# taz.de -- Prozess gegen Neonazis in Thüringen: Deals mit den Tätern | |
> Anfang 2014 überfielen Neonazis eine Kirmesgesellschaft im thüringischen | |
> Ballstädt. Jetzt stehen sie erneut vor Gericht – und werden milde | |
> behandelt. | |
Bild: Ein Angeklagter mit Fußfesseln vor Beginn der Neuauflage des Ballstädt-… | |
ERFURT taz | Es war ein konzertierter Angriff. Vermummt stürmte das gute | |
Dutzend Neonazis spätnachts in den Saal des Ballstädter Kulturzentrums, | |
prügelte auf die noch Anwesenden der Kirmesgesellschaft ein, auch als | |
einige schon bewusstlos am Boden lagen. Nach nur zwei Minuten rannten die | |
Angreifer zurück [1][ins „Gelbe Haus“, eine Neonazi-WG im Ort]. Zurück | |
blieben Scherben, Blutlachen und zehn teils schwer verletzte Menschen mit | |
Platzwunden im Gesicht, Knochenbrüchen, ausgeschlagenen Zähnen. | |
Der Angriff vom 9. Februar 2014 löste wegen seiner Brutalität bundesweit | |
Entsetzen aus. [2][Das Erfurter Landgericht verurteilte elf Thüringer | |
Rechtsextreme später zu Haftstrafen] bis zu dreieinhalb Jahren, vier wurden | |
mangels Beweisen freigesprochen. Nur: Die Strafen mussten die Verurteilten | |
nie antreten – weil der Bundesgerichtshof die Urteile im Mai 2020 aufhob, | |
da diese mangelhaft begründet seien. | |
Am Montag nun sitzen die elf Neonazis, zehn Männer und eine Frau, deshalb | |
erneut wegen des Ballstädt-Angriffs in Erfurt vor Gericht. Verhandelt wird | |
diesmal allerdings nicht im Landgericht, sondern coronabedingt in der | |
Messehalle. Vier Reihen braucht es, um die Angeklagten und ihre Anwälte | |
unterzubringen, darunter auch Szeneadvokaten wie Wolfram Nahrath und Martin | |
Kohlmann. Die Beschuldigten erscheinen mit Szenefreunden, breitbeinig und | |
selbstbewusst, mit rechtsextremen Tattoos bis ins Gesicht, die sie teils | |
abkleben müssen. Einer trägt eine Jacke mit „Blood“-Aufdruck, zu deutsch | |
„Blut“. Blut, wie es auch in Ballstädt floss. | |
Drei der Angeklagten kommen diesmal allerdings in Handschellen, direkt aus | |
der U-Haft: Thomas W., der den Angriff angeführt haben soll, André K. und | |
Rocco B. Das Trio war Ende Februar mit fünf anderen festgenommen worden. | |
Sie sollen noch während des ersten Prozesses [3][die rechtsextreme | |
Kameradschaft Turonen] aufgebaut und später in großem Maßstab mit Drogen | |
gehandelt sowie Geldwäsche und ein Bordell betrieben haben. Mitverhaftet | |
wurde in dem Zuge auch einer der Verteidiger aus dem ersten Prozess: der | |
Szeneanwalt Dirk Waldschmidt, kurzzeitig auch mal Verteidiger des | |
Lübcke-Mörders Stephan Ernst. | |
## Die Anklage wird mit Gähnen quittiert | |
Den elf Beschuldigten wird am Montag nun erneut die Anklage verlesen, sie | |
verfolgen es gelassen, einer gähnt, einer gräbt die Hände in die | |
Hosentaschen. Eine gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung hätten | |
sie in Ballstädt begangen, als selbst erklärte Vergeltung für ein zuvor | |
eingeworfenes Fenster im „Gelben Haus“. Der Steinwurf ist indes bis heute | |
nicht aufgeklärt. Die Kirmesgesellschaft bestreitet, etwas damit zu tun zu | |
haben. Und an dem Stein fand sich nur DNA von einem der Neonazis. | |
Die lange Verfahrensdauer wird jedenfalls strafmildernd für die Angeklagten | |
wirken. Schon im Vorfeld gab es auf Anregung der Staatsanwaltschaft | |
