| # taz.de -- Trauerfeier für Christa Wolf: Quälende Wahrhaftigkeit | |
| > Der Pfarrer aus Brandenburg, die Lehrerin aus Köln: Trotz eisigen Regens | |
| > kamen hunderte Verehrer zur Beerdigung von Christa Wolf nach Berlin. Ein | |
| > Ortstermin. | |
| Bild: Beisetzung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. | |
| BERLIN taz | Pünktlich zu Beginn der Zeremonie ging es mit dem eisigen | |
| Regen los. Das passte ganz gut. Es passte zu Christa Wolf, der großen | |
| Zweiflerin, die sich vielen Widrigkeiten gestellt hat und damit zur | |
| gesamtdeutschen Autorin wurde, die bis heute von vielen geliebt wird, auch | |
| von Jüngeren. | |
| Es passte aber auch zu Christa Wolfs Lesern, die, wenn auch nicht wie | |
| erwartet zu Tausenden, so doch zu Hunderten gekommen waren - und auch dann | |
| noch blieben, als ihre Lippen langsam blauer wurden und als ihnen das | |
| Wasser an der Nase herunterlief. Sie waren hier, um, koste es, was es | |
| wolle, von einer Ära Abschied zu nehmen, von der meistverehrten Figur der | |
| deutschen Nachkriegsliteratur. | |
| Christa Wolfs Bücher zu lesen, das war nie nur erbaulich. Es war auch oft | |
| eine Zumutung, erinnert sich etwa Barbara Fischer, die schon früh gekommen | |
| ist und sich einen schönen Platz auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof im | |
| Berliner Stadtteil Mitte ergattert hat, mit Blick auf die kleine Kapelle, | |
| wo nur vierzig Leute hineinpassen, nur die Familie und die engsten Freunde | |
| der Autorin, die am 1. Dezember mit Alter von 82 Jahren gestorben ist. | |
| Früher, als sie noch Lehrerin war, ließ Barbara Fischer ihre Schüler im | |
| Deutschunterricht "Kassandra" lesen, jene Pflichtlektüre der Frauen- und | |
| Friedensbewegung, die Anfang der Achtziger im Westen Furore machte wie im | |
| Osten. "Viele habe ich zu Fans gemacht, vor allem viele Schülerinnen", | |
| berichtet sie stolz. "Aber auch manche Jungs", fügt sie an, "bissen sich | |
| tapfer durch." | |
| ## "Authentisch, nachdenklich, warm" | |
| Schon als Barbara Fischer noch in Köln lebte, ist sie hin und wieder extra | |
| zum Geburtstag von Christa Wolf nach Berlin gereist und hat ihre Lesungen | |
| in der Akademie der Künste besucht. "Ihre Zerrissenheit wurde oft politisch | |
| interpretiert, aber mich hat ihre Zerrissenheit vor allem als Frau | |
| angesprochen", sagt sie und zieht sich zum Schutz vor den ersten Tropfen | |
| die Kapuze über den Kopf. Auch Ursula Krüger, ihre Freundin, mit der | |
| Barbara Fischer heute hier ist, tritt vom einen Bein aufs andere. | |
| Sie war "authentisch, nachdenklich, warm und mütterlich", meinen die beiden | |
| und lächeln - eine Schriftstellerin für Frauen. "Unsinn", stellt sich Karl | |
| Hennig dazu, der ebenfalls aus Köln kommt und pensionierter Lehrer ist. | |
| "Ich habe Ende der Siebziger einen Christa-Wolf-Lesekreis gegründet, und | |
| wir waren genauso viele Männer wie Frauen", sagt er. | |
| Inzwischen spannen die ersten Menschen ihre Regenschirme auf, auch die in | |
| der langen Schlange vor den Kondolenzbüchern. Ein paar bekannte Gesichter | |
| sind aufgetaucht: Gesine Lötzsch, Petra Pau und Gregor Gysi, die | |
| Schriftsteller Annett Gröschner und Uwe Timm. | |
| ## Flucht und Vertreibung in der DDR kein Thema | |
| "Christa Wolfs Verletzlichkeit, die hat uns tief berührt", erzählen | |
| Christian und Mechthild Löhr, die extra aus Brandenburg angereist sind. | |
| Christian Löhr war Pfarrer. Für ihn, der bei seiner Gemeinde bleiben wollte | |
| und das System, in dem er lebte, von innen heraus verändern, war es | |
| wichtig, dass eine wie Christa Wolf ebenfalls blieb. Das erste Buch, das er | |
| von ihr gelesen hat, war ihr viertes: "Kindheitsmuster" aus dem Jahr 1976. | |
| "Meine Eltern kamen aus Schlesien", erklärt er, und in der DDR waren Flucht | |
| und Vertreibung kein Thema. "Sie hat immer ganz genau hingeguckt", sagt er. | |
| "Das war unheimlich wichtig für uns", ergänzt ihn seine Frau. "Ihre | |
| Sorgfalt des Erinnerns, ihre fast quälende Wahrhaftigkeit - das ist es, | |
| warum wir heute hier sind", sagt sie und spricht dann noch eine ganze Weile | |
| von der ungerechten Demontage der Christa Wolf durch das westdeutsche | |
| Feuilleton Anfang der Neunziger und wie sie diese durch ihre Ehrlichkeit | |
| geradezu angezogen habe. | |
| ## Tränen in den Augen | |
| Man könnte Mechthild Löhr lang zuhören, aber es sind ja so viele Leute da, | |
| auch viele jüngere. Elisa Rosi zum Beispiel, eine junge Italienerin und | |
| Filmwissenschaftlerin mit einem strahlenden Lächeln, die sich nicht | |
| fotografieren lassen will. | |
