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# taz.de -- Neonazis und organisierte Kriminalität: Drogen, Nazis, ein Bordell
> Sie nennen sich Turonen. Jahrelang blieben sie ungestört. Jetzt sitzen
> acht in Haft. Die Vorwürfe gegen die Truppe: Drogenhandel und Geldwäsche.
Bild: Razzia bei Thomas W. im Februar. Innenminister Georg Maier lässt sich de…
Einen Monat noch, dann wird Kerstin Schmitz Thomas W. wieder gegenüber
sitzen. Zusammen mit 14 Mitbeschuldigten wird der tätowierte und kräftige
Mittvierziger auf der Anklagebank des Erfurter Landgerichts Platz nehmen.
Und Kerstin Schmitz wird es auf der Zeugenbank tun. So, wie sie es schon
einmal tat, beim ersten Prozess gegen die Truppe um diesen Thomas W.
Nur gibt es dieses Mal einen gewichtigen Unterschied: Der notorische
Neonazi kann nicht auf freiem Fuß in den Gerichtssaal schlendern. Er wird
in Handschellen vorgeführt werden und kommt direkt aus einer
Gefängniszelle. Für Kerstin Schmitz wird das eine kleine Genugtuung sein,
endlich.
Und dann wird es wieder um den Angriff vor gut sieben Jahren gehen. Am 9.
Februar 2014 überfällt Thomas W. mit seinen Kameraden die Mitglieder einer
Kirmesgesellschaft, darunter Kerstin Schmitz. Der Verein organisiert ein
traditionelles Volksfest in [1][Ballstädt], einem Ort mit gut 650
Einwohner:innen in der Nähe von Gotha im Thüringischen. Eine alte
Kirche gibt es dort, die Reste eines Ritterguts, einen Konsum, den
Lindengrill und ein Pflegeheim. Und dann noch das sogenannte Gelbe Haus.
In der früheren Bäckerei lebt schon seit 2013 Thomas W. zusammen mit drei
Gesinnungsgenossen in einer Wohngemeinschaft.
## Schlagen und Treten bis zur Bewusstlosigkeit
An dem Februartag im Jahr 2014 feiern Kerstin Schmitz und ihre Freunde
gleich gegenüber im Kulturzentrum spät abends ein Dankesfest nach der
alljährlichen Kirmes – bis Thomas W. plötzlich, vermummt mit einem
Totenkopftuch, in den Saal stürmt. Wer die Fensterscheibe im Gelben Haus
eingeworfen habe, brüllt er. Dann schlägt W., ausgestattet mit
Schlaghandschuhen, auf die Anwesenden ein. Er ruft ein gutes Dutzend
weiterer Rechtsextremer in den Saal. Die schlagen und treten ebenso zu,
auch noch als Opfer bereits bewusstlos am Boden liegen.
Kerstin Schmitz kann sich in einen Nebenraum retten und die Polizei
alarmieren, sie bleibt unverletzt. Nur zwei Minuten dauert der Angriff,
dann stürmen die Neonazis wieder nach draußen, ins Gelbe Haus. Im
Kulturzentrum bleiben Scherben zurück, zerschlagenes Mobiliar, Blutlachen.
Und zehn teils schwer verletzte Menschen mit Platzwunden, Knochenbrüchen
und einem eingerissenen Ohr.
„So eine Gewalt kannten wir nicht“, sagt Kerstin Schmitz. „Die haben Tote
in Kauf genommen. Die wussten, was sie taten.“ Thomas W. aber bleibt
damals, nach einer kurzen Untersuchungshaft, auf freiem Fuß, wohnt weiter
im Gelben Haus, schlendert mit seinen Hunden durchs Dorf. Und baut,
zusammen mit mehreren der jetzt Beschuldigten, eine rechtsextreme
Rockertruppe auf. Sie nennen sich erst Bruderschaft Thüringen, dann,
angelehnt an einen germanischen Stamm, die Turonen. Dazu gibt es einen
Ableger, die „Garde 20“, abgeleitet vom 20. Buchstaben des Alphabets, dem
„T“. Kerstin Schmitz verfolgt die Entwicklung fassungslos. „Vom Staat
fühlte sich keiner von denen beeindruckt. Die Nazis machen, was sie
wollen.“
Bis der Staat doch noch vor der Tür der Turonen steht. Das geschieht vor
fünf Wochen, am 26. Februar dieses Jahres. [2][Spezialkräfte der Polizei]
steigen im Morgengrauen über ein Fenster im ersten Stock ins Gelbe Haus
ein. Sie verhaften Thomas W., der laut Beobachtern einen Zusammenbruch
erleidet. Parallel nimmt die Polizei sechs weitere Beschuldigte fest, 24
bis 55 Jahre alt, darunter die Lebensgefährtin und Cousine von Thomas W.
