# taz.de -- Ausstellung in Berlin: Provokante Popos | |
> Künstler Jürgen Wittdorf war in der DDR ein Star der Jugend – und wurde | |
> dann fast vergessen. Der KVOST läutet nun sein Revival ein. | |
Bild: Detail von Schablonendruck und Tusche auf Papier, von Jürgen Wittdorf, o… | |
Als Andy Warhol 1968 prophezeite, in der Zukunft werde jeder eine | |
Viertelstunde lang berühmt sein – da war die Viertelstunde Fame von Jürgen | |
Wittdorf (1932–2018) anscheinend schon vorbei: 1961 wurde sein zehnteiliger | |
Zyklus „Für die Jugend“ je 10.000-mal gedruckt – und Wittdorf war | |
kurzfristig weltberühmt, zumindest in der DDR. | |
[1][Die DDR-Jugend muss sich wohl], soweit man das von heute aus beurteilen | |
kann, verstanden gefühlt haben. Wittdorf zeigte sie nicht als | |
funktionierende Parteikader in spe, sondern als fühlende, verlangende, | |
begehrende, auch draufgängerische Menschen. Später hat er sich als schwul | |
geoutet. Offizielle Aufträge gab’s kaum noch. Wittdorf fiel weitgehend dem | |
Vergessen anheim, trotz einer Solo-Ausstellung im Schwulen Museum 2012/13. | |
Er starb 2018 in seiner schummerigen Wohnung in Friedrichshain, mit | |
Dutzenden seiner Werke an den Wänden, teils in billigsten Rahmen, eng | |
gehängt. | |
Es ist ein kleines Wunder, dass Jan Linkersdorff, einst Zeichenschüler | |
Jürgen Wittdorfs, mitbekam, dass Wittdorfs Nachlass-Bilder 2019 versteigert | |
werden sollten. Nicht als staatstragende, geschweige denn coole Kunst, | |
sondern als Trödel, alles andere als angemessen transportiert. Nun sind gut | |
hundert Bilder aus der Sammlung Linkersdorff [2][im KVOST] zu sehen: | |
„Lieblinge“ heißt die Schau, weil es, so kann man zumindest annehmen, die | |
Bilder sind, die Wittdorf zeit seines Lebens nicht verkaufen wollte. Die | |
(Fach-)Presse überschlägt sich geradezu vor Lob. Linkersdorff ist wohl ein | |
echter Coup geglückt, als er das Wittdorf-Revival eingeläutet hat. | |
Was ist nun zu sehen im KVOST? Gut hundert Arbeiten in wilder Petersburger | |
Hängung: Kreide, Aquarell und Drucke. Manchen Arbeiten sieht man die | |
wechselvollen, ruhmlosen Jahre an trotz der neuen Rahmen: Manches Papier | |
ist eingerissen oder knitterig. Erdtöne dominieren, aber auch kräftigere | |
Farben. Eine Trockenblumen-Federzeichnung. Immer wieder Elefanten, Zebras, | |
Kamele – zwei davon wie aus einem coolen Comic. Rhinozeros und Fische. | |
Fachwerkhaus mit Ente. Brot, Blumen, Bier und Taschenmesser. Der gebräunte | |
Seemann mit rot-weißem Halstuch könnte aus „Tim & Struppi“ entlaufen sein. | |
Menschen am Wasser vor einer Klippe. | |
Aber reden wir nicht drumherum: Die starken Eyecatcher sind natürlich die | |
Männerakte. Typen um die 20, seitlich, von vorne und von hinten. Einer legt | |
sich die Hand diagonal auf die Schulter. Ein anderer hat sie in die Hüfte | |
gestemmt. Oder vor der Brust verschränkt. Oder hinter den Popo gefaltet. | |
Eine andere Arbeit, die einen Bodybuilder zeigt, wirkt wie eine Stilübung | |
in sechs Posen. Ein „Tänzer“ (so der Titel der Arbeit) hat den Mund | |
sinnlich geöffnet. Die Hände sind hinter dem Hintern verschlossen. Man | |
imaginiert im Kopf rasch die Ballettstange hinzu ob der eleganten | |
Körperspannung – der eine unverschämte Leichtigkeit innewohnt. | |
Kein „Tom of Ostland“ | |
Da die Hängung keiner offenkundigen Chronologie oder Themenkapiteln zu | |
folgen scheint, ist es nicht direkt ersichtlich, aber: Später, in den | |
1980ern und 1990ern, hat Jürgen Wittdorf Männer auch in schwulen | |
Fetisch-Outfits gemalt: Lack und Leder, Nietengürtel. Zwei tragen einen | |
Harness, der sich um Hals und um den Schaft untenrum legt. Gummistiefel. | |
Die Hände hinterrücks sind womöglich SM-mäßig verbunden. | |
Es liegt nahe, das mit dem homoerotischen Zeichner Tom of Finland (der | |
übrigens in diesem Jahr 100 geworden wäre) zu vergleichen: „Tom of Ostland�… | |
wurde Wittdorf schon genannt. Einem zweiten Check hält das nicht stand: | |
Während Tom of Finland seine hypermaskulinen, muskelgestählten Typen | |
überzeichnet hat, hat sich Wittdorf nicht für liebevolle-stilisierende | |
Karikatur begeistert, sondern mehr für natürliche, auch zierliche | |
Proportionen. | |
Die Hängung entwickelt dann doch ihren eigenen Witz: Will uns das etwas | |
sagen, wenn ein stolzer Hahn (zu Englisch „cock“) posiert und auf den | |
Bildern nebenan die „Piephähne“ der Männer? Oder eine Wildsau unweit von | |
cruisenden Männern? Der Gesamteindruck in diesem Raum: frisch, belebend und | |
dem Leben zugewandt. Überraschend unheimlich sind hingegen die | |
eingestreuten Selbstbildnisse von Jürgen Wittdorf, der sich mitunter auf | |
eine Weise malt, als wäre er sich selbst nicht ganz geheuer. Tatsächlich | |
hat Wittdorf trotz seiner homoerotischen Motive lange mit dem eigenen | |
Coming-out gehadert. | |
Auf keinen Fall verpassen sollte man auch den etwas unscheinbaren vorderen | |
Raum im KVOST: Hier ist der „Zyklus für die Jugend“ zu sehen, auf dem | |
Halbstarke (wie man damals sagte) lümmelten oder im Jugendstil-Hauseingang | |
hinter einem Motorrad knutschen. So was hätte 1961 wohl auch in der BRD | |
provoziert, als man ja nicht mal eine Wohnung bekam, wenn man nicht verlobt | |
war. So wie der US-Regisseur Larry Clark in den 1990ern die Skaterszene | |
fasziniert fotografiert hat, hatte Wittdorf wohl Spaß daran, die Boys auf | |
ihre Bikes gestützt zu zeigen. | |
Ist er also der Larry Clark der DDR? Vielleicht sollte man all diese Labels | |
sein lassen und Wittdorf einfach als Wittdorf (wieder-)entdecken, auch in | |
seiner Vielschichtigkeit als Provokateur, der dennoch kurzfristig | |
DDR-staatlich respektiert wurde – und als einen, der in vielem ein | |
Konventioneller, aber in seinem Sinn für den Hedonismus der Jugend eben | |
auch ein Progressiver war. In jedem Fall hat Andy Warhol unrecht: Die | |
Viertelstunde ist längst vorbei, und Wittdorf ist da. Mehr denn je zuvor. | |
8 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Hochgesand | |
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