# taz.de -- Neuentdeckung der Gebrauchsfotografie: An die Stadt ranpirschen | |
> Unstillbar ist der Hunger nach Bildern. Das belegt im Kunstmuseum Basel | |
> eine Sammlung von Alltagsfotografien, die alle Bereiche des Lebens | |
> durchdringt. | |
Bild: Gebrauchsfotografie wird zum kostbaren Objekt: Unbekannter Fotograf, Werb… | |
Die Belle Époque in Paris war ein Fest für die Fotografie: Großbaustellen | |
waren die neuen Wahrzeichen der Weltstadt. Paris war im Begriff, sich | |
gänzlich neu zu erfinden. Alles wurde mit der Kamera protokolliert. | |
Anlässlich der Weltausstellung baute man 1889 den Eiffelturm auf die | |
rekordverdächtige Höhe von 324 Metern. Um die Pariser Metro zu errichten, | |
grub man sich in die Tiefe. | |
Selbst die Hüte der Damen in den Parks, am Rand von Pferderennen und auf | |
den Boulevards scheinen von architektonischem Ehrgeiz getrieben: | |
breitkrempig und überladen ziehen sie die Blicke auf sich. Sie sind | |
geschmückt mit Federn, Blumengestecken oder voluminösen Rüschen, die | |
heutige Betrachter*innen an Modelle von modernen Fußballstadien | |
erinnern. | |
Ein italienischer Graf namens Giuseppe Primoli fotografierte zu dieser Zeit | |
die Künstlerszene auf den Straßen, darunter auch die Schauspielerin | |
Gabrielle-Charlotte Réju. Als Réjane versetzte sie mit ihren | |
Theaterauftritten das Pariser Publikum in helle Aufregung und inspirierte | |
Maler wie Henri Toulouse-Lautrec. Ein Album mit eingesteckten und | |
handschriftlich annotierten Silbergelatineabzügen legt Zeugnis von Primolis | |
Streifzügen durch die Seine-Metropole ab. Er könnte vielleicht als Urahn | |
gegenwärtiger straßenfotografierender Modeblogger*innen durchgehen. | |
Das Album ist derzeit eines von unzähligen Exponaten in der von Olga | |
Osadtschy und Paul Mellenthin kuratierten Schau „The Incredible World of | |
Photography“ im [1][Basler Kunstmuseum], die sich auf die Bestände der in | |
Basel beheimateten umfangreichen Fotografie-Sammlung von Ruth und Peter | |
Herzog stützt. | |
## Ein Adpet der Schaulust | |
Flanieren, das hieß damals eben auch, die Stadt mit der Kamera zu | |
durchqueren. „Der Fotograf, eine bewaffnete Spielart des einsamen | |
Wanderers, pirscht sich an das großstädtische Inferno heran und | |
durchstreift es – ein voyeuristischer Spaziergänger, der die Stadt als eine | |
Landschaft wollüstiger Extreme entdeckt“ schrieb Susan Sontag Jahrzehnte | |
später in ihrem berühmten Foto-Essay. „Ein Adept der Schaulust und | |
Connaisseur des Effektvollen, findet der Flaneur die Welt – pittoresk.“ | |
Die Welt der Fotografie erscheint endlos und ist nicht zu fassen. In immer | |
neuen Sedimentschichten legen sich die Bilder am Grund der modernen | |
Bildkultur ab. Zugleich bleibt der Hunger nach Bildern unstillbar. | |
Zu Sammlern wurden Ruth und Peter Herzog im Mai 1974 auf einem Flohmarkt in | |
Zürich. Das Paar entdeckte eine alte, um 1900 aufgenommene Fotografie von | |
Spinnerinnen im Halbkreis. Die anonyme Aufnahme der Arbeiterinnen machte | |
den Herzogs klar, „das jede Fotografie immer sowohl ästhetischen als auch | |
dokumentarischen Wert besitzt“. Nicht interessiert am Star-System der | |
Kunstfotografie, wandten sich die Herzogs von Anfang an der Gebrauchs- und | |
Alltagsfotografie zu. Über die Jahrzehnte wuchs die analoge Fotosammlung, | |