und zwei weitere für den Ballstädt-Überfall Beschuldigte, Rocco B. und
André K. Und auch ein prominenter Szeneanwalt findet sich unter den
Inhaftierten: Dirk Waldschmidt, kurzzeitig Verteidiger des Lübcke-Mörders
Stephan Ernst.
Ermittelt wird zudem gegen 13 weitere Beschuldigte. Beschlagnahmt werden
ein Kilo Crystal Meth und Kokain, 130.000 Euro in bar, mehrere Langwaffen
sowie Immobilien und Sachwerte wie Schankanlagen im Wert von 350.000 Euro.
Als Beifang nimmt die Polizei zwei Personen fest, bei einer wurden größere
Mengen Crystal Meth gefunden, bei der anderen lag ein offener Haftbefehl in
anderer Sache vor.
Mehr als 500 Beamte rücken an diesem Tag auf Geheiß der Staatsanwaltschaft
Gera aus, der Polizeieinsatz ist seit Monaten vorbereitet. Der Vorwurf
lautet dieses Mal nicht auf Begehung von Gewaltverbrechen, sondern
Organisierte Kriminalität: Thomas W. und die anderen Beschuldigten sollen
im großen Stil Drogen verkauft und ein Bordell betrieben haben. Gut 50
Fälle von bandenmäßigem Rauschgifthandel und 40 Fälle von Geldwäsche wollen
ihnen die Ermittler nachweisen.
## Ein schwerer Schlag für die Turonen
„Die Festnahmen waren für uns natürlich ein Stück Erleichterung“, sagt
Kerstin Schmitz. Die junge Frau sitzt Anfang April in ihrem Büro in Gotha,
nippt an einem Tee, redet ruhig und gefasst. Schmitz trägt eigentlich einen
anderen Namen, will diesen aber nicht in der Zeitung lesen oder anderweitig
erkannt werden. Sie hat Angst, bis heute, auch wenn sie inzwischen
weggezogen ist aus Ballstädt. Wöchentlich fährt sie aber weiter in das
Dorf.
Es habe dort zuletzt keine direkten Konfrontationen mit Thomas W. und den
anderen Nazis mehr gegeben, sagt Schmitz. „Aber sie waren weiter da, gingen
mit ihren Hunden spazieren, gaben sich sehr selbstbewusst. Die
Bushaltestelle liegt genau vor ihrer Tür. Da war immer eine Anspannung,
wenn man ihnen über den Weg lief.“ Und die Neonazis hätten auch in den
Jahren nach dem Angriff weiter bei der Kirmes provoziert. Heute Abend käme
man wieder, hätten sie gedroht. Sie seien nicht gekommen – aber die Angst
sei geblieben.
Nun aber sitzen Thomas W. und seine Kumpanen in Haft. Es ist der erste
schwere Schlag gegen seine Turonen. Rund 30 Mitglieder rechnet ihnen der
Verfassungsschutz zu. Etliche fielen mit Straftaten auf, saßen schon im
Gefängnis, spielen in Szenebands, gelten als Sympathisanten der radikalen
Combat-18- und Blood&Honour-Netzwerke. Immer wieder organisiert die Gruppe
Konzerte, darunter das bislang größte Rechtsrockfestival in Deutschland,
2017 in Themar mit rund 6.000 Neonazis. Die Gruppe ist vernetzt bis ins
Ausland, stellte 2016 auch in der Schweiz ein Großkonzert auf die Beine und
soll allein dort 150.000 Euro verdient haben. Und ihre Mitglieder halten
Kontakt zu den beiden engsten Helfern der NSU-Mörder: Ralf Wohlleben und
André Eminger.
Und nun organisierten sie offenbar auch noch ein Drogennetzwerk.
