# taz.de -- SPD-Abgeordnete zu Wahlkampf 2021: „Der neutrale Staat ist zentra… | |
> Was will die Berliner SPD bildungspolitisch im Wahlkampf? SPD-Abgeordnete | |
> Maja Lasić über neoliberale Ideen und Identitätspolitik in der | |
> Kopftuchfrage. | |
Bild: Eine Hypothek für die nächste Legislatur: Wie umgehen mit dem Kopftuch … | |
taz: Frau Lasić, bitte vervollständigen Sie diesen Satz: Seit 25 Jahren | |
verantwortet die SPD das Bildungsressort in Berlin – und das sieht man | |
daran, dass … | |
Maja Lasić: … dass bestimmte Veränderungen im Bildungssystem sich Bahn | |
gebrochen haben, die sonst nicht so schnell gekommen wären. | |
Was heißt das genau? | |
Nehmen Sie den kontinuierlichen Ausbau der Ganztagsschule, da ist Berlin | |
Vorreiter, und das liegt an der Kontinuität einer Regierung, die sich einig | |
ist in der Zielsetzung. Oder die Einstufung der Grundschullehrkräfte in die | |
gleiche Gehaltsgruppe wie die Lehrkräfte an weiterführenden Schulen, auch | |
da ist Berlin Vorreiter. | |
Das ist jetzt schon recht kleinteilig, ich dachte da eher an so eine große | |
sozialdemokratische Linie, die Sie jetzt vielleicht skizzieren wollen. | |
Es geht bei beiden Themen um Gleichberechtigung und Chancengerechtigkeit. | |
Und dann kann man an dieser Stelle als Drittes auch noch die | |
Schulstrukturreform 2010 nennen, als der damalige [1][Bildungssenator | |
Jürgen Zöllner] die Hauptschule in Berlin abgeschafft hat: Wir haben jetzt | |
das Gymnasium und die Sekundarschule beziehungsweise die | |
Gemeinschaftsschule als zwei gleichwertige Schulsäulen in Berlin. | |
Tatsächlich bezeichnet die SPD „Chancengerechtigkeit“ als das | |
bildungspolitisch „zentrale Ziel“ in dem Entwurf des Wahlprogramms für die | |
Abgeordnetenhauswahl im Herbst. Wie wollen Sie verhindern, dass das nicht | |
weitere fünf Jahre eine Phrase bleibt? | |
Indem wir klarer der Segregation in unseren Schulen den Kampf ansagen. Wir | |
führen da noch zu oft ausschließlich die Strukturdebatte. Da landen wir | |
dann bei der Frage, warum die Gemeinschaftsschule die richtige Schulform | |
ist. Die Aussage ist richtig, ist aber zu kurz gegriffen. Wir haben | |
innerhalb der Säule der Integrierten Sekundarschule und Gemeinschaftsschule | |
auch eine starke Segregation mit Schulen mit 10 bis 20 Prozent und Schulen | |
mit 80 bis 90 Prozent benachteiligte Schüler und Schülerinnen. Die | |
Segregation ist unser zentrales Problem, das wir angehen müssen, die | |
Debatte muss sich vor allem um diese Frage drehen. Daher geht es natürlich | |
auch um Ressourcen, um die Frage, wie wir Schulen in schwieriger Lage | |
besser ausstatten | |
Aber das versucht die amtierende Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) | |
doch auch schon seit Jahren. | |
Ja, das stimmt. Wenn etwas dazukommt – sei es mehr Sozialarbeit, mehr | |
Gelder für das Bonusprogramm oder eine bessere Personalausstattung – fangen | |
wir bei diesen Schulen an. | |
Die Erfolge sind dennoch nicht messbar. Die Schulabbrecherquote stagniert, | |
die Leistungen in Vergleichstests werden nicht besser, die Herkunft | |
bestimmt den Bildungserfolg. | |
Genau das ist der Punkt. Und über diese Tatsache machen wir uns als SPD | |
seit Jahren Gedanken: Wir haben die richtige Struktur, wir geben die | |
Ressourcen rein, und trotzdem macht das offenbar noch keine gute Schule. | |
Also, was wollen Sie tun? | |
Das Neue ist: Wir wollen die Ressourcenzuweisung künftig an messbare Daten | |
zur Schulentwicklung koppeln. Wir wollen gerade in schwieriger Lage gute | |
Schulen mit scharfen Profilen, die für alle Familien attraktiv sind und | |
