# taz.de -- Leben in den USA: All together now | |
> Wer die USA verstehen will, muss die Bedeutung der ethnischen Zuordnung | |
> anerkennen. Unser Autor hat es bei seiner Jobsuche erlebt. | |
Bild: Arbeiten im Burgerladen – ein anstrengender Job | |
„I am not prejudiced“, sagte mein amerikanischer Vater immer, „ich hab | |
keine Vorurteile“; und vielleicht glaubte er das auch. Er war in den 1930er | |
Jahren im Süden der USA mit der Rassentrennung aufgewachsen. Ich, eines | |
seiner drei deutschen Kinder, protestierte, wenn er das N-Wort verwendete. | |
Ich fühlte mich aufgeklärt, immun gegen Rassismus. Als ich später einmal | |
länger in den USA blieb und am Rattenrennen um die Scheißjobs teilnahm, hat | |
mir die Rassentrennung ihre Regeln beigebracht. | |
Frühling/Sommer 2003 in Milledgeville, einer kleinen Stadt in Georgia. Ich | |
machte 12-Stunden-Schichten in einer Textilfabrik. Die Arbeiter waren fast | |
alles Afroamerikaner, die Mechaniker mit einer Ausnahme Weiße. Ich lernte, | |
eine Maschine mit über hundert riesigen Spindeln am Laufen zu halten und | |
dass ich als weißer Arbeiter in den Pausen nicht bei den anderen Arbeitern | |
sitzen soll, sondern bei den weißen Mechanikern. In dem Punkt waren sie | |
sich einig. | |
Bevor ich in der Fabrik anheuerte, hatte ich in einem Wendy’s-Restaurant | |
Hamburger gebraten. Alle Crew Member dort außer mir waren Schwarze, die | |
Manager weiß. Bei den Weißen war ich ein Niemand, weil ein Fremder, bei den | |
Schwarzen auch, weil ich in einem so beschissenen Job arbeitete. | |
Charles war anders. Er war schon älter und hatte viele Striche und Flecken | |
auf seinen Armen, Brandzeichen von Grill und Fritteuse. Charles konnte alle | |
Positionen in der Küche und sprang ein, wo es gerade hakte. Auf seinem | |
Namensschild stand „Mister Charles“, also nur der Vorname und ein „Mister… | |
davor. Auf diese Weise spricht man in den Südstaaten eine respektable | |
Persönlichkeit an, den Kopf dabei leicht neigend. Mister Charles’ Auftreten | |
war nicht Respekt erheischend. Er scherzte, tänzelte von einer Station zur | |
nächsten und sang seine Kommandos, wenn es hoch herging: „Anybody – | |
somebody – pleeaase! A Junior – Bacon – Cheese!“ | |
## Autos waschen für Essen | |
Wenn er mit den Chefs sprechen musste, setzte er eine blödsinnige Miene | |
auf, sagte immer „Yes Sir!“ und nie Nein. Die anderen Schwarzen, alle | |
jünger als Charles, lachten selten. Sie hatten ihre Miene auf ausdruckslos | |
geschaltet, wenn sie von den Managern angeschissen wurden. Charles haben | |
sie geschnitten. | |
Ich habe Charles mitgenommen, wenn wir zur selben Zeit fertig waren. Er | |
hatte kein Auto und wohnte nicht weit entfernt von meinem gemischten | |
Trailerpark in einer schwarzen Nachbarschaft. Er stieg immer schon am | |
Highway aus und ging den Rest des Weges zu Fuß in sein Wohngebiet. Er | |
wollte nicht, dass seine Nachbarn sehen, dass er bei einem Weißen mitfährt. | |
In den USA stehen oft College-Kids auf einem Parkplatz und waschen Autos | |
für fünf Dollar. Sie sammeln so Spenden für ihren Studierendenclub oder | |
ihre Kirche. Früher haben das in Milledgeville arme Kinder für einen | |
Vierteldollar gemacht, weil sie das Geld fürs Essen auf dem Tisch | |
