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# taz.de -- Retrospektive zu Michael Schmidt: Rau, düster und voller Poesie
> Frei von Voyeurismus erforschte Michael Schmidt mit der Kamera Berliner
> Lebensräume. Der Hamburger Bahnhof widmet ihm eine Retrospektive.
Bild: Michael Schmidt, o.T. aus „Berlin nach 45“ 1980 (Ausschnitt)
Für dieses Telegramm musste der Postmann hoffentlich nicht zweimal
klingeln. Was William Eggleston von Memphis aus in die Kreuzberger
Wartenburgstraße schrieb, hatte es in sich: „thank you for sending your new
book. i think it is wonderful and certainly the best work i have ever
received from berlin.“ Gewiss war auch seinerzeit schon klar, dass es sich
bei Michael Schmidts Fotobuch „Waffenruhe“ um die ungewöhnlichste
Festschrift handelte, die 1987 zu Berlins 750. Stadtjubiläum erschienen
ist.
Von seinem enthusiastischen Urteil müsste Eggleston aber auch drei
Jahrzehnte später nichts zurücknehmen. So verschlossen und spröde hatte bis
dahin noch kein Fotograf die geteilte Stadt gezeigt. Schmidts Wohnung lag
nur wenige Gehminuten von der Mauer entfernt. Er wusste offenkundig sehr
genau, was es hieß, im Windschatten des Kalten Kriegs zu leben. Sein Berlin
ist rau, düster, schweigsam – und gleichzeitig ist es voller Poesie.
Michael Schmidt ist der wohl unwahrscheinlichste deutsche Fotograf der
vergangenen fünfzig Jahre. Gewiss hatte auch in seiner Generation noch der
eine oder die andere autodidaktisch begonnen, wenn auch nicht alle wie
Schmidt währenddessen als Hauptwachtmeister der Bereitschaftspolizei
arbeiteten. Eine Kunstakademie jedenfalls hat er nie besucht. Nur die
wenigsten aber haben es verstanden, sich mit solcher Geduld über Jahre
hinweg einzelnen Projekten zu widmen, um sie schließlich in Fotobücher von
schulbildender Kraft zu übersetzen.
Dass Schmidt mit seinen Bewerbungen für eine Professur erfolglos blieb,
konnte seinen Einfluss nicht schmälern. In den späten 70ern war [1][seine
Kreuzberger „Werkstatt für Photographie“] ein gar nicht so heimliches
Zentrum für weit mehr als die Westberliner Fotoszene. Es ist jedenfalls
bezeichnend genug, dass er im Jahr 1996 nach mehreren Jahrzehnten der erste
deutsche Fotograf war, für den das Museum of Modern Art in New York eine
Einzelausstellung ausrichtete.
Fotobücher als zentrales Medium
Dennoch verursachte es einige Frustration, wenn man sich in jüngerer Zeit
für dieses reiche Werk interessierte. Bis zu Michael Schmidts Tod im Jahr
2014 sind etwa 15 Fotobücher erschienen, sie waren das zentrale Medium
seiner künstlerischen Arbeit. Es mag nicht weiter erstaunen, dass sie
längst vergriffen sind. Wer jedoch versuchte, sich antiquarisch zu
behelfen, musste nicht nur eine Menge Glück haben, sondern auch wirklich
viel Geld.
Inzwischen aber liegen endlich mit „Berlin-Wedding“ und „Waffenruhe“ zw…
Schlüsselwerke als Neuausgaben vor; und hoffentlich werden bald weitere
folgen. Denn die soeben im Hamburger Bahnhof eröffnete Retrospektive führt
es unmissverständlich vor Augen: Kaum einem Fotografen der
Nachkriegsgeneration ist es gelungen, sich mit seinem Werk so bedingungslos
zeitgenössisch zu verhalten, dabei aber die Bequemlichkeit des Modischen
vollkommen auf Abstand zu halten.
Die Serie „Lebensmittel“ etwa, entstanden ist sie zwischen 2006 und 2010,
kitzelt das Industrielle an der Lebensmittelindustrie fotografisch hervor,
ohne dabei auf erwartbare Drastik zu setzen. Geometrisch all zu perfektes
Obst ersetzt die Brutalität der Schlachthöfe. Die Fettporen einer
Wurstscheibe und die sterile Uniformität eines Hamburgers sind ekelerregend
genug, wenn man bereit ist, sie durch den Blickwinkel von Schmidts Kamera
zu betrachten.
Sieht man von frühen Versuchen einmal ab, so ist diese letzte Serie
übrigens auch die einzige, in der Schmidt mit Farbe arbeitet. Die 1987 vom
Telegrammboten überbrachten Worte sind umso gewichtiger: Ausgerechnet
Eggleston, der große Meister der amerikanischen New Color Photography,
lobte einen Berliner Kollegen, dessen bislang jüngste Retrospektive „Grau
als Farbe“ hieß!
Der Fotograf als Soziologe
Entdecken lässt sich [2][im Hamburger Bahnhof] ein Soziologe, der mit
fotografischen Mitteln seine Gegenwart weit mehr als nur beschrieb. Es ist
mit Händen zu greifen, wie wenig sich Schmidt hinter seiner Kamera
versteckte. Ganz offenkundig suchte er die Kommunikation mit jenen
Menschen, deren Lebensräume er erfasste. So stellte er bereits in den
frühen 1970er Jahren seine Arbeiten auf dem U-Bahnhof Möckernbrücke aus.
Zur Eröffnung seiner Ausstellung „Ausländische Mitbürger in Kreuzberg“
wiederum ließ er das Plakat viersprachig drucken – neben Deutsch auch auf
Türkisch, Serbokroatisch und Griechisch. Eine solche Geste bedeutet wohl
das Gegenteil von fotografischem Voyeurismus.
Kaum weniger als ein archivarischer Glücksfall ist es schließlich, dass
nach 45 Jahren zwei seiner Schautafeln „Die berufstätige Frau in Kreuzberg“
wieder zu sehen sind. All diese Bildserien erzählen von der Bedeutung einer
alternativen Fotogeschichte jenseits des bis zum Überdruss gezeigten
großformatigen Fototableaus.
Einwenden lässt sich gegen diese Besichtigung von Michael Schmidts
Lebenswerk eigentlich nur eines: Man hätte gerne noch sehr viel mehr
gesehen. Selbst die acht großen Säle der Nationalgalerie zwingen zur
Beschränkung. Denn präsentiert wird hier nicht allein eine in fünfzig
Jahren entfaltete Arbeit am fotografischen Bild.
Das von Michael Schmidt zu Lebzeiten selbst initiierte Archiv wurde zum
ersten Mal umfassend ausgewertet und von Thomas Weski und Laura Bielau
kenntnisreich zum Sprechen gebracht. Anschaulich wird so jene
Hartnäckigkeit, die Schmidt nicht allein in seine fotografischen Serien
investierte, sondern auch in die Gestaltung seiner Bücher. Jedes einzelne
ist der Ausdruck einer Zeigeabsicht, die der Buchgestalter Schmidt – auch
hierin ein Autodidakt – nur selten einem anderen überließ. Er hat recht
daran getan: Dieses fotografische Werk wird bleiben.
27 Aug 2020
## LINKS
[1] /Ausstellung-Kreuzberg--Amerika/!5362114
[2] /Preussenstiftung-und-Hamburger-Bahnhof/!5698852
## AUTOREN
Steffen Siegel
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