Es ist ein Vorwurf, der schwer wiegt – umso mehr für Anhänger der
rechtsextremen Szene, in der Drogen als verpönt gelten. „Geld beschaffen
ist ja schön und gut, aber nicht mit dem, was die gemacht haben“, heißt es
nach den Festnahmen prompt in einem Neonazi-Forum. Andere appellieren:
„Erst mal abwarten, was da wirklich dran ist.“
Der Schlag der Polizei kommt für Lokalpolitiker in der Region überraschend.
Ein Sprecher von Gothas Bürgermeister Knut Kreuch (SPD) beteuert: „Der
Einsatz hat uns völlig überrascht. Von dem Drogenhandel war uns nichts
bekannt. Das war hier kein Gesprächsthema.“ Ballstädts Bürgermeister Horst
Dünkel, ein freundlicher CDU-Mann, bekam ebenfalls nichts davon mit. „Das
hat hier keiner gewusst“, sagt er bei einem Gespräch an seinem Gartenzaun.
„Mit den Rechtsextremen hat im Dorf keiner was zu tun.“
Auch Kerstin Schmitz wusste von den Drogengeschäften nichts. Aber sie hatte
eine Ahnung. Denn immer wieder hätten Autos mit fremden Kennzeichen vor dem
Gelben Haus gestanden, auch aus dem Ausland. „Und die Nazis sind so
skrupellos, da hatten wir so was schon mal vermutet.“
Andere hatten das kriminelle Treiben der Turonen durchaus genauer im Blick.
Antifa-Aktivisten aus dem benachbarten Gotha etwa, die früh auf neue
Trefforte der Turonen aufmerksam wurden und warnten: „Die spielen hier
Mafia.“ Oder die Linken-Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss, die
schon seit Jahren Parlamentsanfragen zu der Gruppe stellt und bereits vor
den Festnahmen warnte, dass die Turonen „längst mit der Organisierten
Kriminalität verschmelzen“. Und auch die Sicherheitsbehörden ermittelten
seit einem Jahr wegen der Drogenvorwürfe gegen die Turonen – nachdem der
Verfassungsschutz durch abgehörte Telefonate auf die Geschäfte gestoßen war
und sie dem LKA meldete.
## Thomas W., der Hauptbeschuldigte
Thomas W. gilt nun als Hauptbeschuldigter. Der Mittvierziger kommt aus
Gotha, einen Beruf erlernte er nie. Schon als Jugendlicher wird er Teil der
rechtsextremen Szene – und landet immer wieder vor Gericht. Mal lautet der
Vorwurf Diebstahl, mal Nötigung, Androhen von Straftaten oder das Zeigen
von verfassungswidrigen Kennzeichen. Mehr als 25 Verurteilungen sammelt W.
über die Jahre und Tausende Euro an Geldstrafen. Ende der Neunziger wandert
er erstmals ins Gefängnis und holt dort seinen Realschulabschluss nach.
Als Thomas W. freikommt, wird er sofort wieder in der Szene aktiv. Er baut
ein Tonstudio auf, in dem Musik für die Szene produziert wird, gründet ein
Musiklabel. Er selbst spielt als Schlagzeuger in Bands, die „Treueorden“
oder „Sonderkommando Dirlewanger“ heißen und Lieder namens „Führer Adol…
oder „Final Race War“ veröffentlichen. Im Jahr 2013 zieht Thomas W.
schließlich nach Ballstädt – und überfällt dort wenige Monate später die
Kirmesgesellschaft.
Vom Erfurter Landgericht wird er dafür im Mai 2017 zu dreieinhalb Jahren
Haft verurteilt, die höchste der erteilten Strafen. Mitgeschnittene
Telefonate des Verfassungsschutzes tragen zu seiner Überführung bei. Zudem
hatten Zeugen die Angreifer ins Gelbe Haus rennen sehen. Kerstin Schmitz
schildert vor Gericht die brutale Gewalt. Thomas W. gesteht schließlich
seine Beteiligung, ein Mitangeklagter packt noch weiter aus. Die anderen
Beschuldigten üben sich in Provokationen: Sie marschieren mit Szenekleidung
in den Saal, präsentieren Tattoos wie „Ran an den Feind“ oder tun so, als
ob sie schlafen. Zehn von ihnen werden am Ende verurteilt, vier erhalten
mangels Beweisen Freisprüche.
Die Verurteilten aber gehen gegen das Urteil in Revision und bleiben
dadurch vorerst in Freiheit. Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil im Mai
2020 tatsächlich wegen Formfehlern auf und ordnet eine Neuverhandlung an.
