# taz.de -- Berlins Sozialdemokraten haben gewählt: Die zwei von der SPD | |
> Mit sechs Monaten Verspätung lösen Franziska Giffey und Raed Saleh | |
> Michael Müller an der Spitze der SPD ab – auf einem denkwürdigen | |
> Parteitag. | |
Bild: Holen sie Berlins SPD aus dem Umfragetief? | |
Berlin taz | Das heißt also „hybrid“ bei einem Parteitag: kein Mischmasch | |
aus E-Antrieb und Benzinmotor, sondern vielmehr besteht das Treffen darin, | |
erst viereinhalb Stunden auf dem warmen Sofa via Bildschirm Diskussionen | |
über die SPD-Politik sowie Bewerbungsreden zu lauschen, um dann spät abends | |
kilometerweit durch die Kälte zum Wahllokal zu radeln – oder das Auto zu | |
nehmen: Man ist ja bei der SPD und nicht den Grünen. Mit dem Ergebnis, dass | |
seit Samstagmorgen Franziska Giffey und [1][Raed Saleh die erste | |
Doppelspitze der Berliner SPD bilden.] | |
Nur eines dieser Wahllokale gibt es pro Bezirk und Kreisverband. Und wenn | |
das SPD-Büro, wie etwa in Steglitz-Zehlendorf, ziemlich am Rand in Lankwitz | |
liegt, kann das schon mal 16 Kilometer Anfahrt von Wannsee aus bedeuten. | |
Trotzdem tauchen auch die dortigen Delegierten samt jenen aus Nikolassee | |
Freitagnacht um halb elf Uhr aus dem Dunkel auf. Der Parteitag war zuvor um | |
genau 21.43 Uhr für die Wahl unterbrochen worden, fast zwei Stunden später | |
als geplant. | |
Eigentlich soll sich vor dem Wahllokal keiner länger als nötig aufhalten. | |
Aber immerhin stehen Kannen mit Glühwein und Kinderpunsch samt ein paar | |
Schokoweihnachtsmännern bereit: Man muss sich schließlich auch ein bisschen | |
austauschen, wie man das alles findet. Coronabedingt sitzen nur der | |
Landesvorstand samt Parteitagspräsidium und ein paar Technikhelfer – | |
insgesamt kaum mehr als 30 Menschen – im Kongresszentrum des riesigen | |
Estrel-Hotels in Neukölln. | |
Der Rest der rund 270 Parteitagsdelegierten hockt über die Stadt verteilt | |
vor dem Bildschirm. „Ich muss hier erst mal meine Ankunftsdepression | |
überwinden“, erzählt SPD-Vizechefin Ina Czyborra am Telefon der taz, als | |
sie den so untypisch stillen Ort erreicht. | |
Wobei mancher der virtuellen Parteitagsbesucher durchaus kundtut, dass das | |
auch seine positiven Seiten hat: Endlich könne man beim Parteitag rauchen | |
und Wein trinken, twittert Abgeordnetenhausmitglied Sven Kohlmeier und | |
schickt als Beleg gleich ein Foto mit. Er findet es toll, in der | |
Parteitagsaussprache den Landeschef reden zu hören und gleichzeitig mit | |
seinen Kindern zu puzzeln. | |
Die gut 30 SPDler im Estrel und ihre Parteifreunde vor den Bildschirmen – | |
ob mit oder ohne Wein und Puzzle – erlebten am Freitagabend einen | |
emotionalen Abschied. Jedenfalls so emotional, wie das in dieser hybriden | |
Form möglich ist. „Du warst mit zwölfeinhalb Jahren der am längsten | |
amtierende Landeschef der Berliner SPD nach dem Krieg“, würdigt | |
Innensenator Andreas Geisel den scheidenden Vorsitzenden Michael Müller. | |
Zum Abschied gibt es einen Originaldruck von Andy Warhol mit dem Konterfei | |
eines rauchenden Willy Brandt und von Geisel einen Satz, den man sonst nur | |
aus der linken Szene kennt: „Michael, der Kampf geht weiter.“ | |
## Zweimal musste der Parteitag verschoben werden | |
Vor allem aber geht es an diesem Abend um die Kür der Nachfolger Müllers. | |
Zweimal hatte die SPD ihren Landesparteitag wegen Corona verschieben | |
müssen, ursprünglich war er für Mai vorgesehen. Zweimal musste Franziska | |
Giffey darauf warten, zusammen mit Raed Saleh die Führung der SPD zu | |
übernehmen. Und schon seit Langem galt als sicher, dass Giffey | |
Noch-Regierungschef Müller, der in den Bundestag wechseln möchte, [2][nach | |
der Wahl auch im Roten Rathaus ablösen will]. | |
Bloß war das noch nie von ihr selbst zu hören – bis zum Samstagmorgen, als | |
die Abstimmung ausgezählt ist: „Ich will euch auch sagen, wenn ihr es | |
