# taz.de -- Kunstausstellung „Bonds“ in Berlin: Wie ein Dildo aus einer and… | |
> Die Künstlerin Julie Favreau zeigt in ihrer Berliner Ausstellung „Plops“. | |
> Das sind Formwandler, die mal an Vibratoren, mal an Zucchinis erinnern. | |
Bild: Ausschnitt aus dem Video „Will Deliquesce“ | |
Eine junge Frau, die nur mit einem langen weißen T-Shirt bekleidet ist, | |
geht über eine Wiese auf einen Wald zu. Neben ihr erscheint ein organisch | |
wirkendes, doch digital generiertes Ding, das erst fleischfarben ist und | |
wie ein fliegender Gehörgang aussieht, später halb transparent wie ein | |
Kugeltierchen. Die Frau spielt mit dem seltsamen Objekt, das immer wieder | |
leicht seine Form verändert, leitet es gedankenverloren mit dem Finger, als | |
würde sie mit einem Schmetterling plänkeln. Im vertikalen Handyvideoformat | |
zeigt die Arbeit „This Thing“ eine Art postbiologisches Balzritual. | |
Unwillkürlich denkt man da an den Horrorfilm „Das Ding aus einer anderen | |
Welt“ aus den 50er Jahren. Doch das biomorphe Etwas ist nicht aus dem | |
Weltall gekommen, um die Menschheit auszurotten. Eher wirkt es wie ein | |
Wesen, das mit dem Computer entwickelt wurde und nun physisches Objekt | |
geworden ist, um sich dem menschlichen Körper anzunähern; es scheint danach | |
zu verlangen, in Körperöffnungen eingeführt zu werden oder Körperteile zu | |
umfließen. | |
„Plops“ nennt die kanadische Künstlerin Julie Favreau diese Formwandler, | |
die mal an Vibratoren, mal an Zucchinis, mal an Finger erinnern und die in | |
ihrer Ausstellung „Bonds“ in der Schwartzschen Villa in Steglitz zu sehen | |
sind. In ihrer Schwabbeligkeit sind sie trotz länglicher Form weniger | |
phallisch, sondern lassen eine Art androgyner Post-Gender-Sexualität | |
aufscheinen, in der die Gegensätze von männlichen und weiblichen | |
Sexualorgane von einer neuen Art der körperlichen Vereinigung abgelöst | |
wurden. Wie genau so etwas aussehen würde, dafür sind die „Plops“ aber eh… | |
Umschreibung als Bildfindung. | |
Favreau, die als Stipendiatin des Künstlerhauses Bethanien nach Berlin kam, | |
geht es ausdrücklich darum, digital erzeugte Quasi-Organismen mit dem | |
menschlichen Leib in Kontakt zu bringen. In der Videoarbeit „Will | |
Deliquesce“ werden sie von einer Gruppe unbekleideter, junger Leute | |
genutzt, die sich in einer Art achtsamen Sexorgie ohne Penetration, Schweiß | |
oder Stöhnen einander annähern. „Plops“ werden auf anderen Leibern | |
platziert, es gibt vorsichtige Berührungen, Blicke und Annäherungen; weiter | |
geht es nicht. Die Arbeit ist 2017 bei einem Projekt der ETH Zürich | |
entstanden, bei dem Künstler, Philosophen und Biotechnologen gemeinsam nach | |
neuen Bildern für [1][künstliche Intelligenz] suchten. | |
Erinnert an feministische Kunst der 70er | |
Obwohl das Video also lange vor der Coronakrise gedreht wurde, passt diese | |
berührungslose Kontaktaufnahme gut in eine Zeit des Social Distancing. | |
Gefilmt wurde durch ein Stück Glas, das an die Plexiglasscheiben erinnern, | |
die an Supermarktkassen und Bankschaltern den Flug der Aerosole aufhalten | |
sollen. Kleine Unebenheiten im Material verzerren den Anblick von | |
Gesichtern und Körperteilen, als seien die Videobilder mit einem | |
Grafikprogramm nachbearbeitet worden. | |
Unwillkürlich denkt man an die feministische [2][Body Art der 70er] Jahre, | |
als der nichtperfekte weibliche Körper bei Performances und in Video- und | |
Fotoarbeiten in seiner Verletzlichkeit, seiner Alltäglichkeit und seinem | |
Verfall gezeigt wurde. [3][Künstlerinnen wie Hannah Wilke], [4][Carolee | |
Schneemann] oder Valie EXPORT wollten damit dem objektivierenden und | |
idealisierenden Blick etwas entgegensetzen, den männliche Künstler | |
jahrhundertelang auf den weiblichen Leib geworfen hatten. | |
Im Vergleich dazu erscheinen Favreaus Videos und Installationen wie | |
Produkte des Instagram-Zeitalters. Bei „Will Deliquesce“ sind die Bilder so | |
pastellfarben, als hätte sie ein App-Filter verschönert. Und „This Thing“ | |
hat was von einem Selfie, bei dem sich eine Influencerin mit dem neu | |
erworbenen Statussymbol ablichtet. | |
Hannah Wilke hat mit ihren Kaugummiplastiken eine Art Vorgänger von | |
Favreaus Plops geschaffen. Die durchgekauten Kaugummis drapierte die | |
Künstlerin auf ihrem nackten Körper oder zeigte sie als Gegenentwurf zu der | |
glatten Ästhetik der Minimal Art im Raster angeordnet in Vitrinen. Sie | |
wirkten ebenfalls organisch, im Gegensatz zu den glatten Plops allerdings | |
gleichzeitig etwas unappetitlich. An Favreaus Objekten ist nichts abstoßend | |
und verstörend, soll es wohl auch gar nicht sein. | |
Ob die Symbiose von Organischen und Technischem aber so – im Wortsinn – | |
reibungslos und so sexy wie in ihren Arbeiten ist oder jemals sein kann, | |
sollte man aber doch noch einmal hinterfragen. Besteht diese Symbiose in | |
der Realität derzeit nicht eher aus Fitness- und Produktivitäts-Apps zur | |
Selbstoptimierung für den kapitalistischen Überlebenskampf? Oder | |
problematischen Geschäftsmodellen wie denen von Amazon, Uber oder Delivery | |
Hero, die menschliche Körper nach Profitinteressen zurichten? Zu | |
Ausbeutung, Quantifizierung und dem Eindringen von Neoliberalismus und | |
Betriebswirtschaft in alle Lebensbereiche mithilfe von digitaler | |
Technologie haben Favreaus sexualutopische Plops nichts beizutragen. | |
29 Aug 2020 | |
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