damit der Segregation entgegenwirken. | |
Leistung wird belohnt? | |
Wir haben ja bereits seit einiger Zeit ein Indikatorenmodell an den Schulen | |
… | |
… das von Scheeres 2019 eingeführte Ampelsystem für Faktoren wie | |
Schulabbrecherquote, Gewaltmeldungen und Schülerleistungen? | |
Genau. Zum Beispiel kann eine Grundschule jetzt sehen: Aha, bei den | |
Vergleichsarbeiten in der dritten Klasse stehen wir auf „Rot“, also muss | |
ich in den nächsten drei bis fünf Jahren massiv in die Sprachförderung | |
investieren. Jede zusätzliche Ressource, die ich bekomme, werde ich in | |
dieser Richtung einsetzen, und das muss in Schulverträgen festgehalten | |
werden. Dieses Controlling, klingt zunächst sehr neoliberal. | |
In der Tat! | |
Das ermöglicht erst den nötigen Handlungsspielraum der Schulen. Wir können | |
die Schulen nicht in die Eigenständigkeit entlassen, und wir wollen ja in | |
Berlin die eigenverantwortliche Schule, ohne zu fragen: Was tun die Schulen | |
mit ihrer Selbstständigkeit? Und das finde ich auch legitim: Berlin setzt | |
nach Hamburg die meisten Mittel pro Schülerin und Schüler ein, ohne dass | |
wir uns nennenswert von der Stelle bewegen. Das muss besser werden. | |
Und dann klappt es mit den „besten Schulen in schwieriger Lage“? | |
Natürlich sind wir auf die PädagogInnen vor Ort angewiesen, und die müssen | |
mitziehen wollen. Deswegen bekennen wir uns auch zur Verbeamtung und zu | |
Entlastungsstunden für mehr Teamarbeit. Das sind Maßnahmen, mit denen wir | |
die PädagogInnen überzeugen wollen, dass sie die Kraft haben, Schulen | |
wirklich besser machen zu können. Im Übrigen verweigere ich mich der | |
Analyse, mehr Ressourcen seien der einzige Weg zu einer besseren Schule – | |
da sind wir wieder bei der Steuerung, dem Controlling. Eine bessere Schule | |
geht auch mit den vorhandenen Ressourcen, mit mehr Ressourcen geht es nur | |
noch besser. | |
Die Lockdowns zeigen: Corona vergrößert die Chancenungerechtigkeit. War die | |
Entscheidung, ab [2][22. Februar] zunächst lediglich die Klassen 1–3 im | |
Wechselbetrieb zurückzuholen, die richtige? | |
Die schwierige Abwägung besteht darin, wen man bei der schrittweisen | |
Rückkehr priorisiert. Die Abwägung erfolgt dabei zwischen dem | |
bildungspolitisch Sinnvollen, gesundheitspolitisch Angebrachten und | |
gesellschaftlich Akzeptierbaren. | |
Und daraus folgt konkret was? | |
Es wäre gesellschaftlich nicht vermittelbar, wenn wir die Rückkehr zur | |
Präsenz allein anhand des sozialen Hintergrunds entscheiden würden. Daher | |
bleibt uns nur die Rückkehr nach Alterskohorten, und es gibt gute Gründe, | |
mit den ersten Klassen zu beginnen. Ich stehe jedoch dazu, dass ich mir die | |
Rückkehr zu teilweisem Präsenzunterricht für alle Klassen wünsche. | |
Hoffentlich werden uns die Inzidenzzahlen dies ermöglichen. | |
Wie lange kann man im fortgesetzten Homeschooling noch am [3][Abitur, | |
überhaupt an Noten] festhalten? | |
Wir zeigen in Berlin deutlich, dass uns der Zugang zu pädagogischen | |
Bezugspersonen wichtiger ist als die Prüfungen. Daher weichen wir dort, wo | |
wir allein entscheiden können, vom üblichen Vorgehen ab: Wir verzichten auf | |
schriftliche MSA-Prüfungen, auf Vergleichsarbeiten, führen Erleichterungen | |
beim Abitur ein. Überall dort jedoch, wo KMK-Konsens notwendig ist, beißen | |
wir auf Granit. Wir können unseren SchülerInnen keine Schlechterstellung | |
gegenüber anderen Ländern zumuten. Das ist bitter, zeigt aber auch deutlich | |
die Unterschiede innerhalb des Föderalismus auf. Ich bin froh eine Berliner | |
Politikerin zu sein. | |