| Sie hat Tränen in den Augen, als sie vom Gespräch erzählt, dass sie vor ein | |
| paar Jahren mit Christa Wolf führen durfte. Damals schrieb sie ihre | |
| Magisterarbeit über einem Film, der von Christa Wolf und ihrem Mann Gerhard | |
| Wolf handelt und damals, in der DDR der sechziger Jahre, nicht zu Ende | |
| gedreht werden durfte. "Sie waren so unheimlich nett", sagt Elisa Rosi, die | |
| sehr viele Bücher von Christa Wolf gelesen hat. | |
| "Sie war so integer", sagen auch Steffi und David, ein Studentenpaar aus | |
| Ostberlin, das weder Nachnamen noch Foto in der Zeitung erlaubt. Auch sie | |
| bewundern die starken Frauenfiguren in Christa Wolfs Büchern, auch sie | |
| bewundern es, wie schwer Christa Wolf es sich immer gemacht hat. Aber dann | |
| bitten sie darum, in Ruhe gelassen zu werden, denn dann beginnen die Reden | |
| in der Kapelle, die auf dem Friedhof über Lautsprecher übertragen werden. | |
| Wer Christa Wolf war - Großschriftstellerin und Großfamilienvorstand, | |
| Repräsentantin und Privatperson -, zeigten die beiden Trauerreden. Volker | |
| Braun, der 1939 geborene Schriftstellerkollege, drückte seine Trauer so | |
| aus, wie man das tut, wenn man an allen klassischen rhetorischen Formen | |
| geschult ist: "Wer sie ist, das wollte sie immer wissen. Das Kaufmannskind | |
| von der Warthe, die sesshafte Autorin an der Spree. Sie musste danach | |
| fragen in der Zeit des Kriegs, der Flucht, in Aufbauepochen und | |
| Abrissjahren." Das war, an diesem verregneten Tag, auf Berlins berühmtestem | |
| Friedhof, die Suche nach dem ganz hohen Ton. | |
| An anderer Stelle zitiert Braun Paul Flemings Gedicht aus dem 17. | |
| Jahrhundert, das in Christa Wolf letztem Buch "Stadt der Engel" eine Rolle | |
| spielt und auf der Trauerfeier bereits von ihrer Verlegerin, | |
| Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz, vorgetragen worden war: "Nimm dein | |
| Verhängnis an. Lass alles unbereut". Von da aus fragt Braun: "In welchem | |
| Spannungsfeld stand sie", um die Frage selbst groß und schwer zu | |
| beantworten: "In dem gespaltenen Land, der zerrissenen Menschheit, zwischen | |
| Tat und Enttäuschung. Der selbstgewisse Westen war nicht die Alternative." | |
| Und gegen Ende der Rede umgibt er die Verstorbene mit mythischen Figuren: | |
| "Die Gestalten, die sie heraufrief, Kassandra, Medea, umstehn sie wie | |
| Schwestern, ein Schutzengelgeschwader. Sie haben alle ihre Gestalt. Sie | |
| geht nun selbst in den Mythos ein." So leicht hat sich Christa Wolf selbst | |
| nicht aus der Beschäftigung mit der deutsch-deutschen Vergangenheit und | |
| Gegenwart entlassen. | |
| ## Witzig und selbstironisch | |
| Ganz anders als Volker Braun dann Jana Simon, die Autorin, Journalistin und | |
| 1972 geborene Enkelin Christa Wolfs. Sie erzählt von den fröhlichen | |
| Familienfeiern, erwähnt, dass Gerhard Wolf seiner kranken Frau bis zuletzt | |
| täglich eine Suppe kochte und ihre Großmutter sie besorgt gefragt habe: | |
| "Koch ihr euch eigentlich auch manchmal was?" | |
| Jana Simon beschrieb ihre Großmutter als "witzige, selbstironische" Frau, | |
| die eine "gut gemixten Margarita" geschätzt habe. Die Schwere der Kämpfe, | |
| in denen sie sich aus politischen Gründen mit Freunden überworfen habe, sei | |
| von den Enkeln aber kaum zu begreifen gewesen - auch wenn durchaus Neid auf | |
| die "Existenzialität" dieser Kämpfe da sei. Schließlich ließ Jana Simon | |
| anklingen, dass mit Christa Wolf auch ein Stück klassischer | |
| Bildungsbürgerlichkeit beerdigt wird: "Eure Wohnung: ein Wehr gegen die | |
| Anfechtungen der Gegenwart - eine Welt, die es bald nicht mehr geben wird | |
| und in der Dummheit das schlimmste Schimpfwort ist." | |
| Und dann öffnen sich die Türen der Kapelle, hinterm Sarg laufen ein ernst | |
| blickender, aber aufrechter Gerhard Wolf, Christa Wolfs Kinder, Enkel und | |
| ihre Urenkelin, ihre Verlegerin, Günter Grass, Wolfgang Thierse, Friedrich | |
| Schorlemmer. Der Weg zu ihrem Grab ist nicht weit. | |
| Nun liegt Christa Wolf repräsentativ, in prominenter Nachbarschaft von Bert | |
| Brecht und Heiner Müller, Stephan Hermlin und Thomas Brasch. Das ist schön, | |
| aber auch ein bisschen schade. Denn es hätte ganz gut zu ihr gepasst, wenn | |
| sie größere Ruhe bekommen hätte. Zum Beispiel auf ihrem Landsitz. Direkt | |
| unterm Kirschbaum, auf den sie angeblich blicken wollte, als sie im Sterben | |
| lag. | |
| 13 Dec 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| D. Knipphals | |
| S. Messmer | |
| ## TAGS | |
| DDR | |
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