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# taz.de -- Internet und Musikökonomie: Wildwest beim E-Commerce
> Die virtuelle Musikplattform Bandcamp hat einen guten Ruf als ethisch
> korrekter Gegenspieler zu Streaming-Firmen. Was ist dran am Hype?
Bild: Ein Schnack im Plattenladen hat auch was Gutes: Groove Attack in Köln
Es war in der ersten Phase der Coronapandemie, Mitte März, als eines der
größten Video-Stream-Portale, [1][Netflix], für 30 Tage seine Datenrate
reduzieren musste, da lockdownbedingt übermäßig viele UserInnen online
waren. Die Mengen an Streaminganfragen waren nicht mehr in gewohnter
Bildqualität zu bewältigen. Von Musikportalen wie [2][Spotify] hatte man
indes wegen zu starker Auslastung nichts gehört. Während das Thema
Streaming auch in der Pandemie weltweiter Hype ist, hat im Musikbiz vor
allen Dingen ein US-Unternehmen besondere Aufmerksamkeit erregt: Bandcamp.
Grundsätzlich ist das Geschäftsmodell des 2007 von dem ehemaligen
Yahoo-Mitarbeiter [3][Ethan Diamond] gegründeten Unternehmens aus dem
kalifornischen Oakland recht simpel: Musiker:Innen und kleine Labels laden
ihre Musik hoch, diese kann meist drei Mal umsonst gestreamt werden, bis
Bandcamp dazu auffordert das Album, die EP oder den Einzeltrack käuflich zu
erwerben. Bevorzugter Distributionsweg ist die Digital-Copy als MP3, häufig
lassen sich auch die passenden Kassetten, Vinyls oder CDs im Webshop
erwerben.
Dies ist auch der große Unterschied zu Streamingdiensten wie Spotify und
Tidal: [4][Streaming] ist hier bloß Verkaufsargument, letztlich Werbung,
man geriert sich als alternativer Musikmarkt, der vornehmlich unabhängige
Kulturschaffende anspricht. Große Labels sucht man bei Bandcamp vergebens.
So gibt man sich auch betont „barrierefrei“: Das Content-Management-System
ist simpel, selbst für Neulinge ist der Weg zur ersten eigenen
Veröffentlichung kurz. Wer dazu neben Musik auf Daten und Tonträgern Merch
wie T-Shirts verkaufen möchte, erkennt rasch, dass es dafür keine
erweiterten betriebswirtschaftlichen Kenntnisse braucht. Für den Service
als Wirt behält Bandcamp bis zu 15 Prozent der Einnahmen ein.
## Immer wieder Bandcamp Friday
Der Hype um die Plattform ergibt sich derweil aus einer medial weithin
beachteten Aktion: dem Bandcamp Friday. Seit März schenkt die Plattform
stets am ersten Freitag im Monat ihren UserInnen die Provision. Das führte
zu Lobeshymnen allerorten auf einen Player des E-Commerce; ein seltenes
Phänomen in der Kulturwelt. Doch Bandcamp genießt einen hervorragenden,
auch ethisch korrekten Ruf.
Seit 2010 die [5][US-Künstlerin Amanda Palmer] von den Vorzügen der
Selbstvermarktung schwärmte und ihre Musik bei Bandcamp veröffentlichte;
seit das legendäre US-Punk-Label Dischord 2017 seinen kompletten
Backkatalog online stellte; seit Bandcamp Gelder für Hilfsorganisationen
gesammelt hat, gilt das Unternehmen als politisch korrekt, musiker- und
nischenfreundlich. Als einzig wahre Alternative zu den offensichtlichen
Ausbeutungsverhältnissen bei Streamingdiensten, die trotz millionerfacher
Streams nur Peanuts an Künstler:Innen abführen.
## Kassensturz und Almosen
Im Juli machte man Kassensturz: 20 Millionen US-Dollar sollen an bloß vier
solcher Spendentage geflossen sein. Was auf den ersten Blick wie eine
Erfolgsgeschichte in mauen Zeiten daherkommt, ist bei mehr als 4.000
beteiligten Labels und über 350.000 „Content-generierenden“ Usern nichts
weiter als Almosen im zweistelligen Euro-Bereich. So ist auch nur
folgerichtig, wie sich einige Musikschaffende bei Instagram bitter
beklagten, dass bei ihnen, trotz hoher Gesamtumsätze – die auch als solche
von der Plattform selbst vermarktet werden –, nichts ankomme.