„Das war ein Schock“, sagt Kerstin Schmitz. „Und hat die Nazis nur noch
mehr bestärkt.“
## Das Geschäftsmodell der Turoren
Tatsächlich baut Thomas W. schon während des Prozesses unbeeindruckt seine
Turonen auf. Fotos zeigen ihn zusammen mit anderen Gesinnungsgenossen in
schwarzen Lederkutten mit dem Gruppenlogo, einer Rockertruppe gleich. Auf
den Konzerten stellen sie die Security. Die Einnahmen für das Schweizer
Großkonzert in Unterwasser laufen über ein Thüringer Konto, der Name eines
der Mitorganisatoren steht heute am Briefkasten des Gelben Hauses. Beim
Konzert in Themar taucht auch ein Bekannter auf: [3][André Eminger], der
dem untergetauchten NSU-Trio bis zum Schluss zur Seite stand. Auch bei
einem weiteren Turonen-Konzert im Jahr 2018 reist Eminger an.
Zufall ist das nicht. Die Turonen suchen die Nähe zum Rechtsterrorismus.
Schon vor elf Jahren, ein Jahr nach Auffliegen des NSU, veröffentlicht die
Band von Thomas W. ein Lied, in dem sie sich mit einem zweiten inhaftierten
NSU-Helfer solidarisiert: dem Thüringer Ralf Wohlleben, einst
NPD-Funktionär, nun als Waffenbeschaffer beschuldigt. „Freiheit für Wolle�…
singt W.s Band. Kurz darauf posiert Thomas W. mit späteren Turonen und
Dekowaffen auf einem Foto, samt Kommentar: „NSU reloaded“.
Ende Februar wird nun auch eine Wohnung im Burgenlandkreis in
Sachsen-Anhalt durchsucht: die von [4][Ralf Wohlleben]. Der 46-Jährige, der
2018 nach sechs Jahren Haft wieder auf freien Fuß gekommen ist, soll Gelder
der Turonen erhalten haben, im jetzigen Verfahren gilt er als Zeuge.
Wohlleben hat einen Vertrauten, den der Verfassungsschutz neben Thomas W.
als zweiten Anführer der Turonen sieht: den Saalfelder Steffen R., ein
Enddreißiger, seit Jahren in der Rechtsrockszene aktiv, einst auch für die
NPD. Der wird zwar nicht festgenommen, zählt nach taz-Informationen aber zu
den 13 weiteren Beschuldigten.
Und die Turonen kultivieren ihren Hang zur Gewalt. Auf einem ihrer Konzerte
brüllte ein Sänger: „Blut muss fließen, knüppelhageldick. Lasst die Messer
flutschen in den Judenleib.“ Als Thomas W. einen Brief mit einem
Anti-Nazi-Aufdruck erhält, lobt er 2.000 Euro für Hinweise auf den Absender
auf und nennt dies „zum TOT SCHIESSEN lustig“. Die Behörden zählen allein
seit 2019 insgesamt 32 Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der Turonen,
unter anderem wegen Körperverletzung, Betrugs oder Beleidigung.
Im Herbst 2018 aber missglückt ein Festival im thüringischen Magdala. Die
Behörden setzen ein Verbot durch, die Turonen bleiben auf Verlusten sitzen.
Die Serie der Großkonzerte reißt damit ab. Kurz darauf, so glauben die
Ermittler, steigen die Neonazis in die Drogengeschäfte ein. Für Thomas W.
ist das kein Neuland: Schon 2008 wird er nach taz-Informationen wegen
unerlaubten Handels mit Arzneimitteln zu einer Geldstrafe verurteilt.
## Ein Backsteinbau in Gotha
Neben dem Gelben Haus in Ballstädt wird ein alter Backsteinbau mit großem
Anbau, an einer kleinen Seitenstraße im Norden Gothas gelegen, nun zum
Hauptquartier der Turonen. „Betriebsgelände, Betreten verboten“, steht auf
einem Schild vor dem sandigen Parkplatz. Von außen weist nichts auf die
Neonazi-Truppe hin, das Gebäude ist gepachtet.
Nach Angaben von Anwohnern soll Thomas W. vor seiner Festnahme regelmäßig
vor Ort gewesen sein. Immer wieder sei Baumaterial angeliefert worden, im
Inneren sollen auch Konzerte und Kraftsport stattgefunden haben. Gänzlich
klandestin läuft das nicht ab. Vor der Halle parken immer wieder teure
Autos, einige mit Kennzeichen wie „T20“, die auf die Turonen anspielen.