Noch ein Thema, wo Berlin einen Sonderweg geht, ist das Kopftuchverbot im | |
Schuldienst. Scheeres hat vergangene Woche gesagt, sie werde das jüngste | |
Urteil des Bundesarbeitsgerichts – Berlin muss sein [4][Neutralitätsgesetz | |
überarbeiten] – vor dem Bundesverfassungsgericht anfechten. Eine einsame | |
Entscheidung der Senatorin oder Konsens in der Partei? | |
Den Weg zum Verfassungsgericht geht die Bildungsverwaltung. Ein Bekenntnis | |
zum Neutralitätsgesetz ist jedoch für die SPD zentral, und da sind wir uns | |
bemerkenswert einig. Aber für mich ist ganz klar: Das Gesetz muss auf | |
gesunde Füße gestellt werden, das wird die Aufgabe der nächsten Legislatur. | |
Wie könnte man es für den Alltagsgebrauch konkretisieren? | |
Das wäre Gegenstand einer juristischen und politischen Auseinandersetzung. | |
Es ist für mich übrigens eine der spannendsten Fragen für eine linke Person | |
in Berlin: Wie geht man in der Identitätspolitik mit dieser Spannung aus | |
individuellem Recht und den Interessen des Allgemeinwohls um? Da hebt sich | |
die SPD von Linken und Grünen ab. Wir opfern nicht jeden Funken Gemeinwohl | |
für die Stärkung der individuellen Rechte. Auch wenn es nicht attraktiv | |
ist, wird die SPD immer das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellen. | |
Das heißt aber doch, Sie stellen das Gemeinwohl und das Kopftuch in Schulen | |
gegeneinander – warum sollte das Kopftuch im Schuldienst dem Allgemeinwohl | |
abträglich sein? | |
Die Verengung auf das Kopftuch machen gerade Sie, nicht ich. Und diese | |
allgegenwärtige Verengung versperrt den Blick auf die Essenz des | |
Neutralitätsgesetzes. In einer pluralen Gesellschaft wie Berlin hat man die | |
Wahl, sich entweder auf das bloße Nebeneinander verschiedener | |
Lebensentwürfe zu beschränken, oder man sucht die Klammer, die unsere | |
Gesellschaft zusammenhält. Und wenn man diese gemeinsame Klammer und unsere | |
gemeinsamen Werte sucht, spielt ein neutraler Staat, der über allem schwebt | |
und in seinem Agieren die gemeinsamen Werte verkörpert, eine zentrale | |
Rolle. Dies mag für jemanden, der das hohe Gut der deutschen Freiheit immer | |
schon genossen hat und nichts anderes kennt, abstrakt klingen. Für jemanden | |
wie mich, die in meinem Herkunftsland die schrittweise voranschreitende | |
Dominanz der Religiosität im staatlichen Wesen beobachten musste, inklusive | |
der damit einhergehenden Zersplitterung der Gesellschaft, ist die Gefahr | |
echt und allgegenwärtig und die Neutralität daher essenziell. | |
Wie Berlin mit dem Neutralitätsgesetz künftig umgeht, wird Scheeres nicht | |
mitentscheiden, sie tritt nicht mehr an. Besonders hervorgetan hat sich in | |
der SPD niemand für ihre Nachfolge. Will man das Ressort aktiv loswerden? | |
Ich glaube, dass man nach 25 Jahren nicht unbedingt danach schreit, | |
weitermachen zu dürfen, ist klar. | |
Ist das so klar? | |
Zumindest ist es kein Automatismus. Natürlich werden wir als SPD weiterhin | |
Bildungspolitik machen, und wir wollen auch weiterregieren. Und unabhängig | |
von Themen, die gerade aktuell sind – momentan ist es Corona, davor waren | |
es der Schulbau und der Fachkräftemangel, davor das Flüchtlingsthema –, | |
müssen wir die großen Linien wieder in den Vordergrund spielen. Das ist für | |
die SPD die Chancengerechtigkeit. | |
Das könnte man auch in Ressortverantwortung tun. | |
Das könnte man. | |
Sie haben sich am ehesten profiliert als Bildungspolitikerin. | |
Wer welche Posten bekleidet, ist eine Diskussion für den Herbst. | |
15 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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