | |
| Letztere betreffen vor allem [2][Christa Wolf.] Explizit bezieht sich | |
| Stuhler auf Wolfs Frankfurter Poetikvorlesungen. Kennt man diese, macht das | |
| Lesen von „Keine Ahnung“ großen Spaß. Die Wechselwirkungen zwischen | |
| Nichtwissen und kultureller Überforderung hat nämlich auch Wolf schon | |
| beobachtet. „Wem kann ich erzählen, dass die ‚Ilias‘ mich langweilt?“, | |
| schreibt sie Anfang der 80er-Jahre. | |
| Unbeeindruckt von der Kulisse Athens isst Wolf teuren Fisch und denkt dabei | |
| über Kassandra nach, die laut griechischer Mythologie zwar über die | |
| Sehergabe verfügt, deren Weissagungen jedoch niemand glaubt. Reiseunlust | |
| auch bei Stuhler: Ihre Figur möchte sich von der mediterranen Atmosphäre | |
| inspirieren lassen, isst jedoch vor allem teures Sushi und hat | |
| Verdauungsprobleme. | |
| Warum bestimmt man eine tragische Heldin der griechischen Mythologie zum | |
| Fixpunkt einer modernen Geschichte? „Mich fasziniert an Kassandra vor allem | |
| der Zugriff, den sie auf die Zukunft hat“, sagt Stuhler. „Wir selbst können | |
| ja schon die Gegenwart kaum richtig fassen.“ | |
| Christa Wolf, deren Poetikvorlesungen die Entstehungsgeschichte ihrer | |
| „Kassandra“-Erzählung beleuchten, [3][rückt feministische Fragestellungen | |
| in den Mittelpunkt]. „Mich interessiert: wie ist sie an die Sehergabe | |
| gekommen“, schreibt sie und fragt sich später, warum der Fluch, dass | |
| Kassandra niemand glaubte, ausgerechnet an der Frau hängenblieb, obwohl | |
| zeitgleich ein männlicher Priester ebenfalls vor dem trojanischen Pferd | |
| warnte. | |
| ## Patriarchales Sprechen | |
| Überhaupt scheint das Verhältnis zwischen Wissen und Nichtwissen eher | |
| Frauen zu beschäftigen. „Mansplaining“ heißt nicht zufällig so und mit d… | |
| „Impostor-Syndrom“ gibt es nun auch für das Gefühl, ein:e Hochstapler:in | |
| zu sein, einen Begriff, mit dem vor allem Frauen ihre Empfindungen | |
| benennen. „Patriarchales Sprechen thematisiert Nichtwissen grundsätzlich | |
| nicht“, sagt Stuhler. Dieses Sprechen sei mit Macht eng verknüpft, das sehe | |
| man etwa bei Politiker:innen. „Macht wird darüber generiert, dass Leute | |
| sich nicht die Blöße geben müssen zuzugeben, etwas nicht zu wissen.“ | |
| Dabei stecke Kraft darin, Nichtwissen anzuzeigen. Die Autorin glaubt, dass | |
| durch das Eingestehen von Wissenslücken viel zu gewinnen wäre. „Wenn keiner | |
| eine Ahnung hat, darf auch jeder sprechen“, sagt sie. | |
| Dabei sei es gar nicht einfach, über das Nichtwissen zu sprechen, „weil es | |
| draußen zwar keine Ahnung gibt, sogar sehr viel keine Ahnung gibt, aber es | |
| draußen keine Keine-Ahnung-Sprache gibt, obwohl es draußen keine Ahnung | |
| gibt, wie gesagt, im Keine-Ahnung-Draußen.“ Stuhler kommt vom Theater, das | |
| liest man aus jedem ihrer Sätze heraus, mantraartige Wiederholungen und | |
| Schachtelsätze erzeugen einen bestimmten Rhythmus, dem man beim Lesen | |
| folgt. Ihr Stil ist eigenwillig, Stuhler beobachtet sich selbst beim | |
| Schreiben und beleuchtet den Schreibprozess mit Fußnoten: „Jens sagt, dass | |
| es hier jetzt schon die Gefahr gäbe, dass die Leute blättern.“ | |
| So kommt ein sehr ehrliches Textkonstrukt zusammen, das gleichzeitig | |
| Rohfassung und Endprodukt ist. Stuhler schafft es in „Keine Ahnung“, | |
| Denken, ein hyperaktives und ständig abgelenktes Denken, in Schreiben zu | |
| übersetzen und landet so stilistisch irgendwo zwischen Rainald Goetz und | |
| Ernst Jandl. „Keine Ahnung“ ist ein anstrengendes Buch – aber das sind | |
| Gedanken und Selbstgespräche oft genauso. Immer wieder ist Stuhler richtig | |
| lustig, etwa wenn Kassandra die eigene Machtlosigkeit im Kampf gegen den | |
| Klimawandel im fiktiven Gespräch mit einer Löwin zu erklären versucht. | |
| Eine Lösung hat Stuhler für das Problem des Nichtwissens auch nach | |
| Theaterstück, Hörspiel und Buch nicht gefunden. „Zu einem Schluss zu | |
| kommen, wäre auch fatal, denn je mehr man die Dinge anguckt, desto mehr | |
| verschwimmen sie“, denkt die Autorin laut. Vielleicht mache sie noch ein | |
| Keine-Ahnung-Kartenspiel, dann reiche es aber wirklich. | |
| Ihr nächstes Projekt, das sie mit ihrer Theatergruppe FUX am Theater HAU | |
| Hebbel am Ufer Berlin aktuell bearbeitet, ist nicht unbedingt klarer | |
| umrissen. „Wir arbeiten an einem Stück über das Anfangen“, erzählt sie. | |
| „Das ist ja immer etwas Künstliches. Wie kann man überhaupt anfangen, wenn | |
| man immer schon etwas angefangen hat? Keine Ahnung.“ | |
| 9 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.ardaudiothek.de/hoerspiel/keine-ahnung-hoerspiel-wissen-macht-p… | |
| [2] /Briefe-von-Sarah-Kirsch-und-Christa-Wolf/!5642720 | |
| [3] /Nachruf-auf-Schriftstellerin-Christa-Wolf/!5106297 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Hubernagel | |
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