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# taz.de -- Comeback der Musikclips: Video killed the TV-Star
> Musikvideos sind eine Sache der 80er und 90er? Im Gegenteil: Sie haben
> sich im Netz neu angesiedelt – mit ganz neuen Möglichkeiten.
Bild: Beyoncé und Jay Z mieteten für ihr Video zu „Apeshit“ gleich den Lo…
Jetzt bleibt zum Abstrampeln auf dem Crosstrainer bald nur noch Arte. Zuvor
war das Fitnessstudio der einzige Ort, wo man sich ein bisschen Viva auf
dem kleinen Fernseher gegönnt hat – natürlich nur um auf dem Laufenden zu
sein. Man konnte sich vergewissern, dass Ed Sheerans Musik nicht besser
wird dadurch, dass man ihn auch sieht. Und man konnte checken, ob in
Rap-Videos immer noch knapp bekleidete Mädels um die Männer rumtanzen
müssen. (Ja, müssen sie.)
Wenn der Musiksender Viva zum Ende des Jahres eingestellt wird, könnte man
zwar noch zu MTV wechseln, das es seit einiger Zeit wieder im deutschen
Free-TV gibt. Aber wer wirklich Musikvideos sehen will, tut das sowieso
längst woanders.
Über 85 Millionen Mal wurde Childish Gambinos Video zu [1][„This Is
America“] im Mai auf YouTube gesehen – innerhalb von einer Woche. Darin
wird nach 52 Sekunden einem Menschen aus nächster Nähe in den Kopf
geschossen. Eine Minute später – man hat sich gerade halbwegs von dem
Schockmoment erholt – wird ein gesamter Gospelchor mit dem Maschinengewehr
niedergemetzelt – eine Anspielung auf das rassistische Massaker 2015 in
einer Kirche in Charleston, Virginia, als Dylann Roof acht Menschen und
einen Pastor tötete.
## War das Video nicht mal tot?
Ein ebenso erschütterndes wie beeindruckendes Video, in dem der Rapper,
Schauspieler und Produzent Donald Glover, aka Childish Gambino, die
gesellschaftliche Realität von Afroamerikanern darstellt. Dass es als das
beste Musikvideo 2018 in die Popgeschichte eingehen wird, dürfte ihm keiner
mehr streitig machen. Obwohl sich Beyoncé und Jay Z als musizierendes
Power-Couple The Carters auch enorm ins Zeug gelegt haben: Als Kulisse für
ihr Video zu [2][„Apeshit“], das Mitte Juni rauskam, haben sie gleich mal
den Louvre in Paris gemietet.
Aber was bedeutet das eigentlich im Jahr 2018: „das beste Musikvideo des
Jahres“? Immerhin war das Genre zwischenzeitlich schon fast ausgestorben –
zusammen mit dem Musikfernsehen. MTV, das waren die 80er und 90er, als
Michael Jacksons Video zu [3][„Thriller“] wie eine große
Hollywood-Produktion daherkam. Oder [4][„Sledgehammer“] von Peter Gabriel.
Der Song wäre vielleicht nie zum Hit geworden ohne das dazugehörige Video:
Stop-Motion-Sequenzen, viel Knetanimation – ach ja, und die zwei tanzenden
kopflosen Hühner aus dem Kühlregal. „Sledgehammer“ wurde eins der
Lieblingsvideos auf MTV.
Irgendwann liebte der Sender seine Shows dann mehr als seine Clips. Das
war’s dann. Mit dem Tod des Musikfernsehens Anfang der Nullerjahre, gab es
eine Zeit lang schlicht keine Plattform für Videos. Bis YouTube kam. Auf
einmal war es möglich, schnell und in guter Qualität Musikvideos zu
streamen und zu teilen.
## Cash über Videoplattformen
YouTube hat unseren Medienkonsum enorm verändert. Massen von Content
prasseln dort mittlerweile tagtäglich auf uns ein. Aber gerade hier setzen
die Musikvideos an, die zuletzt viel besprochen wurden: Sie funktionieren
als viraler Hit. Jede Szene aus Childish Gambinos „This Is America“ kann
gedeutet werden, es gibt so viele kulturelle und historische Anspielungen,
dass man gern ein paar Fußnoten dazu eingeblendet sehen würde.
Dasselbe gilt für Beyoncé und Jay Zs Video zu „Apeshit“. Das hungrige
Internet machte sich sofort daran, das Video in all seine Einzelteile zu
zerlegen und genüsslich jedes Bild zu analysieren: zwei afroamerikanische
Superstars posieren wie König und Königin im Louvre, dieser Bastion weißer
Privilegien. Auf diese Weise bleibt ein Video tage- oder im besten Fall
wochenlang im Gespräch.
Auch aus kommerzieller Sicht sind Musikvideos wieder wichtig geworden.
