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# taz.de -- Die steile These: Schöner lernen dank Corona
> Schule nach Plan? Damit muss Schluss sein! Die neue Infektionswelle
> bringt Lehrer:innen, Schüler:innen und Eltern an ihre Belastungsgrenze.
Bild: Lernen macht Spaß ohne Tests, Prüfungen und Zensuren
Die Einschläge kommen näher. Hier ist eine Klasse in Quarantäne, dort
arbeitet der Kollege halbtags, weil das Kind eine Woche Zwangsferien hat.
Wie lange noch bleiben die Schulen geöffnet? Das fragen sich derzeit
Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern. Manche voller Erwartung, man möge
die Klassen endlich halbieren, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren.
[1][Manche mit banger Besorgnis], wie das funktionieren soll mit Job und
Homeoffice, wenn die Kinder den Großteil des Tages zu Hause abhängen und
Eltern als Ersatzlehrer:innen einspringen sollen.
Die Gesellschaft ist gespalten und diskutiert, ob es nicht jetzt an der
Zeit wäre, auf ein Wechselmodell umzustellen. In der Theorie geht das so:
Die Klassen werden aufgeteilt und die Schüler, die nicht in der Schule
sind, lernen digital. Hybrider Unterricht heißt es im Fachsprech. In
Klartext fragt man sich allerdings schon, wie Lehrer:innen es schaffen
sollen, die eine Hälfte der Klasse online zu unterrichten, während sie
gleichzeitig vor der anderen Hälfte stehen und den Satz des Pythagoras
erklären.
Die Realität ist wohl: Geteilte Klassen heißt halbierter Unterricht und
halbierte Stoffvermittlung. So rechnen jedenfalls die Kultusminister:innen
und sind fest entschlossen, sich gegen die flächendeckende Einführung des
Wechselmodells zu stemmen.
Und sie haben recht. Wie sollen Lehrpläne eingehalten, Klausuren
geschrieben, Zensuren vergeben und Abschlüsse gemacht werden, wenn
Schüler:innen nur die Hälfte der Zeit in der Schule verbringen? Wie werden
Chancengleichheit und Vergleichbarkeit gewährleistet? In dieser Logik kann
ein Wechselmodell nicht funktionieren.
Und von wenigen guten Beispielen abgesehen, hat das Homeschooling schon
beim ersten Lockdown im Frühjahr nicht wirklich gut geklappt. Das zeigt
etwa eine Untersuchung des Bildungsökonomen Ludger Wößmann vom
Ifo-Institut, der 1.000 Eltern zu ihren Erfahrungen während des
Homeschoolings befragte.
Ergebnis: Die Zeit, in der sich die Kinder mit schulischen Dingen
befassten, halbierte sich. Sie verbrachten dafür mehr Zeit vor dem
Fernseher und mit der Spielkonsole, wobei leistungsschwächere Schüler:innen
sich diesen Disziplinen noch intensiver widmeten als Mitschüler:innen. Nur
vier Prozent der Schüler:innen hatten täglich Kontakt zu ihren
Lehrer:innen. Wieso sollte sich daran grundlegend etwas ändern, nur weil
mehr Kinder jetzt Laptops haben?
Doch auch ein „Weiter so“ wird kaum gehen. Die Infektionszahlen unter
Schüler:innen und Lehrer:innen steigen. Zehntausende Schüler:innen und
Lehrer:innen sind in Quarantäne. Der Regelunterricht ist dort, wo er
gegeben wird, ein Krampf. Der Druck steigt. Das wissen auch die
Kultusminister:innen, die gerade an einer Strategie für Hotspots arbeiten.
Hotspots? Ein Blick auf die Deutschlandkarte des Robert-Koch-Instituts
zeigt: Fast ganz Deutschland ist rot, fast alle Regionen sind nach
RKI-Definition Hotspots.
## Verzichtet auf Lehrpläne, Sitzenbleiben und Zensuren
Deshalb ist es Zeit, mit der Logik der Kultusminister:innen zu brechen.
Schluss mit der Schule nach Plan! Politiker:innen, lasst den Lehrplan
Lehrplan sein. Schulen, verzichtet aufs Sitzenbleiben. Lehrer:innen,
verzichtet auf Zensuren. Konzentriert euch darauf, die über 8 Millionen
Schüler:innen individuell zu fördern.
Und das bedeutet, eben kein starres Wechselmodell einzuführen, sondern
einen Präsenz- und Onlineunterricht nach Bedarf. Nennen wir es „Schule nach
Bedarf“. Schüler:innen, die zu Hause gut lernen können, bleiben zu Hause.
Kinder, die ihren Platz und die Arbeitsatmosphäre im Klassenraum brauchen,
kommen zur Schule. Das wird wohl für die Mehrheit der Grundschüler:innen
gelten.
Die Lehrpläne werden in diesem Modell radikal entschlackt. Das hat übrigens
auch [2][eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung beauftragte Kommission] mit
namhaften Bildungsforscher:innen, Lehrer:innen, Eltern und Schüler:innen
empfohlen. Bereits im Mai regten diese an, dass die
„Kultusministerkonferenz rechtzeitig vor Beginn des neuen Schuljahrs
konkrete Kürzungsvorschläge benennen sollte, etwa den Kosinussatz in
Mathe“.
