# taz.de -- Nachruf auf Schriftstellerin Christa Wolf: Aus der Geschichte lernen | |
> Darum war es immer gegangen in der Literatur Christa Wolfs wie auch in | |
> ihrem Leben: bestehende Verhältnisse zu verändern - und sie zu bessern. | |
Bild: Christa Wolf bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises am 26.1.1978. | |
Gerade sinnierte man noch darüber, wie es wohl geschehen konnte, dass es | |
inzwischen die 80-Jährigen sind, deren Einlassungen zum Zustand der | |
Republik, Europas oder des Glaubens öffentlich am meisten Gehör finden: | |
Jürgen Habermas, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser. | |
Nur eine Stimme fehlte auffallend in diesem Gegenwartskonzert, obwohl es | |
doch einmal so etwas wie deren Markenzeichen gewesen war, sich zur Lage der | |
Nation zu äußern, zu mahnen und zu warnen: Das war die Stimme Christa | |
Wolfs. | |
Es sah so aus, als sei Christa Wolf unter den deutschen Autoren von | |
Weltrang in ihrer Generation die Einzige, die sich die Kämpfe um die Rolle | |
der Intellektuellen und Schriftsteller vom Ende der achtziger Jahre zu | |
Herzen genommen und daraus im Stillschweigen ihre Konsequenz gezogen hatte: | |
Dies war nicht mehr ihre Welt, hier gab es für sie nichts mehr zu bewegen. | |
Aber ihr Schweigen hinterließ eine Leerstelle. Darum aber war es doch immer | |
gegangen im Leben Christa Wolfs wie in ihrer Literatur: bestehende | |
Verhältnisse zu verändern - und sie zu bessern natürlich. Geboren am 18. | |
März 1929 in Landsberg an der Warthe, dem heutigen Gorzów Wielkopolski, | |
konnte sie sich mit einigem Recht als eine typische Vertreterin ihrer | |
Generation sehen, in ihrem, dem östlichen Teil der Welt wenigstens: | |
BDM-Mädel, dann Flüchtling, Studium bei dem großen Germanisten Hans Mayer | |
in Leipzig, 1949 bereits Eintritt in die SED. | |
## Frage nach den Brüchen im Dasein | |
Eine ihrer eindrucksvollsten frühen Erzählungen, "Blickwechsel", hält den | |
historischen Augenblick fest, in dem ein junges Mädchen noch auf der Flucht | |
plötzlich begreift, aus was für einer Welt sie kommt und mit was für einer | |
Bürde sie in die neue Zeit aufbricht: "Wo habt ihr bloß alle gelebt?", | |
fragt ein KZ-Überlebender. Es ist die Frage, aus der das weitere, im | |
weitesten wie im engeren Sinne politische Engagement Christa Wolfs sich | |
speist - und damit nicht zuletzt eben auch ihre Literatur. | |
Wer ihrem umfangreichen, aus Romanen, Novellen, Erzählungen, Drehbüchern, | |
Essays und Tagebuchveröffentlichungen bestehenden Werk folgt, von der | |
"Moskauer Novelle" (1960) bis zum letzten dickleibigen Roman "Die Stadt der | |
Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" (2010), der besichtigt dabei wie | |
unversehens auch fünfzig Jahre deutscher Geschichte. Nicht zum Wenigsten | |
aber nimmt er teil an dem Versuch, aus verbrecherischer Geschichte zu | |
lernen, der zur Verwicklung in eine andere Art von Verbrechen in einer | |
anderen deutschen Diktatur führt. | |
Welche Folgen das zunehmend unabweisbare Bewusstsein darüber für einen | |
Menschen haben kann, davon erzählen die Romane seit den neunziger Jahren. | |
Genau dieses Moment aber: dass Christa Wolf - mit Ausnahme ihres ersten | |
Romans - nicht bereit war, die jeweiligen Verhältnisse und deren Doktrinen | |
in ihrem literarischen Werk in freundlichen Farben auszupinseln, sondern | |
stets nach den Brüchen fragte, die das Dasein in bestimmten | |
gesellschaftlichen Verhältnissen für den Einzelnen mit sich bringt, brachte | |
ihr seit ihrem Roman mit dem sprichwörtlich gewordenen Titel "Der geteilte | |
Himmel" (1963) auch eine stetig wachsende Leserschaft im Westen ein. | |
Umgekehrt hielt die zunehmend international gefragte Autorin auch | |
ihrerseits Kontakt zu dortigen Debatten, die sich wiederum in ihrem Werk | |
niederschlugen: der Feminismus, ausgeprägt in "Kassandra" (1983), die | |
Anti-Atom-Bewegung nach Tschernobyl in "Störfall" (1987). Auf diese Weise | |
wurde sie während der achtziger Jahre zu einer gesamtdeutschen Autorin, | |
lange bevor der Zusammenbruch der DDR die politische deutsche Einheit | |
ermöglichte. | |
## Symbolisch gestürztes nationales Kulturdenkmal | |
Dass dieser historische Akt zugleich das Ende der supranationalen | |
Repräsentationsfigur Christa Wolf bedeutete, dass sie in der heftigen | |
Kontroverse um ihr nach der Wende veröffentlichtes Prosastück "Was bleibt" | |
(1990) für ebendas "Staatsdichtertum" abgestraft wurde, für das sie | |
jahrzehntelang zuvor belobigt und in einigen Kreisen nahezu kultisch | |
verehrt worden war, es muss ihr anfangs wie die simple Rache der "Sieger | |
der Geschichte" erschienen sein. | |
Als Anfang der neunziger Jahre dann noch ihre Stasiakte an die | |
Öffentlichkeit kam, ohne dass ihre ebenso wahre Geschichte als Opfer der | |
Aktivitäten des Staatssicherheitsdienstes noch näher in Betracht gezogen | |
worden wäre, war perfekt, was ihr Freund Max Frisch ihr während des ersten | |
Debatten-Zyklus bereits vorausgesagt hatte: Das nationale Kulturdenkmal | |
Christa Wolf war symbolisch gestürzt. | |
Wer aus der Geschichte lernen wollte, hier hätte er abermals Gelegenheit zu | |
beobachten, wie ein unter bestimmten historischen Bedingungen entstandenes | |
öffentliches Rollenkonzept, das Autoren an politische Entwicklungen band, | |
historisch auch wieder unter die Räder kommt. | |
Was aber bleibt, nachdem der Pulverdampf der Feuilletondebatten sich | |
endgültig verzogen hat, ist ein literarisches Werk, das uns - in meist hoch | |
musikalischer, mitunter aber auch leicht sentimentaler Prosa - unsere | |
eigene Geschichte erzählt. Und was zudem bleibt, ist der Eindruck eines | |
Menschen, der bis in seine letzten Veröffentlichungen hinein versuchte, | |
sich selbst in seiner Zeit infrage zu stellen und so seine Würde zu wahren. | |
Ein Lebenswerk, das unsere höchste Achtung verdient. | |
1 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Frauke Meyer-Gosau | |
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