Auch eine weiße Stretchlimousine gehört dazu.
Bei ihren Drogengeschäften verdrängen die Turonen nach taz-Informationen
ältere Dealer-Strukturen in der Region und arbeiteten mit Kontaktleuten aus
Osteuropa sowie der Rocker-Szene zusammen. Nur zwei Straßenecken weiter
betreibt die Gruppe ihr Bordell, in einem blau gestrichenen Haus, mit
Kameras überwacht. Für das Etablissement soll die Lebensgefährtin von
Thomas W. mitverantwortlich gewesen sein.
Auf einem Schild steht nur der Name einer britischen Briefkastenfirma, die
zu einem Gothaer mit Kontakten nach Tschechien führt. Der gleiche
Firmenname prangt bei einer im Aufbau befindlichen Kneipe auf der anderen
Straßenseite. Nur wenige hundert Meter entfernt besitzen die Turonen auch
noch einen Lagerraum. Am Stadtrand war ein zweites Bordell in Planung.
All diese Orte durchsucht die Polizei im Februar, insgesamt sind es 27
Wohnungen und Geschäftsräume. Beschlagnahmt wird auch die Stretchlimousine.
Die Stadt will sich wegen der laufenden Ermittlungen zu den Örtlichkeiten
nicht äußern. Einzig zum Bordell teilt sie mit, dass dafür wegen der
Coronaverordnung keine Genehmigung vorgelegen habe.
Für die Turonen und ihre Aktivitäten gibt es ein Vorbild in Österreich: das
rechtsextremes Netzwerk „Objekt 21“, das vor Jahren ebenfalls Szenekonzerte
veranstaltete und in Waffen- und Drogengeschäfte verwickelt war – und
Kontakt nach Thüringen hielt. Als die Gruppe aufflog, wurden 2013 auch zwei
Thüringer festgenommen. Einer von ihnen hatte das Gelbe Haus in Ballstädt
mit erworben.
## Bekannt in der Drogenszene
Eine, die sich mit der Drogenszene in Gotha auskennt, ist Angela Gräser.
Seit 25 Jahren arbeitet sie als Streetworkerin in der Stadt. Die Szene der
Crystal-Konsumenten sei groß, sagt Gräser. Zuletzt sei auch Kokain immer
beliebter geworden, das inzwischen billiger sei. Dass die Turonen in die
Geschäfte involviert waren, dass sie junge Verkäufer rausschickten, habe
sie in den letzten Monaten immer wieder von Klienten gehört, sagt sie. „Ich
kenne den Tommy noch von ganz früher. Das war eigentlich einer, mit dem man
lange noch reden konnte. Keiner, der sofort raufgehauen hat. Es ist
traurig, wie sein Leben verlaufen ist.“ Die Drogenvorwürfe habe sie aber
nie beweisen können, sagt Gräser. „Die sind clever.“
Die Ermittler aber tragen so viele Beweise zusammen, dass die Haftbefehle
bis heute Bestand haben – selbst gegen einen Anwalt: Dirk Waldschmidt. Der
Mittfünfziger bewegt sich seit Jahren in der rechtsextremen Szene, in
Hessen war er mal Vize-Chef der NPD, zuletzt hielt er Rechtsschulungen bei
der rechtsextremen Splitterpartei „III. Weg“ ab. Immer wieder vertritt
Waldschmidt Neonazis vor Gericht, den prominentesten vor knapp zwei Jahren,
wenn auch nur kurzzeitig: Stephan Ernst, den Lübcke-Mörder.
Waldschmidt kennt auch die Turonen gut. Im Ballstädt-Prozess trat er als
Verteidiger eines Angeklagten auf, im vergangenen Jahr auch als der eines
rechtsextremen Thüringer Hooligans. Dort tauchte der Anwalt zusammen mit
Thomas W. und anderen Neonazis auf, einige in Turonenkluft gekleidet. Nun
ist Waldschmidt selbst Beschuldigter. Die Ermittler werfen ihm nach
taz-Informationen Geldwäsche vor, er soll in die Immobiliengeschäfte der
Turonen verwickelt gewesen sein. Seine Anwältin will sich zu den Vorwürfen
nicht äußern.