brauchten. Es war damals üblich, dass die Autowäscher abends dem Eigentümer | |
des Parkplatzes die Hälfte der Einnahmen geben. | |
Einer meiner Onkel, Wendell Deason, hat in Milledgeville in den Fünfzigern | |
bis in die achtziger Jahre viele Geschäfte betrieben, darunter auch legale | |
wie „Deason’s Barbecue Restaurant“. Mein Wendy’s-Kollege Charles erzäh… | |
einmal, er habe als Kind öfter auf dem Parkplatz vom Deason’s Autos | |
gewaschen und Mister Wendell hätte ihm nie das Geld für die Parkplatzmiete | |
abgeknöpft. „He would say he likes a n. who is working“, sagte er mir mit | |
seinem ernsten Gesicht, das er nur aufhatte, wenn er nicht in „Wendy’s Old | |
Fashioned Hamburgers Restaurant“ Baumwolle pflücken musste. | |
## Ein Job reicht nicht | |
Im Herbst setzte ich mich in einen klapprigen Buick und fuhr nach Chicago. | |
Ich fand ein Zimmer für 400 Dollar im Monat in einem Männerwohnheim in der | |
Near Northside. Meine Mitbewohner waren frisch entlassene Strafgefangene, | |
unheilbar Kranke, aber auch ein versoffener ehemaliger Radiosportreporter. | |
Er war immer aufdringlich nett zu mir, damit ich ihm aus meinem Zimmer eine | |
Tasse Kaffee brachte: Er hatte so viel Schnapsdurst, dass kein Geld für | |
Getränke übrig blieb. | |
Damals liefen gerade die Baseball-Play-Offs und alle drehten völlig durch, | |
weil die Chicago Cubs erstmals seit Jahrzehnten im Halbfinale standen. Wenn | |
eines der Spiele lief, saß der Ex-Radiomann mit rot verschwitztem Gesicht | |
in der Pförtnerloge des Männerwohnheims, guckte in den Bildschirm eines | |
kleinen Schwarz-Weiß-Fernsehers und brüllte eine gekonnte Live-Reportage | |
durch die Gänge. Nach drei Tagen hatte ich den ersten Job gefunden, | |
Telefonist bei einem Pizzalieferdienst, aber die Stunden reichten nicht, | |
ich brauchte noch einen zweiten. | |
Ich klapperte also weiter alle Läden in der Gegend ab. Ich ging in ein | |
Geschäft hinein, füllte einen Bewerbungsbogen aus und kam jeweils drei Tage | |
danach zurück und fragte nach. Bei „Einstein Bros. Bagels“ haben sie mich | |
den Bewerbungsbogen vier Mal ausfüllen lassen, „Oh! Der muss | |
verlorengegangen sein!“, dann erst fiel mir auf, dass in dieser Filiale | |
alle Mitarbeiter Schwarze waren. Bei Dunkin’ Donuts waren alles Pakistanis, | |
im China-Restaurant Asiaten und so weiter. | |
Einmal hätte es in einem Delikatessen-Shop mit Bar fast geklappt, der | |
Senior-Chef fand mich, Mitte 30, hochgewachsen, schlank, bereits angegraut | |
und mit Akzent, zum Barkeeper geeignet. Barkeeper bekommen viel Trinkgeld, | |
wenn sie sich von Melancholikern zulabern lassen. Aber sein Sohn war | |
anderer Meinung. Sie diskutierten das vor mir, der Vater sprach Polnisch | |
oder Russisch und der Sohn antwortete immer wieder, auf Englisch: Vater! Er | |
ist Deutscher! – Brschtnokruschklukoi. – Aber er ist doch Deutscher!? | |
In einer Tankstelle mit Minisupermarkt gab die Frau hinter dem Tresen | |
meinen Bewerbungsbogen gleich zum Chef ins Büro. Der kam damit lachend | |
heraus, auf seinem Namensschild stand Jacobson, und sagte: „Sie haben einen | |
großartigen Sinn für Humor, Sir! Brillant! Und ich dachte immer, die | |
Deutschen haben keinen Humor!“ Er gab mir einen Schokoriegel und ging | |
zurück in sein Büro. | |
