Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Beschwingte Rückblicke: Mit Musik war sogar 2020 schön
> Im Dezember gilt es, Bilanz zu ziehen – beim schrecklichen 2020
> eigentlich sehr einfach. Aber dann gibt es ja noch die musikalischen
> Jahresrückblicke.
Bild: Schön, wenn Spotify einem die Arbeit des Erinnerns abnimmt
## Mit Musik war sogar 2020 schön
Jedes Jahr im Dezember bin ich aufs neue verwundert, wie lange der Januar
schon wieder her ist. Und gleichzeitig, wenn die Weihnachtsbeleuchtung in
den Straßen angeht und der erste Glühwein getrunken wird, denke ich: Was,
das Jahr ist schon wieder rum?
Um zu verstehen, was in den vergangenen zwölf Monaten passiert ist,
erstelle ich im Dezember Listen: Was die schönsten drei Tage des Jahres
waren und was die schlechtesten, was Aufregendes, Erfreuliches, Schlimmes
oder Trauriges in meinem Leben passiert ist. Das Jahr zu durchdenken und
Listen zu erstellen, macht mir Freude – ist aber auch Arbeit. Schön also,
wenn jemand anderes einem diese Arbeit abnimmt, wie Spotify.
Wenn Anfang Dezember der persönliche Musikjahresrückblick inklusive
Playlist mit den 100 meistgehörten Songs freigeschaltet wird, kann man
schwelgen. Musik ist eben auch ein Medium zum Erinnern. Viele Lieder sind
in meinem Kopf verknüpft mit Personen, Orten und Erlebnissen.
Höre ich heute einen Song von Billie Eilish, werde ich sofort in den Moment
zurückversetzt, wie ich mit meinen besten Freund:innen im vollbepackten
Auto von Rom nach Neapel gefahren bin. Denke an die Pizza und Aperol, an
die mittlerweile vollkommen totgespielten Doppelkopfkarten, die täglich zum
Einsatz kamen. Läuft irgendwo Lizzo, bin ich wieder im Festsaal Kreuzberg,
durchgeschwitzt vom Tanzen und einfach nur glücklich.
Doch das war 2019. Dieses Jahr ist alles anders, mehr ein verschwommenes
Etwas. Eben mehr zu Hause sein, mehr puzzeln und Fernsehen gucken als
Urlaub und Partys.
Doch gerade in diesem Jahr hilft die Playlist, aus dem Brei ein Jahr zu
formen. Ich erinnere mich an die Dutzenden Spaziergänge durch Berlins
Straßen (Doja Cat) im Frühling, an den letzten Urlaub vor der Pandemie (The
Weeknd) oder die Ausflüge an Brandenburger Seen (Derya Yildrim).
Denn obwohl 2020 ein Scheißjahr war, sind in meinem Kopf auch ein paar
positive Erinnerungen gespeichert, merke ich dank der Musik. Und wenn der
Spotify-Jahresrückblick Online ist, heißt es zumindest auch: Das Jahr ist
endlich bald vorbei. Carolina Schwarz
## So allein
Man darf sich richtig cool fühlen, wenn einem zum Beispiel der US-Rapper
Kendrick Lamar als persönlicher Top-Künstler des Jahres 2020 angezeigt
wird. Dann kann man die bunte Urkunde, die Spotify einem ausstellt, auf
Insta teilen, zufrieden über den eigenen guten Geschmack und darüber, dass
der Lieblingskünstler nicht nur Rapper, sondern regelrecht ein Poet ist.
Aber was macht man, wenn einem angezeigt wird: „Dein 2020 mit ‚So
alleine‘“? Dann wird man in einen Jahresrückblick der Pandemiegefühle
geworfen: Bedrücktheit, Langeweile, Einsamkeit. Mein Spotify-Lieblingstrack
von Capital Bra und Samra (mein Lieblingskünstler) passt gut zu diesem
Jahr, in dem man solidarisch ist, wenn man sich sozial distanziert; in dem
man in den eigenen vier Wänden arbeitend, essend, schlafend vereinsamt; in
dem man mit dem Laptop veschmilzt, dem einzigen Fenster zu einem sozialen
Miteinander ohne Beschränkungen, allerdings nur zweidimensional. Da bringt
es auch nichts, wenn Samra in jenem Lied aufmunternd beschwört: [1][„Wir
sind anders, Habibi, standhaft, Habibi“], und es nervt schon hart, wenn
Capital Bra rappt: „Der Bratan geht spazieren am Alexanderplatz“, weil die
ganze pandemiebedingte Spaziererei einfach nicht mehr zu ertragen ist.