Das haben die Kultusminister:innen nicht getan, genauso wenig, wie sie auf
die Warnung der Kommission hörten, dass man bei den Planungen des neuen
Schuljahrs nicht von „einer Wiederkehr des gewohnten schulischen
Regelbetriebs ausgehen“ solle. Na gut. Dann eben jetzt und in aller
Radikalität.
Nicht nur Lehrpläne werden gelüftet, auch Klausuren, Tests und Prüfungen
werden in der „Schule nach Bedarf“ gekürzt oder entfallen gänzlich. Genau…
wie das Sitzenbleiben. Auch das hat bereits die genannte
Expert:innenkommission vorgeschlagen.
Was sie nicht vorgeschlagen hat, was aber eine logische Konsequenz ihrer
Empfehlungen wäre: endlich die Zensuren wegzulassen. Diese Form der
Leistungsbewertung ist ein so grobes Instrument zur Komplexitätsreduktion,
dass es in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich angewandt wird.
Niemand würde es wagen, ein Bild von Pollock mit einer Vier zu bewerten,
eines von Rembrandt mit einer Zwei plus. Auch in profaneren Berufen
bespricht man normalerweise im Team, was gut und was schlecht lief, und
verteilt keine Zensuren. „Frau P. hat als Straßenbahnfahrerin fürs Bremsen
und Beschleunigen heute eine Eins bekommen.“ Häh? Genau! Aber Schüler:innen
müssen sich das jeden Tag gefallen lassen.
Also weg mit den Zensuren, weg mit dem Sitzenbleiben, weg mit dem Lernen im
Gleichschritt in Coronazeiten und danach. In der „Schule nach Bedarf“
stehen Lehrer:innen nicht 45 Minuten lang vor 30 Schüler:innen, sondern
holen Kleingruppen online oder in der Schule zusammen, um neuen Stoff zu
erklären.
Denn jedes Kind hat sein eigenes Arbeitstempo, und das kann eben auch
bedeuten, dass die Matheaufgabe eine Woche lang dauert. Oder dass Mathe
zwei Wochen mal ganz ausfällt, weil eine Schüler:in sich lieber Englisch
oder Deutsch widmet. Die Lehrer:innen geben jeweils individuelles Feedback.
Um den Überblick zu behalten, führen alle Schüler:innen Buch und tragen
jede Woche in Absprache mit den Lehrer:innen und Eltern ein, was sie sich
vornehmen. Am Ende jedes Tages und jeder Woche bilanzieren sie, was sie
geschafft haben und was noch zu tun bleibt.
Auf diese Weise wird jeder Lernfortschritt festgehalten und die Kinder,
ihre Eltern und Lehrer:innen haben jederzeit vor Augen, wo es noch Lücken
gibt. Wenn die Kinder mit einer Lerneinheit durch sind, können sie sich
testen lassen – entweder mündlich oder schriftlich, entweder bei
Mitschüler:innen oder bei der Lehrer:in. Es gibt nur zwei
Bewertungsmöglichkeiten: „Bestanden“ oder „Weiterlernen“.
Wer glaubt, das könne niemals funktionieren, sollte Schulen wie die
[3][Max-Brauer-Schule in Hamburg] besuchen. Dort lernen die über 1.000
Schüler:innen von Klasse 1 bis 13 seit Jahren nach diesem Konzept. Und zwar
sehr gut.
Es ist übrigens bemerkenswert, dass Schulen, die das Lernen
individualisiert haben, besser mit der derzeitigen Situation klarzukommen
scheinen als traditionelle Schulen. „Unsere Kinder wissen, wie man
selbstständig arbeitet“, heißt es da. Oder: „Lasst uns doch
Wechselunterricht anbieten, wir sind gut darauf vorbereitet.“
Man könnte einwenden: Aber die Mehrheit der Schulen arbeitet eben anders.
Und man muss nicht nur wegen Corona, alles Bewährte über Bord schmeißen –
wenn es denn gut funktioniert hätte. Das hat es aber nicht.
Der aktuelle Bildungsbericht zeigt, dass der Anteil der Schüler:innen ohne
Abschluss seit 2013 kontinuierlich gestiegen ist, auf gegenwärtig 6,8
Prozent. Das sind konkret rund 54.000 junge Menschen, die die Schule nach
ihrer Pflichtschulzeit ohne den niedrigstmöglichen Schulabschluss
verließen.
Die sozialen Unterschiede zwischen den Schüler:innen sind laut
Bildungsbericht weiterhin erheblich. Die Institution Schule schafft es
einfach nicht, Schüler:innen mit gleichem IQ, aber schlechteren
Startchancen so zu fördern, dass sie ihre Nachteile gegenüber
privilegierteren Mitschüler:innen wettmachen können. Im Gegenteil, beim
Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule werden die
Nachteile noch verstärkt. An der Faustformel „Akademikerkinder gehen aufs
Gymnasium, Arbeiterkinder auf irgendeine Oberschule“ hat sich nichts
geändert.
Mit dem Umstieg auf Homeschooling werden sich solche Ungleichheiten
verstärken. Also Schluss mit der Schule, wie wir sie gewohnt sind. Reißt
sie ein und baut sie neu wieder auf. Den Kindern zuliebe.
22 Nov 2020
## LINKS
[1] /Schulen-in-der-Pandemie/!5725296
[2] https://www.fes.de/themenportal-bildung-arbeit-digitalisierung/artikelseite…
[3] http://www.maxbrauerschule.de/ueber-die-mbs/#1504434454210-2e6b2e73-8fc2
## AUTOREN
Anna Lehmann
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