| # taz.de -- Fotoausstellung in den Reinbeckhallen: Im Wartehäuschen des Lebens | |
| > Obdachlose, Arbeitende, Ruinen und Baustellen: „Berlin 1945–2000: A | |
| > Photographic Subject“ zeigt die Hauptstadt im beständigen Wandel. | |
| Bild: Ohne Titel (1980) aus der Serie „Berlin in einer Hundenacht“, 1977-19… | |
| Der steinerne Engel, das Haupt andächtig gebeugt, lässt den Blick vom Dach | |
| des Berliner Doms über die zerbombte Ruinenstadt schweifen. Auf der | |
| gegenüberliegenden Wand, im Kontrast zu Herbert Henskys Fotografie: | |
| [1][eine von Michael Wesely] mehrfach belichtete Baustelle des Potsdamer | |
| Platzes in den Neunzigerjahren. | |
| Hier, gleich zu Beginn von „Berlin 1945–2000: A Photographic Subject“ | |
| schließt sich der Kreis, den die Ausstellung in den Reinbeckhallen | |
| abzuschreiten versucht: von der Stunde null zur Wiedervereinigung, vom | |
| Neuanfang zum Wiederaufbau eines sich beständig erneuernden und | |
| verändernden Berlins. | |
| Berlin als Subjekt der Fotografie von 1945 bis 2000, das verspricht der | |
| Titel der Schau. Und natürlich, das gibt Kuratorin Candice M. Hamelin gern | |
| zu, dieses Thema wird man in einer einzigen Ausstellung niemals komplett, | |
| nicht einmal umfassend darstellen können. | |
| Deshalb hat die in Berlin lebende US-Amerikanerin ihre Ausstellung nicht | |
| nur in drei Abschnitte unterteilt – vor dem Mauerbau, während der Mauer | |
| 1961 bis 1989 und nach dem Fall der Mauer bis zum Jahrtausendwechsel –, | |
| sondern sich vor allem auf eine Auswahl von 24 Fotografinnen und Fotografen | |
| beschränkt. | |
| ## Zwischen Dokumentar-, Presse- und Straßenfotografie | |
| Die unvermeidbare Unvollständigkeit fällt sofort ins Auge, weil jemand wie | |
| Harald Hauswald fehlt, dessen ikonische Fotos von den Ostberliner Straßen | |
| aus den letzten Jahren der DDR parallel in einer großen Retrospektive des | |
| Ostkreuz-Fotografen im c/o Berlin zu sehen sind. Trotzdem ist das Spektrum, | |
| das „Berlin 1945–2000“ abzudecken vermag, erstaunlich breit. | |
| Ob Dokumentarfotografie oder experimentelle, künstlerische Fotografie oder | |
| Porträts, Presse-, Architektur- oder Straßenfotografie, nahezu alle Genres | |
| finden sich in den Reinbeckhallen – fotografiert von prominenten Namen wie | |
| Sibylle Bergemann, Arno Fischer, [2][Nan Goldin] oder Will McBride, aber | |
| auch vergleichsweise unbekannten FotokünstlerInnen. | |
| Einer dieser weniger prominenten Namen ist der von Maria Sewcz. Die Arbeit | |
| der Fotografin, sagt Hamelin, stand für sie am Beginn der | |
| Ausstellungsplanung. Die Bilder, die die gebürtige Schwerinerin in den | |
| späten achtziger Jahren in Ostberlin gemacht hat, zeigen junge Menschen, | |
| deren Gesichter nur verdeckt oder im Anschnitt zu erkennen sind. | |
| Es sind Menschen, die wie auf Abruf wirken im Wartehäuschen des Lebens. Auf | |
| der Rückseite der Wand, an der Sewcz’ Bilder hängen, ist eine nahezu | |
| entgegengesetzte Arbeit zu sehen: die von Karl-Ludwig Lange streng | |
| formalistisch abgebildeten Ladenfronten der Oranienstraße in den siebziger | |
| Jahren, in denen man Menschen vergeblich sucht. | |
| ## Keine Dichotomie zwischen Ost und West | |
| Einmal Ost – einmal West, verschiedene Jahrzehnte, anderes Sujet und Genre, | |
