| # taz.de -- Neuer Roman von Hannes Stein: Zwischen Heine und Relotius | |
| > Der neue Roman des Journalisten Hannes Stein steckt voller | |
| > Lügengeschichten. Vieles in „Der Weltreporter“ ist unglaublich, vor allem | |
| > das Frauenbild. | |
| Bild: War Bodo überhaupt wirklich an all den Orten, über die er schreibt? | |
| Der Weltreporter ist einer, der zu Hause bleibt. Denn so fantastisch, wie | |
| die Reportagen im gleichnamigen Roman von Hannes Stein erscheinen, können | |
| sie unmöglich wahr sein. Bodo von Unruh, Journalist beim angesehenen | |
| Holzmann’s Weltspiegel, ist den bizarrsten Geschichten auf der Spur. | |
| So stößt er mitten im brasilianischen Dschungel auf ein nachgebautes | |
| München. Die Bayern haben hier ihre Münchener „Rätemonarchie“ verwirklic… | |
| samt Freigeld und einem Nachfahren König Ludwigs. Später reist Bodo nach | |
| Afghanistan und wird von Agenten der sogenannten Eidgenossenschaft | |
| gekidnappt. Mitten im Hindukusch hat ein Verbrecherregime die Schweiz | |
| nachgebaut – mit Kantonen und Gewaltenteilung, aber ohne Banken. | |
| Nicht nur die Reisen sind wunderlich, auch die Zeit, in der „Der | |
| Weltreporter“ spielt, ist eine andere. Im Jahr 2070 etwa grassiert eine | |
| tödliche Krankheit in Deutschland. Die Seuche ist hochansteckend, sodass | |
| die Studierenden im Hörsaal Masken tragen und immer wieder Schnelltests | |
| fällig werden. Stellen wie „Dresden stand jetzt schon seit Wochen unter | |
| Quarantäne“ überliest man heute so schnell, dass man sich kaum vorstellen | |
| kann, dass Stein seinen Roman bereits vor 2020 abgeschlossen haben will. | |
| Das Reisen ist auch im pandemischen 2070 mit erheblichen Schwierigkeiten | |
| verbunden. Frei Grenzen passieren kann nur, wer wie Bodo über einen | |
| orangefarbenen Immunitätsausweis verfügt. Mit Julia, einer etliche Jahre | |
| jüngeren Philosophiestudentin, findet Bodo in seiner neuen Freundin eine | |
| ebenfalls Immune. | |
| Bodo, der Ewiggestrige | |
| Diese Liebesgeschichte ist beinahe das Unglaublichste in Steins Roman. | |
| Julia lässt sich in Sekundenschnelle blenden von diesem weitgereisten | |
| Starreporter, der mit seinem „Walrossschnäuzer“ und maßgeschneiderter | |
| Lederjacke nicht nur seinem Erscheinungsbild nach ein Ewiggestriger ist. | |
| „Als Gentleman ließ Bodo seine Hand einen Moment zu lang an ihrer Hüfte, | |
| sie nahm es lächelnd hin“ – und auch Belehrungen lässt Julia über sich | |
| ergehen. | |
| Bodo, das wird schnell klar, ist ein unangenehmer, großspuriger Typ. Doch | |
| die Sprache Bodos ist die Sprache des Romans, und so durchzieht das Buch | |
| eine altväterliche Grundstimmung, die mitunter schwer zu ertragen ist. Wenn | |
| Bodo die gemeinsame Hotelnacht mit einer Kreditkarte bezahlt, „die so | |
| schwarz war wie die Sünde“, ist das genauso peinlich wie die | |
| Aktbeschreibung selbst. | |
| Frauen sind in Steins Roman sowieso hauptsächlich schön oder gestaltloser | |
| Algorithmus. Hübsche vietnamesische Sekretärinnen oder dunkle Schönheiten | |
| findet Bodo überall, zu Hause vergnügt er sich im Club Aphrodite. „Was für | |
| ein Frauenbild haben Sie überhaupt?“, wird er einmal in einem Verhör | |
| gefragt. | |
| Doch wo hört Bodo auf und fängt der Erzähler an? Bodo, dem die Tränen | |