Auch nach mehrmaliger Anfrage, wie sich die Verkaufszahlen seit Juni
entwickelt haben, ob man auch bei Bandcamp eine gewisse „Coronamüdigkeit“
erkennen würde, ob man das Gefühl habe, dass sich viele KünstlerInnen um
vergleichsweise wenig Geld streiten würden, kam keine Antwort von dem
bekannt-schweigsamen US-Unternehmen. Transparenz? Fehlanzeige!
KünstlerInnen, die um Aufmerksamkeit streiten, die zur Hyperaktivität und
stetem Output gezwungen werden, in der Hoffnung zu den wenigen Gewinnern zu
gehören, – bei Bandcamp sind sie schon lange kein Einzelphänomen mehr. Im
Gerangel um die zusätzlichen Einnahmen am Bandcamp-Freitag setzen
mittlerweile einige Labels auf wöchentlichen, teilweise sogar täglichen
neuen Content.
Das Geschäftsmodell Bandcamp zeigt derweil nicht bloß diesen einen
Fallstrick. Der Journalist Kristoffer Cornils wies im
Onlinemagazin[6][djlab] darauf hin, dass Bandcamp in Deutschland keinerlei
Gelder an die Verwertungsgesellschaften (Gema und GVL) abführe, Plays auf
der Seite sowieso nicht abgerechnet würden, da man sich eben als
Verkaufsplattform verstehe. Auch hierauf gab es keine Antwort aus
Kalifornien. Dies ist nur ein weiterer Pferdefuß in der Welt der
unabhängigen Internetökonomie, die häufig mit messianischen Versprechungen
lockt und den Musikmarkt revolutionieren möchte, aber gleichzeitig alte
Errungenschaften aushebelt.
## Kontinuierliche Vorleistung
Ein anderes Problem bleibt außerdem die kontinuierliche Vorleistung, in die
MusikerInnen treten müssen. Mal ab von dem künstlerischen Vorschuss, der in
Veröffentlichungen aller Art steckt, muss man im Bereich Merch- und
Tonträger stets Cash für T-Shirts und Vinyl-Pressungen aufwenden. Wer kein
Geld hat, der kann auch keins investieren. Diese Marktlücke erkannte 2016
das Londoner Textilunternehmen Everpress. Sein Geschäftsmodell richtet sich
an Designer und Bands gleichermaßen: Man lädt über das sehr eingängige
System ein Design für eine ganze Reihe an „garments“ – vom klassischen
T-Shirt über den Hoodie bis zu Kappe – hoch und erstellt dann eine
Kampagne. Das erinnert nicht zu Unrecht an Crowdfunding-Unternehmen wie
Kickstarter.
Doch gibt es hier einen Clou. Der Produktionsprozess läuft autonom und
autark. Wer in einem Zeitraum von 5 bis 30 Tagen Fans und Supporter davon
überzeugt, insgesamt fünf Shirts (oder mehr) zu kaufen, dessen Produkt wird
in London gefertigt, gedruckt und dann zeitnah ausgeliefert. Einen kleinen
Teil der Einnahmen bekommt man ausgezahlt, der Rest bleibt beim
Unternehmen; die Preise sind, verglichen mit klassischem Band-Merch, im
oberen Mittelfeld angesiedelt. Die Vorteile für MusikerInnen sind
offensichtlich.