## Deutsch sprechen für den Job | |
Ich beschloss, meine Strategie der hiesigen Folklore anzupassen. In der | |
Fernsprechzelle in meinem Männerwohnheim suchte ich im Telefonbuch nach | |
„German Restaurant“. Gleich beim ersten Anruf wurde ich für denselben | |
Nachmittag einbestellt. Es war eine schäbige Zweigniederlassung der | |
traditionsreichen „Glunz Taverne“. Mister Glunz war persönlich da und | |
stellte mich der Frau hinter der Bar vor, einer jungen Regensburgerin. Ich | |
sollte mit ihr Deutsch sprechen. Ich redete sie derb Bairisch an, sie | |
lachte und ich hatten endlich meinen zweiten Job. | |
Im Pizzakeller saß ich in der Telefonbuchte und nahm Bestellungen entgegen. | |
Wir waren abends immer drei Telefonisten im Keller, alles weiße | |
US-Amerikaner. Die Frau in der Vorküche war eine Russin, die Pizzabäcker | |
waren Mexikaner und die Fahrer Türken, bis auf einen weißen und einen | |
schwarzen Armeeveteranen. Die ältere Frau am Telefon sagte, sie sei | |
„polnisch“, und meinte damit, dass ihre Vorfahren aus Polen gekommen waren. | |
Sie wollte wissen, was ich sei. Deutscher, sagte ich. Das ist toll, meinte | |
sie. Warum, fragte ich. Sie konnte nicht verstehen, dass ich mein Vaterland | |
nicht liebe. | |
Jeden Abend stieg ein Polizist mit irischem Namen breitbeinig die Treppe | |
herunter in den Pizzakeller, begrüßte den Supervisor mit ein paar | |
hochmütigen Bemerkungen, die türkischen Fahrer mit einer Handbewegung und | |
uns Telefonisten gar nicht. Er gab in der Vorküche seine Bestellung ab und | |
bekam zehn Minuten später einen Stapel verpacktes Essen. Er ging, ohne zu | |
bezahlen, ließ nur ein paar Dollar Trinkgeld da. | |
Eingestellt hatte mich ein Vietnam-Veteran, etwa 60 Jahre alt und aus dem | |
Süden. Ich hatte angefragt, weil ein „Help Wanted“-Schild im Fenster hing. | |
Geht nicht, sagt er, wir suchen jemanden für die Pizzaküche und die da | |
hinten sprechen nur Spanisch. Er las trotzdem aufmerksam meinen | |
Bewerbungsbogen, fragte, warum ich in Georgia gewesen sei, nach meinem | |
Vater und nach Vietnam. Korea, sagte ich, mein Vater war in Korea, bevor | |
sie ihn nach Deutschland schickten. Er gab mir trotzdem einen Job, hinten | |
bei den verkrachten Weißen am Telefon. | |
Der andere Supervisor war ein alter Italiener, der mich immerzu | |
anschnauzte. Meistens hat er mich schon am frühen Abend nach Hause | |
geschickt. Der weiße Fahrer sagte, der Italiener würde die Deutschen | |
hassen. Der Krieg. Der Supervisor aus dem Süden ließ mich noch spät, wenn | |
schon keiner mehr anrief, weiter am Telefon sitzen, damit ich genug Geld | |
heimbringe. | |
Am Abend, bevor ich Chicago verlassen habe, hatte ich meine letzte Schicht | |
im Keller. Als gerade die Telefone nicht klingelten, ging ich vor die Tür, | |
eine rauchen. Als ich in meine Buchte zurückkam, lag eine Gute-Reise-Karte | |
neben dem Telefon. Darin ein Bündel Geldscheine, viele Eindollarnoten, ein | |
paar Fünfer und ein Zwanzigdollarschein. Drauf stand „Für Süßigkeiten und | |
Zigaretten“. Eingesammelt bei Weißen, Schwarzen, Türken, Mexikanern und | |
einer Russin. | |
4 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Pierre Deason-Tomory | |
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