# taz.de -- Graphic Novel zur Präsidentschaftswahl: Die Qualen der Wahlen | |
> Als Trump gegen Hillary Clinton gewann, verarbeitete James Sturm seinen | |
> Schock in einer Graphic Novel. Jetzt ist sie auf Deutsch erschienen. | |
Bild: James Sturms Graphic Novel ist zwar im letzten Wahlkampf entstanden, aber… | |
Geschenke sagen meist mehr über die Schenkenden aus als über die Empfänger. | |
Mark und Lisa, ein Paar mit zwei Kindern, das sich gerade getrennt hat, | |
feiert Weihnachten bei Marks Eltern. Dessen Vater haben sie eine | |
Küchenschürze mit dem Spruch „Will cook for Beer“ ausgesucht; doch das | |
Geschenk des Bruders, eine Basecap, stößt Lisa vor den Kopf. „Make America | |
great again“ prangt darauf. Während Marks Vater die politische Anspielung | |
gar nicht bemerkt, ist Lisa gerade als [1][Wahlhelferin für Hillary Clinton | |
tätig] und not amused. | |
James Sturms Graphic Novel „Ausnahmezustand“ erschien zunächst kapitelweise | |
im US-Onlinemagazin Slate 2016, im Zeitraum der US-Vorwahlen und des | |
Wahlkampfs zwischen Hillary Clinton und Donald Trump. 2019 erschienen die | |
im Original „Off Season“ (Nebensaison) genannten Episoden dann als | |
gebundenes Buch. Heute kann man sie als Zeitdokument lesen, das | |
unterschwellig den Gemütszustand einer gespaltenen Gesellschaft bloßlegt. | |
Der 1965 in New York geborene Comiczeichner James Sturm wurde in den USA | |
vor allem durch seine preisgekrönte „America“-Trilogie bekannt, die | |
zwischen 1996 und 2001 erschien und sich mit der nordamerikanischen | |
Geschichte beschäftigte. 2005 gründete er in Vermont eine der ersten | |
Ausbildungsstätten für Comiczeichner, das Center for Cartoon Studies, in | |
denen neben Storm Künstler wie Jason Lutes oder [2][Art Spiegelman] lehren. | |
In Deutschland war bisher nur eine Graphic Novel, „Markttag“ (Reprodukt | |
2011), erschienen. Darin erzählte Sturm auf unaufgeregte Weise und in | |
klarem Zeichenstil von der Existenzkrise eines jüdischen Händlers in einem | |
Schtetl in Osteuropa Anfang des 20. Jahrhunderts. „Ausnahmezustand“ ist | |
also auch eine Ausnahme im Werk James Sturms, der sonst eher historische | |
Stoffe als Grundlage wählt. | |
## Geschichte eines traurigen Mannes | |
Er begründet seinen Wechsel zu einem gegenwärtigen Stoff mit dem damals als | |
Schock empfundenen politischen Wandel: „Ich habe mich nur noch mit dem | |
Wahlkampf beschäftigt, hing ständig am Handy und habe die News verfolgt. | |
Ich glaube nicht, dass ich mich auf etwas anderes hätte konzentrieren | |
können, also habe ich meine Geschichte in der Gegenwart platziert. So | |
konnte ich besser verstehen und verarbeiten, was in meinem Land vor sich | |
ging.“ | |
Die Episoden werden aus der Sicht Marks erzählt, der wie alle Figuren | |
dieses Bandes als anthropomorpher (vermenschlichter) Hund gezeichnet wird – | |
mit diesem Kunstgriff erreicht Sturm, seine realitätsnahe Geschichte zu | |
einer allgemeingültigen zu überhöhen. | |
In stimmungsvollen, schwarz-weiß-gräulichen Bildern entwickelt er die | |
unspektakuläre Geschichte eines traurigen Mannes, der seine Frau und seine | |
beiden Kinder sehr liebt, sich aber allmählich mit der Trennung abzufinden | |
versucht. Die genauen Gründe hierfür werden ausgespart, jedoch wird | |
angedeutet, dass die Eheleute nicht aus derselben gesellschaftlichen | |
Schicht stammen. Beide hatten zunächst den Demokraten Bernie Sanders | |
unterstützt, doch mit der Unterstützung für Hillary Clinton durch seine | |
Frau ist Mark nicht zufrieden, möglicherweise will er sie auch nicht | |
wählen. | |
Nur in einem Panel der Episode „Das TV-Duell“ ist Trump selbst im Fernsehen | |
zu sehen, ebenfalls als Hund in eitler Pose gezeichnet, der sich für eine | |
„lebensbejahende“ Richterin ausspricht. Mark sitzt vor der Glotze und | |
kommentiert die Zitate nicht. | |
James Sturm zeigt ihn im alltäglichen Kampf – als sich kümmernder Vater, um | |
prekäre Jobs, in Schwierigkeiten, seinen Lohn von windigen Auftraggebern | |
einzutreiben. Aufgrund seiner sich zuspitzenden Krise stößt er immer | |
häufiger an seine Grenzen, droht auszurasten. | |
## Soziale Kälte | |
Trotz dieser verzweifelten persönlichen Situation zeichnet Sturm mit Mark | |
nicht das Porträt eines (potenziellen) Trump-Wählers. Es ist vielmehr das | |
eines Durchschnittsamerikaners, der sich in einem sozial kalten Amerika mit | |
harten Bandagen durchschlagen muss. Oft bleiben kleine Leerräume im | |
Erzählfluss, die der Leser mit eigenen Schlussfolgerungen ausfüllen kann. | |
Fast durchgängig zeichnet Sturm in dem querformatigen Buch zwei gleich | |
große Panels auf einer Seite, die am oberen Rand von Kommentaren Marks | |
begleitet werden, die oft konträr zum Bildinhalt stehen. | |
Am Ende schimmert trotz des bekannten Ausgangs der Wahlen von 2016 ein | |
wenig Hoffnung. Sturm gelingt mit „Ausnahmezustand“ eine mit wenigen | |
pointierten Strichen gezeichnete, tiefgehende Charakterstudie, die an die | |
fragilen literarischen Männerporträts des US-Autors Richard Ford erinnert. | |
3 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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