| kommen, als er im russischen Exil die „Ode an die Freude“ hört, beginnt an | |
| anderer Stelle einen Vortrag mit „Wären wir Deutschen so was wie Muslime“, | |
| woraufhin Julia (beschämt?) die Augen niederschlägt. | |
| Untergang des Abendlandes | |
| Doch auch sie weiß: Die Frau taugt in der muslimischen Kultur lediglich zur | |
| Ehefrau, Schwester, Mutter oder Hure. Ahmed, mit dem sie eine Affäre hat, | |
| stellt sie sich mit seiner zukünftigen verschleierten Frau vor – einer | |
| „Aische oder Fatima oder Suheila“. Aus der Geschichte begründet sich diese | |
| Muslimfeindlichkeit übrigens nicht. Der Untergang des Abendlandes ist | |
| selbstverschuldet und kommt nicht als Houellebecq’sche Überfremdung daher. | |
| Während die Liebesgeschichte zwischen Bodo und Julia in Gang kommt, werden | |
| die Reportagen immer schlechter. Spätestens als Bodo auf dem Mount Everest | |
| einen Yeti trifft und eine rechtsextreme Vampirfamilie besucht, hat man | |
| verstanden: Die Welt geht vor die Hunde – und Deutschland, rechtsnational | |
| regiert und auf dem Weg zur Atommacht, erst recht. | |
| Trauriger Höhepunkt von „Der Weltreporter“ ist die Episode um den längst | |
| verstorbenen 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten. Wie dieser bei Stein | |
| seine blonde Tochter begrapscht und schließlich verblödet an der Syphilis | |
| stirbt, ist nur noch unappetitlich. | |
| Dabei sind die ersten Reisen wirklich spannend und „Der Weltreporter“ hätte | |
| ohne die unangenehme Liebesgeschichte gut als märchenhafter Essayband | |
| funktionieren können. Stein ist bekennender Fan von literarischen | |
| Reportagen und – selbst Journalist – versteht sein Handwerk. | |
| Referentiell angesiedelt irgendwo zwischen Märchen aus Fern- wie Nahost, | |
| der Fantastik Jules Vernes und romantischen Heine-Reportagen, wollte Stein | |
| womöglich schlicht zu viele Einflüsse zu seinem Erzählteppich verweben, auf | |
| dem die Geschichte nun eher schlingernd entschwebt. Fantasy oder Reportage, | |
| Roman oder Essay – manchmal lohnt es sich, die Genregrenzen anzuerkennen | |
| und die Münchhausens wie Relotius dieser Welt aus der Literatur | |
| herauszuhalten. | |
| 17 May 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Hubernagel | |
| ## TAGS | |
| Buch | |
| Roman | |
| Reportage | |
| Kolumne Flimmern und Rauschen | |
| NS-Verfolgte | |
| Berlin | |
| Theater | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| 75 Jahre der Spiegel: Auf dem Klo liegt kein Magazin mehr | |
| Anlässlich zum Spiegel – Jubiläum fragt sich unser Autor, was eigentlich an | |
| all der Kritik dran ist. Und was in der Vergangenheit so los war. | |
| Aufarbeitung der NS-Zeit: „Euthanasie“-Opfer anerkennen | |
| Die Grünen stellen einen Antrag zur Anerkennung der Verbrechen während der | |
| NS-Zeit. Beteiligten Ärzt:innen drohten kaum Konsequenzen. | |
| Umgestaltung des Alexanderplatzes: Kein Werk der SED | |
| Aufhalten möchte sich am Berliner Alexanderplatz kaum jemand. Nun soll der | |
| südliche Teil umgestaltet und Besucher:innen-freundlicher werden. | |
| Nele Stuhlers Buch über das Nichtwissen: Das Keine-Ahnung-Problem | |
| Wissen ist Macht, Nichtwissen peinlich. Nele Stuhler hat mit „Keine Ahnung“ | |
| ein gedankenreich verwirrendes Buch über das Nichtwissen geschrieben. |