| # taz.de -- Urteil zu Neonazi-Überfall in Thüringen: Justiz von vorgestern | |
| > Die Männer, die in Thüringen eine Kirmesgesellschaft niedergeprügelt | |
| > haben, sind vor Gericht zu billig davon gekommen. Das Urteil ist ein | |
| > Skandal. | |
| Bild: Verpixelte Tätowierungen eines Angeklagten im Gerichtssaal Erfurt | |
| Auch Neonazis haben in der Bundesrepublik Deutschland Anspruch auf ein | |
| faires Verfahren. Auch für sie ist der Rechtsstaat da und es gilt die | |
| Unschuldsvermutung, solange eine Tat nicht erwiesen ist. Und | |
| selbstverständlich muss die Unabhängigkeit der Justiz gewahrt sein. | |
| Umgekehrt allerdings muss die Justiz, müssen Richter auch aushalten können, | |
| wenn die Öffentlichkeit ihr Vorgehen kritisch hinterfragt. Und das ist im | |
| Fall des Urteils gegen Neonazis, die Mitglieder einer friedlich feiernden | |
| Gesellschaft in der thüringischen Kleinstadt [1][Ballstädt] krankenhausreif | |
| geprügelt haben, mehr als geboten. Das Landgericht Erfurt hat es nämlich im | |
| Namen des Volkes für rechtens erklärt, dass diese politisch einschlägig | |
| bekannten Männer mit Bewährungsstrafen davonkommen. Die Tat sei nicht | |
| rechtsextremistisch motiviert, sondern ein Racheakt gewesen, sprach die | |
| Richterin. | |
| Ein merkwürdiges Urteil. Da haben Richter und Staatsanwälte inzwischen | |
| bundesweit erkannt, dass rechtsradikal motivierte Straftäter mit Härte | |
| verurteilt werden müssen. Da erhalten der Mörder von [2][Walter Lübcke] und | |
| der Attentäter von Halle lebenslange Strafen. Nur im beschaulichen Erfurt | |
| hat man offenbar noch nicht erkannt, dass Neonazis keiner Schonung | |
| bedürfen. Ihr brutales Vorgehen wird gewertet wie eine beliebige | |
| Kneipenschlägerei. Stattdessen ergeht sich die Richterin in Medienschelte | |
| gegen die Öffentlichkeit im Allgemeinen und die Nebenklage im Besonderen. | |
| Sieben Jahre sind seit dem Überfall vergangen. In diesen sieben Jahren hat | |
| es das Landgericht geschafft, das erste Urteil mangelhaft zu begründen, | |
| weshalb der Bundesgerichtshof eine Neuverhandlung bestimmte, und jetzt ein | |
| Urteil zu fällen, das den Opfern Hohn spricht und die Täter fröhlich aus | |
| dem Gerichtssaal treten lässt. Gericht und Staatsanwaltschaft haben zuletzt | |
| einen Deal mit den Angeklagten geschlossen: milde Strafen gegen | |
| Geständnisse. Das erspart ein langwieriges Verfahren und verhindert, dass | |
| Schuldige möglicherweise mangels Beweisen freigesprochen werden müssen. | |
| Jetzt aber tun sie so, als habe die Strafprozessordnung sie zu einem | |
| solchen Vorgehen gezwungen. Das ist erstens falsch und vernebelt zweitens | |
| die Verantwortung des Gerichts, das den Angeklagten damit die Möglichkeit | |
| eröffnete, glimpflich aus der Sache herauszukommen. | |
| Dieses Urteil ist ein Skandal. Es zeugt von einer bemerkenswerten Ignoranz | |
| gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen und blendet die vom | |
| Rechtsextremismus ausgehenden Gefahren aus, indem es die politische | |
| Relevanz der Tat unberücksichtigt lässt. Und es gibt ein furchtbares Signal | |
| an diejenigen aus, für die Menschlichkeit kein Maßstab ist: Man kann | |
| Menschen verprügeln und in Todesangst versetzen – und muss dafür kaum | |
| Konsequenzen fürchten. Den Opfern der Gewaltexzesse aber fällt die Erfurter | |
| Justiz in den Rücken. | |
| Wir waren da schon mal weiter. Erfurt bleibt hoffentlich ein Einzelfall. | |
| 12 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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