| # taz.de -- Fotografie aus den USA: Artefakte der Armut | |
| > Die Gesellschaft hat die Orientierung verloren. Fotografien aus den USA | |
| > von Jerry Berndt und Matt Black sind in Hamburg zu sehen. | |
| Bild: „Detroit 1970“ heißt diese Aufnahme von Jerry Berndt | |
| Der Hund kackt. Ein einsamer Schäferhund hockt auf einer verregneten | |
| Asphaltfläche und entleert seinen Darm, pressend, die Knie in demütiger | |
| Haltung eingeknickt. Ansonsten ist auf Jerry Berndts Fotografie „Detroit, | |
| 1970“ nichts zu erkennen, einzig am oberen Bildrand zeichnet sich eine | |
| Struktur ab, eine Pfütze vielleicht, Schatten, womöglich zwei | |
| Laternenmasten. | |
| Es gibt einige solcher Bilder in Berndts Werkschau „Beautiful America“ im | |
| Hamburger Haus der Photographie: Bilder, die ein starkes Zentrum haben, das | |
| ein wenig davon ablenkt, dass das wirklich Interessante außerhalb des | |
| Bildes passiert, Stillleben eines Landes, das die Orientierung verloren | |
| hat. Da steht ein zerbeultes Fahrzeugwrack am Rande einer Autobahn oder ein | |
| kaputter Sessel in einer Parkbucht, menschenleere Arrangements, die auf | |
| eine ganz andere Leere hinter den Bildern verweisen. | |
| [1][Der 1943 geborene Berndt] zeigt die USA, in denen Perspektivlosigkeit | |
| und Armut einen Zustand der Agonie erzeugt haben. Er bedient sich dabei | |
| einer so strengen wie wirkungsvollen Ästhetik: immer schwarzweiß, immer | |
| kleines Format, immer Bildtitel, die gerade mal Jahr und Ort verraten. | |
| „Detroit, 1970“. | |
| Jerry Berndt vertritt eine konsequent dokumentarische Ästhetik, das macht | |
| die Ausstellung „Beautiful America“ anschlussfähig an frühere | |
| Präsentationen in Hamburg, wo man nach und nach die großen Vertreter*innen | |
| der Dokumentarfotografie abbildet, vornehmlich in ihrer US-amerikanischen | |
| Ausprägung. Aber der 2013 in Paris verstorbene Berndt beschränkte sich | |
| nicht auf die Rolle des Beobachters, seine Aufnahmen sind auch Aktivismus. | |
| Immer wieder treten Bilder des politischen Widerstands in seine von Armut | |
| und Tristesse geprägten Stillleben: eine Gruppe Demonstranten in „Boston, | |
| 1979“, von denen einer die Zeitung Socialist Worker in die Kamera hält, ein | |
| Polizist mit fliegendem Knüppel in „Seabrook, 1979“. Frappierend, wie diese | |
| fast ein halbes Jahrhundert alten Bilder von Polizeigewalt aktuellen | |
| Aufnahmen gleichen – und wie die Ausstellung hier den Übergang zu aktuellen | |
| Positionen vollzieht. | |
| ## Schmerzhafte Klarheit | |
| Eine zweite Präsentation im Haus der Photographie, das den Deichtorhallen | |
| angegliedert ist, stellt das Langzeitprojekt „American Geography“ des 1970 | |
| geborenen Matt Black vor. Black bereist seit einigen Jahren Kommunen in den | |
| USA, deren Armutsquote über 20 Prozent liegt, und produziert hierbei | |
| Bilder, die inhaltlich Berndts deutlich älteren Aufnahmen nahekommen. | |
| „American Geography“ durchmisst ein Land, in dem die Armut ein | |
| strukturbildendes Merkmal darstellt. „Armut ist in den USA keine Ausnahme, | |
| sondern Teil des Systems“, beschreibt Deichtorhallen-Intendant Dirk Luckow | |
| den Komplex. | |
| Blacks Ästhetik ist dabei weniger dokumentarisch, sondern stärker | |
| künstlerisch motiviert. Die schon bei Berndt kontrastreichen Aufnahmen sind | |
| hier in eine nahezu schmerzhafte Klarheit übersteigert, die Tiefenschärfe | |
| schafft eine unwirkliche Atmosphäre. Dazu kommt ein Hang zu übergroßen | |
| Panoramaformaten, so dass die Armut des Gezeigten ästhetisiert wirkt, schön | |
| gar. | |
| Die Fassade eines verlassenen Lagerhauses in Helena, Arkansas (2019), | |
| erscheint als riesige, monochrome Schattenfläche, freigestellte Details wie | |
| ein Feuerzeug, ein Fächer oder ein Löffel wie Artefakte der Armut. | |