Ein Blick auf meine „Top Tracks aus 2017“ zeigt mir aber, dass ich schon
damals „Lost“ (Frank Ocean) war, was mich erleichtert. Über andere Lieder
bin ich peinlich berührt, zum Beispiel über „Opernsänger“ von Yung Hurn,
„Nude“ von Radiohead oder „Hello“ von Adele. Nicht weil die Lieder an s…
peinlich sind, außer der Ballade von Adele vielleich, sondern weil ich sie
mit Gefühlen der Vergangenheit verbinde, die als längst überwunden gelten.
Wenn ich sie jetzt höre, dann erinnere ich mich und denke mir: Alter,
deshalb hast du dir so viele Sorgen gemacht damals?! Oder: Süß, aber auch
naiv, dass du dich so über diese Sache gefreut hast! Der
Spotify-Jahresrückblick ist dann wie ein Blick auf ein altes Schulfoto aus
einer Zeit mit Problemen und Gefühlen, die heute viel kleiner wirken als
damals. Ich hoffe, Ende 2023 werde ich Ähnliches fühlen können. Volkan Ağar
## Krieg' Kinder, haben sie gesagt
Kika-Kikaniiinchen, Kika-Kikaniiinchen“ dröhnt es mir im
Spotify-Jahresrückblick als Erstes entgegen. Nein, nein, und noch mal:
nein. Als würde es nicht reichen, dass ich seit einiger Zeit regelmäßig
gegen vier Uhr morgens mit Ohrwürmern von Kinderliedern aufwache. Und zwar
so regelmäßig, dass ich mich frage, ob das schon eine frühe Form von Trauma
sein könnte.
[2][„Liebe Erika Klose – mach einfach in die Hose“,] jauchzt es mir dann
durch den Kopf, während ich im Dunkeln Richtung Toilette tapere und vor
mich hin fluche. Beknackte Erika Klose. Wen interessiert es, wie
Astronaut:innen aufs Klo gehen?
Das Kind liebt diese Lieder, aber mich treiben sie nicht nur Richtung
Wahnsinn, sie verbannen auch jegliche Coolness aus dem Spotify-Account. Im
Jahresrückblick werden mir das Kikaninchen und der britische Rapper Stormzy
als quasi gleichwertige Lieblingsmusik vorgespielt. Der
„Badewannensitzpirat“ ist sogar noch vor „Crown“ – in welchem Univers…
bitte? Muss das nicht irgendein superintelligenter Algorithmus erkennen
können, dass das gar nicht sein kann? Der Streamingdienst jedenfalls
schlussfolgert daraus, dass ich 2020 „Lust auf neue Genres“ hatte. Aber
nein, verdammt. Ich will nichts Neues. Kein Dibe-dibe-dab. Kein
Aram-sam-sam. Kein La-le-lu.
Doch Daten sind unbarmherzig. Sie zeigen einem nicht, wer man sein will,
sondern wer man ist. Vielleicht ist es an der Zeit zu akzeptieren, dass ich
zwar schon die Person bin, die lieber Ari Lennox, Teyana Taylor und Arlo
Parks hören würde, aber dass in unserem Zuhause wesentlich öfter kleine
blaue Kaninchen und Elefanten, eine orange Maus oder ein kleiner Drache den
Ton angeben, und natürlich dass ich alle Texte längst auswendig kann. Und
sie zur Empörung meines Kindes auch lauthals mitsinge.
Aber immerhin: 2019 bestand der Jahresrückblick noch aus Pianoversionen
berühmter Pop-Klassiker, weil das Kind dazu immer so gut eingeschlafen ist.
Zumindest diesen Horror konnten wir hinter uns lassen. Saskia Hödl
## Elviserinnerungen und CDs tuns auch
Im August 1977 starb Elvis. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, weil ich
da gerade zum ersten Mal am Mittelmeer war – und weil ich nicht verstand,
warum meine Mutter weinen musste, als sie die Bild-Schlagzeile „Elvis
Presley: Sein Todeskampf!“ am spanischen Zeitungskiosk sah.