| und doch treten die beiden Arbeiten miteinander in Dialog, weil sie jeweils | |
| von Gruppen erzählen, die keine laute Stimme besaßen: zum einen die von | |
| einem Staat unter Mehltau desillusionierten DDR-Bürger, zum anderen die | |
| sogenannten „Gastarbeiter“ – und beide befinden sich in einem mentalen | |
| Schwebezustand zwischen Hier und Dort, zwischen Ankommen und Weggehen. | |
| Aber Hamelin ist wichtig, dass sie „keine Dichotomie zwischen Ost und West | |
| herstellen“ will, sondern dass sich die Arbeiten gegenüberstehen und | |
| gegenseitig kommentieren, dass sie sich ergänzen und vielleicht sogar | |
| widersprechen. Das gelingt ihr in der Ausstellung sehr viel besser als im | |
| Katalog, in dem leider auch nur eine Auswahl der Bilder abgedruckt ist. | |
| Wer die von [3][Miron Zownir] fotografierten Trinker, Asozialen, SM-Freaks | |
| und andere Westberliner Nachtgestalten betrachtet hat und sich umdreht, | |
| dessen Blick fällt in den Reinbeckhallen nun direkt auf eine Serie, die | |
| bislang noch nie öffentlich zu sehen war: Roger Melis hat 1969 den | |
| Jüdischen Friedhof in Weißensee fotografiert und in den stillen Tableaus | |
| eindrucksvoll die schmerzhafte Abwesenheit des jüdischen Lebens in Szene | |
| gesetzt. Es ist, als würden die Außenseiter aus verschiedenen Zeiten und | |
| Orten miteinander zu sprechen beginnen. | |
| Mitunter ist die gegenseitige Bezugnahme offensichtlicher. Das Bild von | |
| Lothar Winkler mit Soldaten, die 1961 den Stacheldraht verlegen, der zum | |
| Antifaschistischen Schutzwall werden soll, korrespondiert mit dem von | |
| [4][Michael Schmidt] fotografierten Loch in der Mauer, durch das der Blick | |
| von Kreuzberg aus auf die Ostberliner Skyline fällt. | |
| Die Bilder des frisch im Nachkriegsberlin angekommenen US-Amerikaners Will | |
| McBride zeichnen ein ganz anderes Bild als die des [5][gebürtigen Berliners | |
| Arno Fischer]: Bei dem einen sind zupackende, skeptisch, aber selbstbewusst | |
| in die Kamera blickende, ja sogar fröhlich feiernde junge Menschen zu | |
| sehen, während die Protagonisten des anderen aus Ruinen unsicher in die | |
| Weite schauen. „Egal ob Ost- oder Westberliner, alle scheinen auf etwas zu | |
| warten, was außerhalb des Bildes liegt“, sagt Hamelin, die ihre | |
| Dissertation über Arno Fischer geschrieben hat, „während McBride zeigt, wie | |
| die Berliner in Bewegung sind und die neuen Möglichkeiten erkunden“. | |
| Diese Möglichkeiten, die sich immer wieder auftun, die verschlungenen Wege, | |
| die die Geschichte geht, und wie Berlin sich wandelt, entsteht und vergeht, | |
| dekonstruiert und aufgebaut wird, das ist das eigentliche Thema der | |
| Ausstellung. „Berlin 1945–2000: A Photographic Subject“ ist ein Porträt | |
| einer Stadt, aber vor allem eine Liebeserklärung an diese Stadt. | |
| 11 Oct 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Foto-Ausstellung-zu-Brasilia/!5120016 | |
| [2] /Fotografin-ueber-US-Opioidkrise/!5605942 | |
| [3] /Fotografie/!5235317 | |
| [4] /Retrospektive-zu-Michael-Schmidt/!5704480 | |
| [5] /Zum-Tod-des-Fotografen-Arno-Fischer/!5111124 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Winkler | |
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