wollt, dann bin ich auch bereit, Eure Spitzenkandidatin zu sein für das | |
nächste Jahr“, sagt Giffey nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses. 89,4 | |
Prozent der insgesamt 265 abgegebenen Stimmen waren auf Franziska Giffey | |
entfallen, für Raed Saleh stimmten 68,7 Prozent. | |
In ihrer Bewerbungsrede hatte sie – in einem SPD-roten Kleid – noch einmal | |
ihren politischen Werdegang nachgezeichnet und sich erneut als Anpackerin | |
präsentiert. Zum Ärmelhochkrempel ruft sie auf, auch wenn das streng | |
genommen in ihrem Kleid schlecht ginge. Und betont wie schon öfter das, was | |
anderen oft als zu kleinteilig erscheint: So fordert sie etwa, dass es | |
künftig nicht nur in jeder Schule wieder eine feste Reinigungskraft gibt, | |
sondern gleich ein ganzes Reinigungsteam. | |
Dass die Freie Universität Berlin ihre umstrittene Doktorarbeit ein | |
weiteres Mal prüft, erwähnt Giffey mit keinem Wort. Als Zusicherung, auch | |
bei einer Aberkennung Landesvorsitz und Spitzenkandidatur nicht aufzugeben, | |
lassen sich aber zwei Kernsätze ihrer Rede verstehen: „Ihr könnt euch auf | |
mich verlassen, egal was passiert und was die Leute sagen. Ich bin da, und | |
ich will gemeinsam mit euch, dass wir für die Sozialdemokratie in Berlin | |
das Beste tun.“ Für Giffey ist die Affäre mit ihrer Entscheidung, den | |
Doktortitel nicht mehr zu führen, also beendet. | |
## Die Sicherheit betont | |
Inhaltlich bringt Giffey ihre Botschaft mit „fünf B“ an die Delegierten: | |
Bauen, Bildung, Beste Wirtschaft, Bürgernähe und Berlin in Sicherheit. | |
Letzteres, betont die 42-Jährige, bedeute nicht nur soziale Sicherheit, | |
sondern auch innere Sicherheit. „Wer in Berlin lebt, soll sich sicher | |
fühlen können. Wir müssen denjenigen den Rücken stärken, die sich dafür | |
einsetzen.“ | |
Schon im Vorfeld des Parteitags hatte sie sich mit Saleh dafür eingesetzt, | |
mehr Polizei, unter anderem auch „gegen Linksextremisten“, einsetzen, neue | |
U-Bahnen bauen und bei der Verkehrswende auch die Autofahrer nicht | |
benachteiligen zu wollen. | |
Dass bei diesem von vielen als zu rückwärts gewandt empfundenen Programm | |
auch die Parteibasis ein Wörtchen mitreden will, wird am Freitag deutlich. | |
Ein Antrag der „AG Migration und Vielfalt“ fordert die Delegierten auf, das | |
Wort „Clan-Kriminalität“ aus der sogenannten Konsensliste zu streichen. | |
Begründung: Es sei als „Konzept des Racial Profiling“ ersatzlos abzulehnen. | |
Der Antrag, ein Affront nicht nur gegen Giffey, sondern auch Innensenator | |
Geisel, der zuletzt mit Razzien gegen die organisierte Kriminalität mobil | |
gemacht hatte, kommt zunächst durch, weil die Antragskommission seine | |
Annahme empfohlen hatte. Geisel wiederum hat die Partei in seinen | |
Lobesworten für Müller daran erinnert, dass man Führung auch zulassen müsse | |
– was nahelegte, mancher SPDler sehe in seiner Spitze kaum mehr als einen | |
Festausschuss samt Mitgliederverwaltung. | |
Für Giffey und Saleh ist der Antrag die erste Nagelprobe. Doch sie bestehen | |
sie. Nach einer Intervention des Neuköllner Bürgermeisters Martin Hikel | |
wird der Antrag wieder von der Konsensliste genommen. Später betont Giffey: | |
„Die Bekämpfung der Clan-Kriminalität bleibt ein Schwerpunkt der Berliner | |
SPD. Wer mich gewählt hat, weiß, wofür ich stehe. Ehrliche Politik beginnt | |
damit, dass man sagt, was ist.“ | |
Nun will die neue Landeschefin mit der Erarbeitung eines Wahlprogramms | |
beginnen. Bis zum Frühjahr soll es fertig sein. Giffey nennt es ein | |
Programm, von dem viele Berlinerinnen und Berliner sagen sollen: „Find ick | |
jut.“ Vielleicht dann auch wieder in echt und nicht hybrid. | |
29 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Raed-Saleh-ist-neuer-SPD-Landeschef/!5731996 | |
[2] /Berliner-SPD-Parteitag/!5731670 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
Uwe Rada | |
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