Mir war Elvis damals nicht so wichtig, und ich kann überhaupt sagen: Mir
ist Musik nicht so wichtig. Ich komme mit meinen zwei Dutzend CDs gut
zurecht. Viele Lieder, die ich mag, aber auf keinem artifiziellen
Speichermedium habe, singe ich auch einfach immer wieder vor mich hin, was
im Familienkreis manchmal für Anspannung sorgt.
Dabei singe ich ganz gut, ich war sogar im Chor. Was ich dagegen überhaupt
nicht kann, ist, über Musik schreiben. Mir fehlen da die Ausdrucksmittel,
die Fachtermini, der „Groove“. Das zu akzeptieren, fällt mir natürlich
schwer. Als der Kollege und Musikredakteur Julian Weber mich heuer im
Frühjahr fragte, ob ich die „Platte“ – oder wie sagt man – des
italienischen Rappers Ghali besprechen würde, war ich so geschmeichelt wie
in einem Dutzend taz-Jahren von keiner Anfrage.
Und dann, trotz Auskunftsersuchen bei meinen Hip-Hop hörenden Söhnen:
Totales Versagen! Ich bestellte mir noch extra das Buch der
Italo-Raplegende Frankie Hi-NRG MC „Faccio La Mia Cosa“ (Ich mach mein
Ding), um meiner Darstellung des italienischen Rap historische
Tiefenschärfe zu geben. Aber niente – meine Worte, mit denen ich das
Musikerlebnis zu beschreiben versuchte, blieben unangemessen, lächerlich,
prätentiös.
Ich möchte Ihnen also an dieser Stelle schlicht empfehlen, sich feine
Italo-Musik von [3][Ghali], [4][Frankie Hi-NRG MC], [5][Liberato] und
[6][Paracetamolo] einmal reinzustreamen, damit auch das Wort hier gefallen
ist. Von den Beatles übrigens, erzählte mir meine Mutter später, habe sie
vor lauter Kinder und Küche zum ersten Mal gehört, als sie sich schon
aufgelöst hatten.
Aber das machte nichts: Elvis hat ihr alles gegeben. Und so reichen auch
mir beim Joggen die Vögel und die Geräusche der großen, leeren Stadt und
beim Kochen der Deutschlandfunk und Randy Newman und die süßen Gesänge
meiner Tochter. Ambros Waibel
7 Dec 2020
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=VE6-jc8kpRQ
[2] https://kinder.wdr.de/tv/die-sendung-mit-der-maus/av/video-lachgeschichte-a…
[3] https://www.youtube.com/watch?v=-7lqGbIE3aM
[4] https://www.youtube.com/watch?v=mKq6deHfioc
[5] https://www.youtube.com/watch?v=AWQcDlHoE4o
[6] https://www.youtube.com/watch?v=UW1DjnCBcSY
## AUTOREN
Carolina Schwarz
Ambros Waibel
Volkan Ağar
Saskia Hödl
## TAGS
Spotify
Musikstreaming
Jahresrückblick
IG
psychische Gesundheit
Kolumne Bei aller Liebe
Streaming
Podcast-Guide
Musikvideo
## ARTIKEL ZUM THEMA
Jahresrückblick 2021: Was für ein Jahr
Und wieder war es ein hartes Jahr. Unsere Kolumnistin wagt trotzdem einen
Rückblick, über die kleinen und großen Dinge, die sie gelernt hat.
Dankbarkeit zum Jahreswechsel: Lachen, Kekse, nette Uber-Fahrer
Ein Jahresrückblick mit allen Problemen wäre in diesem Jahr ziemlich lang
und deprimierend. Wichtiger ist es, auf die schönen Dinge zu schauen.
Internet und Musikökonomie: Wildwest beim E-Commerce
Die virtuelle Musikplattform Bandcamp hat einen guten Ruf als ethisch
korrekter Gegenspieler zu Streaming-Firmen. Was ist dran am Hype?
Spotify übernimmt Podcast-Label: Der Streamingdienst hat Hunger
Haps: Der Musikstreaming-Dienst hat sich das US-Podcast-Label Gimlet
einverleibt. Wird nun alles anders in der Podcast-Welt?
Comeback der Musikclips: Video killed the TV-Star
Musikvideos sind eine Sache der 80er und 90er? Im Gegenteil: Sie haben sich
im Netz neu angesiedelt – mit ganz neuen Möglichkeiten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.