die von den Anfängen des Mediums bis in die siebziger Jahre reicht. | |
Allein 3.000 analoge Fotoalben haben die Herzogs über die Jahre | |
zusammengetragen. Hauptsächlich handelt es sich um „verwaiste“ Fotografie, | |
also Aufnahmen, denen keine Urheber*innen mehr zugeordnet werden | |
können. Insgesamt soll die Sammlung schätzungsweise rund 500.000 Motive | |
umfassen. Aber was heißt das heute, im Zeitalter der digitalen Fotografie | |
eigentlich noch? Eben das: Sichtbar wird vor allem, wie haptisch und | |
objektgebunden die Fotografie-Kultur vor der digitalen Ära war. | |
## Empfindliche Luxusgegenstände | |
Das beginnt schon mit den zu Beginn des Ausstellungsrundgangs | |
präsentierten, relativ winzigen Daguerreotypien mit Porträts oder | |
Familienbildnissen aus der Frühzeit des Mediums um die Mitte des 19. | |
Jahrhunderts. Sie waren empfindliche Luxusgegenstände, die meist mit | |
speziell angefertigten Rahmen oder Etuis mit Samtauskleidung im | |
Vorderdeckel gegen etwaige Beschädigungen geschützt wurden. Die Bildträger | |
sind einem ständigen materiellen Wechsel unterworfen. An den Objekten in | |
den Vitrinen lässt sich eine kleine Technikgeschichte der Fotografie | |
ablesen. Das ist so geblieben: Bis heute ist die Fotografie durch ständige | |
Innovation getrieben. | |
Als Kern ihrer Sammlung beschreiben die Herzogs „die Geschichte der | |
Menschen in der Industriegesellschaft in Photographien seit 1839“. Das | |
stimmt. Alle Bereiche des Alltags erscheinen von der Fotografie | |
durchdrungen: Familie, Arbeit, Freizeit, Reisen, Konsum, Wissenschaft und | |
so weiter. Fotografie wird hier aber nicht nur als Dokumentationsmedium der | |
Industriegesellschaft greifbar – sondern aufgrund der ihr selbst | |
eingeschriebenen industriellen Produktionslogik auch als Teil und | |
Katalysator der Modernisierung. | |
Wie in einen Hohlspiegel blickt man auch in die Abgründe der Moderne: Die | |
Schrecken von Krieg oder Kolonialismus etwa finden sich hier ebenso | |
fixiert. „Der erste Tote“ steht etwa lapidar unter einem Foto in einem | |
Album eines Wehrmachtssoldaten aus dem Zweiten Weltkrieg geschrieben. Man | |
fröstelt unwillkürlich beim Betrachten des überbelichteten Abzugs mit dem | |
altmodischen Büttenrand. | |
## Ohne Ende | |
Man müsse es aushalten, dass die Sammlung an kein Ende kommen könne, sagt | |
Peter Herzog in einem Video, das auf einem Monitor im Loop läuft. In der | |
effektvoll ausgeleuchteten Präsentation in Basel ist von der Sammelwut und | |
der Bodenlosigkeit nicht mehr viel zu spüren. Die Schau trägt eher den | |
Charakter objektivierender Sachlichkeit. So muss das in einem Museum wohl | |
auch sein, dass sich über das Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen, | |
Vermitteln definiert. | |
2015 wurde die Foto-Sammlung der Herzogs vom Basler [2][Architekturbüro | |
Herzog & de Meuron] übernommen und bleibt somit sozusagen in der Familie. | |
Denn Peter Herzog ist der Bruder von Jacques Herzog, dem einen Teil des | |
international bekannten Basler Architekten-Duos. Als eigenständige | |
Abteilung gehört das Konvolut seither zum Jacques Herzog und Pierre de | |
Meuron Kabinett, einer Stiftung, in der alle Werke, Archivstücke, Pläne und | |
Modelle des Architekturbüros zusammengefasst und in der Stadt gehalten | |