Gespräche über einen Deal: Geständnisse gegen Bewährungsstrafen. Dies setzt | |
Richterin Sabine Rathemacher am Montag in die Tat um. Reihum bietet sie den | |
Angeklagten nun Deals an, um den Prozess abzukürzen. | |
Der beschuldigte Hauptangreifer Thomas W. und der vielfach Vorbestrafte | |
Marcus R. sollen für ein Geständnis nun eine Bewährungsstrafe von maximal | |
zwei Jahren bekommen statt der zuvor verhängten dreieinhalb Jahre Haft. Für | |
die anderen sollen es höchstens 14 Monate auf Bewährung sein, für Tim H., | |
der im ersten Verfahren Mitbeschuldigte belastete, nur 9 Monate. | |
Tim H. und Ariane S. lehnen den Deal ab, da sie eine Einstellung ihrer | |
Verfahren wollen. Die anderen Angeklagten stimmen zu. Drei lassen ihre | |
Geständnisse sofort durch ihre Anwälte verlesen: Pauschal räumen sie ihre | |
Tatbeteiligung ein – das war’s. Was genau sie taten und wer noch mitmachte, | |
wollen sie nicht sagen. Er habe damals einen Filmriss gehabt, erklärt ein | |
Beschuldigter. Mit den anderen Angeklagten will er nach der Tat nichts mehr | |
zu tun gehabt haben. Wie er denn dann sagen könne, dass er bei dem Angriff | |
dabei war, fragt Rathemacher. Das schließe sein Mandant „aus den | |
Gesamtumständen“, antwortet sein Anwalt. Demnach sei es „möglich und sehr | |
wahrscheinlich, dass er an der Tat beteiligt war“. | |
Die Deals seien nicht nachvollziehbar | |
Aber die Anwälte der Verletzten des Angriffs, die als Nebenkläger | |
auftreten, intervenieren: Die Kurzgeständnisse seien nicht ausreichend. Und | |
wer sich nicht erinnern könne, könne auch nichts gestehen. Ohnehin seien | |
die Deals bei der Schwere der Gewalttaten nicht nachvollziehbar – | |
insbesondere nicht für das Trio, dem schon wieder neue Straftaten | |
vorgeworfen werden. | |
Die Nebenklageanwälte stellen im Fall Thomas W. und Marcus R. schließlich | |
Befangenheitsanträge gegen alle RichterInnen. Gerade hier seien | |
Bewährungsstrafen nicht verständlich, das vorgeschlagene Strafmaß wirke | |
„willkürlich“. Ihre Mandanten könnten nicht mehr auf die Unparteilichkeit | |
der Kammer vertrauen, es entstehe der Eindruck, das Verfahren soll „um | |
jeden Preis“ schnell beendet werden. | |
Die Verletzten des Angriffs hatten sich zuletzt vehement gegen Deals mit | |
den Neonazis ausgesprochen: Die Angreifer hätten Tote in Kauf genommen, sie | |
gehörten hinter Gitter. „Für die Betroffenen wäre es ein Schock, wenn es zu | |
keinen adäquaten Strafen kommt“, sagt ihr Anwalt Alexander Hoffmann. „Und | |
für die Neonazis ein Sieg.“ Schon jetzt seien die Betroffenen „sehr | |
enttäuscht“, dass die Täter auch nach sieben Jahren nicht rechtskräftig | |
verurteilt seien. Einige Opfer lebten weiter in Ballstädt, würden den | |
Angeklagten immer wieder über den Weg laufen und lebten damit in ständiger | |
Bedrohung. | |
Am Montag fordern deshalb auch UnterstützerInnen mit einer Kundgebung vor | |
dem Gericht: „Kein Deal mit Nazis!“ Zuletzt schon hatten die „Omas gegen | |
rechts“ dem Thüringer Justizminister Dirk Adams (Grüne) knapp 45.000 | |
Unterschriften mit derselben Forderung übergeben. Ein Urteil ist bisher für | |
Juli geplant. | |
17 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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