In den Augen von Julian Stetter, Mitglied des Elektronik-Duos Vimes, ist
Everpress eine sinnvolle Lösung, „um nicht infolge von kostengünstigeren
hohen Stückzahlen tonnenweise Merch zu produzieren, der leicht zum
Ladenhüter wird“. Sein eigener Keller sei voll davon: „Das ist nicht nur
ökologisch fragwürdig, auch die Auslagen dafür werden mit Sicherheit nicht
mehr refinanziert werden.“
## Es bleibt was hängen
All dies fällt beim britischen Portal weg; hier wird just in time und auf
die Auswahl der KäuferInnen hin gefertigt. Bands und KünstlerInnen müssen
gar nicht mehr als VerkäuferInnen auftreten. Für die KünstlerInnen bleibt
dennoch was hängen – bei 19 Euro Verkaufspreis sind es knapp 4,50 Euro, die
von Everpress abgeführt werden. Während beim sonstigen Merch die Marge wohl
höher ausfallen würde, ist man hier gänzlich befreit vom Risiko.
Tatsächlich sind aber sowohl Bandcamp als auch Everpress Grenzen gesteckt.
So beliebt beide Plattformen bei den Prosumern – also den konsumierenden
Produzenten – sind, so gering scheint ihr Einfluss außerhalb der
eingeweihten Kreise bisher. Bei Everpress geht man davon aus, dass 40
Prozent der Kampagnen ohne Erfolg bleiben. Zur begrenzten Klientel gesellt
sich in Zeiten einer globalen und nun schon Monate andauernden Pandemie
außerdem noch der chronische Geldmangel, der sich gerade in jenen Zirkeln
einstellt, die sonst als kauffreudigste User bei Bandcamp gelten: DJs. Ohne
festes Einkommen, ohne Gigs überlegt man sich zweimal, ob man zugreift beim
nächsten Digital-Release oder beim neuesten Fan-Merch des
Lieblings-Kollektivs.
Parallel dazu entwickelt sich, wie so häufig im Wildwestterritorium
E-Commerce, ein Verdrängungswettbewerb, der vornehmlich den stationären
Handel trifft. Ehedem etablierte Mail-Order-Dienste, der kleine und
mittlere Plattenhandel, unabhängige Merch-ProduzentInnen schauen in die
Röhre.
Wie zwiespältig die Angelegenheit ist, zeigt sich deutlich am Beispiel des
Musikers Tim Purnell alias Twit One, der in Köln den Plattenladen Groove
Attack betreibt. „Für mich als Künstler ist Bandcamp eine gute Sache, da
ich damit spontan, ohne Label oder dazwischengeschalteten Digitalvertrieb
meine Musik hochladen kann“, betont er die Vorzüge des Direkthandels mit
Bandcamp. „Als Inhaber eines Plattenladens sieht es schon wieder anders
aus, wenn mich dort Kund*innen nach Musik fragen, die es zwar bei Bandcamp
gibt, die aber erst drei Monate später von den physikalischen Vertrieben in
Umlauf gebracht wird.“ Er müsse darauf setzen, dass die persönliche
Atmosphäre im Plattenladen, inklusive Beratung statt bloßer
Empfehlungsalgorithmen, immer noch KundInnen anziehe.
Wenn man Schätzungen von Handelsexperten glauben darf, so könnten in den
nächsten fünf Jahren bis zu 40 Prozent der Plattenläden verdrängt werden.
Die Schätzungen stammen wohlgemerkt aus einer Zeit vor Corona. Die Pandemie
wird dieser Entwicklung noch weiter Vorschub leisten. So ergibt sich für
viele Kulturschaffende ein kaum aufzulösender Zwiespalt: Zwar sind gerade
kleinere Labels und MusikerInnen lokal meist gut vernetzt, hegen große
Sympathien gegenüber Plattenläden um die Ecke. Die prekäre Situation zwingt
sie derweil stärker auf den Internethandel zu setzen, selbst wenn die dort
ansässigen Unternehmen nicht ganz so fair und cool agieren, wie es zuerst
scheint.
22 Nov 2020
## LINKS
[1] /Corona-und-Datenverkehr/!5672865
[2] /Studie-zu-Spotify-Geschaeftspraktiken/!5613333
[3] https://www.theguardian.com/music/2020/jun/25/bandcamp-music-streaming-etha…
[4] /Informatiker-ueber-Streamingdienst/!5638939
[5] /Crowdfunding-fuer-Amanda-Palmer/!5083394
[6] https://www.dj-lab.de/bruchstelle-bandcamps-neues-monopol-eine-kritische-be…
## AUTOREN
Lars Fleischmann
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