# taz.de -- Danke, Christa Wolf!: Vergiss das nicht | |
> Am 4. November 1989 überraschte Christa Wolf die Massen auf dem | |
> Alexanderplatz mit einem Witz: "Vorschlag für den Ersten Mai: Die Führung | |
> zieht am Volk vorbei". | |
Bild: Christa Wolf am 4.11.1989 während der Protestdemonstration am Alexanderp… | |
"Oft dachte ich: Dies mitzuerleben ist nicht hoch genug zu schätzen. Dafür | |
hat es sich gelohnt, hiergeblieben zu sein: Die unverfälschte, pure, | |
schmerzhafte Realität. Oft, oft sage ich mir: Vergiss das nicht!" Christa | |
Wolf notiert diese Sätze für ihr Tagebuchprojekt "Ein Tag im Jahr". | |
An jenem Donnerstag, dem 27. September 1990, fällt ihr das Erzählen schwer. | |
Fast ein Jahr ist seit jenen Wochen vergangen, die wir heute Wende nennen - | |
ein Begriff, den Wolf verabscheut. Eine Woche später, am 3. Oktober, würde | |
unter gellendem Nationalgetöse die DDR mit der BRD verheiratet werden. Dass | |
das so, mit ihr selbst als Akteurin, passiert war, wunderte Christa Wolf. | |
Deshalb die Selbstermunterung: "Vergiss das nicht!" | |
Eine knappes Jahr zuvor war ich eine von einer Million, die Christa Wolfs | |
Rede auf dem Ostberliner Alexanderplatz hörten. Die Frau, deren "Kassandra" | |
ich einem Westberliner Freund aus der Manteltasche geklaut hatte, deren | |
"Nachdenken über Christa T." mich in eine realsozialistische | |
Lebensmüdigkeit geworfen hatte - diese in meiner Wahrnehmung traurige Frau | |
trat nun auf die Tribüne. | |
Und sagte plötzlich Sachen, die ich in dieser Schlichtheit und Gewitztheit | |
nicht von ihr erwartete: "Die Sprache springt aus dem Ämter- und | |
Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war, und erinnert sich | |
ihrer Gefühlswörter", rief sie. Ja, dachte ich: Gefühle! Endlich! | |
Der Wind zerrte an ihrem Trenchcoat, ihre dunkle Stimme ergoss sich in | |
verzerrten Schallwellen über den Alex. "Zu Huldigungsvorbeizügen, | |
verordneten Manifestationen werden wir keine Zeit mehr haben", sagte | |
Christa Wolf. "Dieses ist eine Demo, genehmigt, gewaltlos. Wenn sie so | |
bleibt, bis zum Schluss, wissen wir wieder mehr über das, was wir können, | |
und darauf bestehen wir dann: Vorschlag für den Ersten Mai: Die Führung | |
zieht am Volk vorbei." | |
## Enttarnung als Stasi-IM | |
In der Zeit danach geriet mir Christa Wolf aus dem Blick. Ich registrierte, | |
dass sie Ende November 1990 den Künstleraufruf "Für unser Land" | |
mitunterzeichnete. Auch, dass sie im April 1990 die Präambel eines | |
DDR-Verfassungsentwurfs für den "Runden Tisch" verfasste. Und ich bekam am | |
Rande mit, dass Wolf Anfang der Neunziger als Stasi-IM enttarnt wurde. | |
Ich war mit anderem beschäftigt. Es gab Margaret Atwood zu entdecken, den | |
kompletten John Irving. Philip Roth erschien auf der Bühne meines Lebens, | |
die ungekürzten, endlich zu begreifenden Tagebücher Brigitte Reimanns. | |
Alles Erlebnisse, die nicht nur reich an Sprache und Gefühl machten - | |
sondern immer auch die bittere Erkenntnis beinhalteten, was die | |
Gedankenpolizei uns alles vorenthalten hatte. | |
Als 2003 Christa Wolfs Tagebuchprojekt "Ein Tag im Jahr" erschien, kaufte | |
ich es mir. Ich las es atemlos. Die ganzen 640 Seiten, Jahr um Jahr. | |
Christa Wolf brachte mich an jenen Ort zurück, von dem ich komme. In unser | |
Leben. In diesen komplizierten, paranoiden, utopischen | |
Gesellschaftsentwurf, der sich selbst erledigte. | |
Am Ende brauchte es Mutige wie Christa Wolf, die ihn mit Worten verjagten. | |
"Wir - sind - das - Volk!", rief sie in diesen trüben Novembertag 1989. | |
"Eine schlichte Feststellung. Die wollen wir nicht vergessen." Nein, das | |
wollen wir nicht. Danke, Christa Wolf. | |
1 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
## TAGS | |
Literatur | |
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