werden sollen. Mit dieser Erwerbung wurde eine sorgfältige Katalogisierung, | |
Erforschung und Digitalisierung der Sammlung in Angriff genommen. Parallel | |
zur Ausstellungseröffnung gingen Teile der Sammlung unter der Adresse | |
„[3][fotosammlung.com]“ erstmals online. | |
„The Incredible World of Photography“ ist in zwei große Ausstellungskapitel | |
unterteilt: Während sich der erste Teil als eine Hommage an das Sammlerpaar | |
Herzog lesen lässt, wird im zweiten Teil untersucht, wie sich die | |
Alltagsfotografie und die Sammlung des Museums durch Gegenüberstellungen | |
miteinander sinnvoll in Beziehung setzen lassen. Hier sticht vor allem die | |
Autofarben-Serie des kürzlich gestorbenen kalifornischen Konzeptkünstler | |
John Baldessari heraus. Mitte der Siebziger fotografierte Baldessari, | |
nachdem er das Atelier verlassen hatte, die verschiedenen Lackierungen der | |
Autos in Nahaufnahme, die in seiner Straße geparkt waren. In dem so | |
entstandenen halben Dutzend fotografischer Farbfelder hinter Plexiglas | |
gehen Humor, Konzept und Beiläufigkeit eine sehr glückliche Verbindung ein. | |
So gelang es Baldessari, selbst der radikalen Autostadt Los Angeles | |
flanierend einen malerischen Moment abzutrotzen. | |
22 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /War-Games-im-Kunstmuseum-Basel/!5505556 | |
[2] /Herzog--de-Meuron-gewinnen-Wettbewerb/!5674541 | |
[3] https://www.fotosammlung.com/collection.html | |
## AUTOREN | |
Kito Nedo | |
## TAGS | |
Fotografie | |
Geschichte | |
Ausstellung | |
Alltag | |
Paris | |
Digital | |
Fotografie | |
zeitgenössische Fotografie | |
Kunst | |
Berghain | |
Museum für Photographie Braunschweig | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Berliner Hort der analogen Fotografie: Der Schwarzweißfilm unvergessen | |
Bei Fotoimpex in der Alten Schönhauser hält man es mit dem Fotografieren | |
genau so wie früher: analog. Das nötige Material gibt es aber auch online. | |
Fotografie aus den USA: Artefakte der Armut | |
Die Gesellschaft hat die Orientierung verloren. Fotografien aus den USA von | |
Jerry Berndt und Matt Black sind in Hamburg zu sehen. | |
Retrospektive zu Michael Schmidt: Rau, düster und voller Poesie | |
Frei von Voyeurismus erforschte Michael Schmidt mit der Kamera Berliner | |
Lebensräume. Der Hamburger Bahnhof widmet ihm eine Retrospektive. | |
Fotografieausstellung in Bielefeld: Farbgewaltige Emanzipationen | |
Das Kunstforum Hermann Stenner widmet Josef Schulz eine Einzelausstellung: | |
„Spectrum. Architektur. Landschaft. Fotografie“. | |
Kunst trotz Corona im Berghain: Klangrausch in der Kathedrale | |
Die Klanginstallation „Eleven Songs“ in der Halle am Berghain wird zum | |
Besuchermagneten – nicht nur, aber wohl auch durch ein Missverständnis. | |
Fotografie zwischen Fiktion und Realität: Im Bett mit Monsieur Bovary | |
Bilder, die eher Rätsel aufgeben, als etwas zu erklären: Das Photomuseum in | |
Braunschweig zeigt „Illusionen der Beobachtung“. | |
Bildband zur Bewegung 2. Juni: 40 Jahre später | |
Arwed Messmer hat zur Entführung von Peter Lorenz und der Bewegung 2. Juni | |
unbeachtete Negative aus dem Berliner Polizeiarchiv gesichtet. | |
Ausstellung „Kreuzberg – Amerika“: Eine künstlerische Luftbrücke | |
Das C/O Berlin im Amerikahaus widmet der legendären Werkstatt für | |
Photographie (1976–1986) eine umfassende Werkschau. |