| Flankiert wird die Ausstellung von Tagebucheinträgen Blacks auf seinen | |
| Roadtrips sowie einer Installation, die die Armutsquoten der besuchten | |
| Städte auflistet: Yettem, Kalifornien, 63 Prozent. Quemado, New Mexico, | |
| 60,9 Prozent. Immokalee, Florida, 43,4 Prozent. Aber auch Cleveland (36 | |
| Prozent) oder Los Angeles (21,5 Prozent) tauchen auf. Die Armut ist hier | |
| eine statistische Größe, die Statistik verschlägt einem den Atem. | |
| Bilder des Widerstands gibt es keine mehr bei Black, die Menschen scheinen | |
| sich in ihrer Misere eingerichtet zu haben, meist um den Preis | |
| selbstzerstörerischen Verhaltens. Eine Antwort auf dieses Phänomen entdeckt | |
| man in einer Arbeit Berndts: In der Serie „Missing Persons – The Homeless“ | |
| porträtiert er Obdachlose aus den Jahren 1983 bis 1985, und anders als | |
| sonst gibt es hier längere Bildtitel. Ein Foto einer armen Familie vor ein | |
| paar Tellern Linsen trägt die sarkastische Unterschrift „The Father Said, | |
| OK, We’ve Had Some Bad Luck, But We’ll Make It Somewhere“. In diesem | |
| trotzigen Optimismus steckt die ganze Fatalität der armen US-Bürger*innen: | |
| Die Armut wird als „kein Glück“ verharmlost, aber irgendwie geht es weiter. | |
| Dass es nur in noch größere Armut weitergeht, zeigen Matt Blacks 30 Jahre | |
| später entstandene Fotografien. | |
| ## Obszöner Reichtum | |
| Kurator Ingo Taubhorn stellt „American Geography“ in eine Reihe mit anderen | |
| Roadtrips der US-amerikanischen Kultur: Jack Kerouacs Roman „On The Road“, | |
| Dennis Hoppers Film „Easy Rider“, die [2][Fotografien des (freilich in der | |
| Schweiz geborenen) Robert Frank]. | |
| Aber es gibt einen weiteren inhaltlichen Bezug: Die Fotoserie | |
| [3][„Generation Wealth“ von Lauren Greenfield,] die voriges Jahr im Haus | |
| der Photographie zu sehen war. Greenfield bildet eine auf Statussymbole, | |
| Geld und billigen Luxus fixierte Gesellschaft ab, geschmacklos und vulgär – | |
| und zeigt damit einen Gegenpol zu dem Bildern von Berndt und Black. Mehr | |
| noch: Das in „Generation Wealth“ porträtierte Amerika ist das Amerika, in | |
| dem Figuren wie Donald Trump zu Einfluss kommen konnten, und [4][Trumps | |
| obszöne Reichtumsinszenierung] benötigt als Gegengewicht dringend die | |
| Armut. Angesichts der Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten am 3. | |
| November bekommen „Beautiful America“ und „American Geography“ einen | |
| tagesaktuellen Bezug. | |
| Und vielleicht gibt es doch eine Renaissance des Widerstands? Mit | |
| „#ProtestsGoViral“ existiert eine winzige, dritte Ausstellung im Haus der | |
| Photographie: sechs Screens, auf denen Instagram-Feeds ablaufen, zu | |
| Hashtags wie „#BlackLivesMatter“, „#SayTheirNames“ oder | |
| „#MakeAmericaGreatAgain“. | |
| Das ist dann die dritte Generation der sozial engagierten US-Fotografie, | |
| neben den dokumentarischen Armutsbildern Berndts und den ästhetischen | |
| Überhöhungen aus Blacks Roadtrips. Zu sehen sind Proteste, bissige | |
| Karikaturen, aber auch, wie leicht sich Hashtags von der Gegenseite kapern | |
| lassen und die Intentionen der Widerstandsästhetik in ihr Gegenteil | |
| verkehren können. | |
| „#ProtestsGoViral“ sollte man dabei nicht als eigenständige künstlerische | |
| Position missverstehen, kuratiert werden hier nicht die eigentlichen | |
| Fotografien, sondern die Hashtags, die die Bilderflut filtern. Aber als | |
| kluge Ergänzung zu den beiden großen Künstlerpräsentationen funktioniert | |
| die Instagram-Ausstellung. Und wirft so ein Schlaglicht auf eine zutiefst | |
| verunsicherte US-amerikanische Gesellschaft, kurz vor der Wahl. | |
| 30 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Falk Schreiber | |
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