Inzwischen arbeitet die Musikindustrie – nach jahrelangem Streit über
Urheberrechte – mit YouTube zusammen. Videos können auf der Plattform
direkt monetarisiert werden. Der Streaming-Service YouTube Music, der die
User von der Konkurrenz Spotify weglocken will, existiert jetzt auch in
Deutschland.
„Die Zeiten für Musikvideos waren schon mal schlechter“, sagt Jonas
Lindstroem. Er ist eigentlich Modefotograf, macht inzwischen aber vermehrt
Kurzfilme und Musikvideos. Letztes Jahr engagierte ihn der Rapper Kendrick
Lamar für das Video zu seinem Song „Element.“ Es enthält Referenzen an den
amerikanischen Fotojournalisten Gordon Parks und dessen Werke aus den 50ern
und 60ern – was in der Netzdebatte und darüber hinaus erkannt und zum
Thema wurde. Die Bilder von Parks würden hier zum Leben erweckt, schreibt
The New Yorker.
Kendrick Lamar verstehe das Medium Musikvideo einfach, sagt Lindstroem. Er
sehe es als Möglichkeit, das Universum der Musik zu erweitern. Und doch
bleiben derart aufwendige und konzeptionelle Videos von Lamar oder Childish
Gambino nach wie vor die Ausnahme. „Es gab immer schon eine kleine Handvoll
an Regisseuren, die mit ihren Videos herausstachen“, sagt Lindstroem,
„Spike Jonze, Chris Cunningham oder Jonathan Glazer.“ Die große Masse von
Musikvideos aber gehe weiterhin als Werbeclips durch, als bloße
Verbildlichung der Musik.
## Film wird Video, Video wird Film
Was jedoch neu ist: Nachdem sich das Video mit dem Tod des Musikfernsehens
von seinen „kommerziellen Fesseln“ befreit hat, wie es im vor Kurzem
erschienenen Buch „After YouTube“ heißt, ist das Genre vielschichtiger
geworden. Und das Format immer freier.
Die Grenzen zwischen Film und Musikvideo seien sowieso unwichtig, sagt
Jessica Manstetten. Sie ist eine der HerausgeberInnen von „After YouTube“
und bei den Kurzfilmtagen Oberhausen für die Reihe Musik-Clips
verantwortlich. Man müsse nur an das seltsam gruselige 10-Minuten-Video zu
„Famous“ (2016) von Kanye West denken: Da liegen er und seine Frau Kim
Kardashian schlafend im Bett zwischen aufgewühlten weißen Laken und zehn
anderen nackten Prominenten, darunter Donald Trump, Taylor Swift und Bill
Cosby. Natürlich nur Silikonpuppen, aber das macht das Bild nicht weniger
verstörend.
Nach zweieinhalb Minuten endet die Musik, die Kamera geht ganz nah ran an
die Gesichter und Körper der täuschend echten Puppen. Vier Minuten lang
hört man nur Atmen und leises Schnarchen. Dann kommt ein Abspann. Und
anschließend geht der Song weiter. Ins Musikfernsehen hätte es so ein Clip
nicht geschafft, sagt Manstetten. Allein formal wäre das viel zu riskant
gewesen.
Musikvideos bleiben wichtiger Teil der Popkultur. Verändert hat sich, wie
wir sie konsumieren – mobil, im Netz. Aber das Schöne ist hier ja: Alles
geht. Im Netz findet jeder Clip sein Publikum. Afroamerikanische Künstler
wie Childish Gambino oder Kendrick Lamar treffen mit ihrem
gesellschaftspolitischen Ansatz in Zeiten von Donald Trump einen Nerv – und
auf ein großes Publikum. Beyoncé und Jay Z sorgen für Aufmerksamkeit mit
ihrem überästhetischen „Apeshit“-Video. Dass man das Album dazu einmal und
nie wieder gehört hat – geschenkt.
Wenn man sich nach den superinszenierten Bombastvideos nach ein bisschen
Ruhe für die Augen sehnt, kommt der Link des Kollegen gerade richtig: Eine
Alt-Country Band aus Kentucky, Wayne Graham, hat einen neuen Song draußen.
[5][Im Video dazu sieht man vier Minuten lang einem Waschbären zu], wie er
in aller Seelenruhe eine Mülltonne ausräumt. Bei der Gelegenheit könnte man
auch mal wieder das Wolfgang-Tillmans-Video für die Pet Shop Boys gucken,
das mit den Mäusen, die zwischen den Londoner U-Bahn-Gleisen Abfälle
fressen. Das lief Anfang der Nullerjahre auf MTV. Damals, als man noch
einen Fernseher hatte.
12 Aug 2018
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=VYOjWnS4cMY
[2] https://www.youtube.com/watch?v=kbMqWXnpXcA
[3] https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&…
[4] https://www.youtube.com/watch?v=OJWJE0x7T4Q
[5] https://www.youtube.com/watch?v=4gTclYQijyM
## AUTOREN
Ann-Kathrin Mittelstraß
## TAGS
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