Für Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer ist Waldschmidts
Festnahme eine Zäsur. „Offenbar gibt es einige Juristen, die es nicht bei
der Verteidigung von Rechtsextremen belassen, sondern selber Prozesse als
Bühne nutzen und Teil krimineller Netzwerke werden.“ Den Schlag gegen die
Turonen nennt Kramer einen „großen Erfolg“, der zeige, wie wichtig eine
enge Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Landeskriminalamt bei der
Bekämpfung der Organisierten Kriminalität sei.
Auch die Linken-Abgeordnete König-Preuss lobt die Festnahmen: „Der Schlag
ist enorm wichtig, weil er die Neonaziszene weit über Thüringen hinaus
trifft.“ Sie fordert nun weitgehende Ermittlungen, die nicht nur das
kriminelle, sondern auch politische Netzwerk der Turonen aufdecken müssten.
Zudem brauche es einen neuen Untersuchungsausschuss zum Rechtsterrorismus
in Thüringen. „Nicht nur die Turonen, auch andere Thüringer Akteure tauchen
immer wieder in rechtsterroristischen Kontexten bis hin zum NSU auf. Das
muss dringend aufgehellt werden.“
Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) hat sich den Kampf gegen die
Rechtsextremen auf die Fahnen geschrieben. Als die Turonen festgenommen
wurden, reiste der SPD-Mann eigens nach Ballstädt. „Der Schlag hat
gesessen“, freut sich Maier. „Die Turonen sind zuletzt immer dreister
aufgetreten. Sie waren sich wohl sehr sicher, dass man ihnen nichts anhaben
kann. Die Festnahmen sind auch wichtig, damit die Menschen in Ballstädt
wieder Vertrauen in den Rechtsstaat fassen.“
Aber im Gelben Haus wohnen auch Anfang April immer noch Neonazis. Das von
der Polizei zerschlagene Fenster ist notdürftig mit Pappe zugeklebt, vor
der Tür steht ein VW mit „T20“-Kennzeichen. Sonst ist es ruhig, fast alle
Fenster sind verhangen, an der Hauswand hängt eine Kamera, über den
abgeschirmten Hof streunt eine Katze. Auch vor dem Gothaer Hauptquartier
stehen weiter Autos, betreten Personen das Gebäude.
Schon vor der Verurteilung für den Ballstädt-Angriff stellten sich die
Neonazis für ein Gruppenfoto unter ein Banner, welches das Dorf nach dem
Überfall aufgehängt hatte: „[5][Ballstädt steht auf für Demokratie] und
Vielfalt und gegen rechte Gewalt“. Grinsend posierten die Neonazis in
Turonen-Kluft, Thomas W. in der Mitte.
„Die lachen uns aus“, sagt Ballstädts Bürgermeister Horst Dünkel. Die
jetzigen Festnahmen sieht auch er daher erleichtert. Aber war’s das mit den
Neonazis? Dünkel hebt die Schultern. „Tja.“ Kurzes Schweigen. „Man weiß…
nicht. Und selbst wenn sie aus Ballstädt verschwinden, dann tauchen sie in
einem anderen Dorf wieder auf.“
Auch Kerstin Schmitz traut der Sache noch nicht. „Von dem guten Dutzend
Angreifer damals sitzen ja jetzt nur drei in Haft“, sagt die junge Frau.
Und dann ist da ja noch der zweite, neue Prozess zum Ballstädt-Angriff, der
am 17. Mai beginnen soll. Angeblich verhandelt das Gericht mit Thomas W.
und den weiteren Angeklagten über einen „Deal“: Geständnisse gegen
Bewährungsstrafen. „Das darf nicht passieren“, sagt Schmitz. Bürgermeister
Dünkel meint dazu: „Die Justiz muss auch die Konsequenzen ihrer
Entscheidungen bedenken. Es geht auch um Gerechtigkeit.“
15 Apr 2021
## LINKS
[1] /Massenschlaegerei-in-Thueringer-Dorf/!5048933
[2] /Rechte-Organisierte-Kriminalitaet/!5754155
[3] /Urteil-im-NSU-Prozess-fuer-Andre-Eminger/!5517433
[4] /NSU-Helfer-Ralf-Wohlleben-ist-wieder-frei/!5522665
[5] /Zivilcourage-gegen-Rechts-in-Thueringen/!5523464
## AUTOREN
Konrad Litschko
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Lesestück Recherche und Reportage
Rechtsextremismus
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Schwerpunkt Neonazis
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