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# taz.de -- Kunst zwischen Aids und Aktivismus: „Ich bin nicht wie sie“
> Das Museum Folkwang in Essen zeigt einen anderen Keith Haring als die
> T-Shirts, Buttons und Bettwäschen, mit denen er selbst seine Kunst
> vermarktete.
Bild: Tseng Kwong Chi: Keith Haring in New York Subway, 1983
Auch hierzulande haben viele Teenager in den 1990er Jahren in einer
Bettwäsche geschlafen aus bunten Figuren, die in schwarzen Rahmen tanzen
wie Comicbilder in ihren Panels. Die Figuren stammten aus keinem ihrer
bekannten Comichefte und viele wissen vielleicht bis heute nicht, dass sie
ein Künstler entworfen hat, der die irren Transformationen und
Ausschweifungen, Umstürze, Überwerfungen und Innovationen der 1980er Jahre
gierig in sich aufgesogen und kanalisiert hat.
Das [1][Museum Folkwang in Essen] ist nach London und Brüssel jetzt die
dritte Station für die große Retrospektive „Keith Haring“, die den 1990 m…
31 Jahren an Aids Verstorbenen vor allem als Performer, Aktivisten,
Netzwerker – eben als gesellschaftlich relevanten Künstler präsentiert.
Dieser Blick auf Keith Haring ist auch deshalb nicht selbstverständlich,
weil er selbst aktiv an der Kommerzialisierung seines Werks gearbeitet hat
und 1986 und 1988 in New York und Tokio „Pop Shops“ eröffnete, in denen er
seine Arbeiten in Vervielfältigungen verkaufte. Seit dieser Zeit kursieren
T-Shirts, Buttons, Neonlampen, Tassen oder eben Bettwäschen mit Bildern von
ihm.
Zu diesem beispiellosen Siegeszug durch die kapitalistische Warenwunderwelt
hat eine erste Rezeptionsebene verholfen, die wie eine Einladung auf die
Betrachtenden wirkt: Jede*r kann in den Figuren etwas Freudiges,
Strahlendes, eine Feier des Lebens erkennen.
## Weder männlich noch weiblich
In einem zweiten Schritt erkennen sie vielleicht, dass die Figuren weder
männlich noch weiblich sind, Teil einer universellen Formensprache. Sie
sind ausgelassen, in ihren schwarzen Rahmen entgrenzt, in größeren
Ansichten verbunden mit einer Vielzahl anderer Figuren, Symbole, Dinge,
Ereignisse, die ein ausschnitthaftes Zeit-Panorama bilden, festgehalten von
einem rastlosen Künstler, der sich mit unbedingtem Willen hineingeworfen
hat in das Geschehen seiner Gegenwart, jeden Tag lebte als wäre er sein
letzter.
In einem dritten Schritt gehen die Besitzer*innen von Tassen und
T-Shirts vielleicht ins Essener Museum und entdecken einen wieder ganz
anderen Keith Haring, der zwar meist in demselben cartoonartigen Stil der
flachen, zweidimensionalen Figürlichkeit ohne räumliche Tiefe, Perspektive,
Lichteinfall und Schattenwurf gearbeitet hat, aber seine Gegenwart auch
weit weniger optimistisch verarbeiten konnte.
In einem Großformat „Ohne Titel“ von 1986 (fast alle der rund 200
ausgestellten Werke sind mit „Ohne Titel“ bezeichnet) zeichnet er in
schwarzen Linien auf gelbem Untergrund in Acryl und Ölfarben auf Plane ein
Panorama der Selbstversklavung des Menschen: Fabelwesen, Knochengerüste,
Götter, Totems, Masken bilden ein Netz aus fremdartig oder seltsam bekannt
wirkenden religiösen Symbolsystemen, zwischen denen Gruppen von
Menschenfiguren in einem Maul gefangen gehalten werden, flehend die Hände
heben, sich an Äste klammern oder ekstatisch tanzen.
## Provinz in Pennsylvania
Keith Haring wuchs in der Provinz von Pennsylvania auf, ging regelmäßig zur
Sonntagschule und schloss sich irgendwann einer radikaleren evangelikalen
Bewegung an, den Jesus-Freaks. Mit dieser Erfahrung im Rücken kam er 1978
nach New York, wo er offen seine Homosexualität ausleben konnte und an der
School of Visual Arts Bekanntschaft mit Künstlern wie [2][Jean-Michel
Basquiat] machte, der als einer der ersten Schwarzen den Durchbruch in die
von Weißen dominierte Kunstwelt schaffte.
Haring erkannte, wie manipulativ Glaubenssysteme und ihre Symbole sein
konnten und setzte sie zunehmend in zynischer Weise ein.
Er erkannte die rassistischen und patriarchalen Grundfesten der
Gesellschaft, in der er lebte und schuf mit seinen ikonischen,
geschlechtslosen Figuren ein radikal inklusives eigenes Symbolsystem, in
dem „alles von der Norm Abweichende, Tabuisierte, Verborgene, Nonkonforme
und Abnormale“ Platz hatte, wie der künstlerische Leiter des Brüsseler
Bozar, Paul Dujardin, in seinem Katalogbeitrag schreibt.
Haring selbst notierte in seinem Tagebuch: „Ich bin stolz darauf, schwul zu
sein. Ich bin stolz auf meine Freunde und Liebhaber jeder Hautfarbe. Ich
schäme mich meiner Ahnen. Ich bin nicht wie sie.“
## Das bösartige Virus
Mit Basquiat hatte Haring gemein, dass er keine Grenze zwischen Hochkultur
und Straßenkultur zog. Die Straße war sein Atelier. Er bemalte Häuserwände,
brachte Zeitungscollagen auf kopierten Zetteln in Umlauf, auf denen zum
Beispiel diese fiktive Schlagzeile stand: „Reagan Slain By Hero Cop“
(„Reagan von heldenhaftem Polizisten erschlagen“).
Berühmt wurden seine Subway Drawings: In der New Yorker U-Bahn wurden
Werbetafeln schwarz überklebt. Diese schwarzen Rahmen bemalte der Künstler
tausendfach mit weißer Kreide. Einige wenige sind heute erhalten und in der
Essener Ausstellung hängt zum Beispiel ein Exemplar, das mit dem Schriftzug
„Still Alive in 85“ überschrieben ist: Aus einer Art Suppentopf (dem
Melting Pot?) steigen Figuren mit Fernseher- oder Gettoblasterköpfen,
Tanzende, bellende Hunde, nur das UFO fehlt. Wohl kaum ein U-Bahn-Nutzer
konnte darin nicht etwas von der Realität seiner Stadt wiederfinden.
In der freudigen Zeile „Still Alive in 85“ steckt auch eine bittere
Erkenntnis: Keith Haring erkannte zu dieser Zeit langsam die schlimmen
Auswirkungen des HI-Virus, Weggefährten erkrankten und starben an Aids und
er ahnte, dass er selbst erkranken würde: „Wenn es mich nicht treffen
würde, dann keinen.“
Er engagierte sich in der Gruppe ACT UP, um Aids bekannter zu machen, warb
für Safer Sex, malte 1988 zehn Bilder, die das Virus als eine Art
bösartiges, schwarzes Sperma darstellen, das die Menschheit geißelt und
über sie obsiegt.
## Lebenfroh und bitter
Der frühe und der späte Haring, der lebensfrohe und bittere, der auf der
ganzen Welt gefragte, atemlos arbeitende, sich entäußernde Künstler ist in
Essen in einem Ausstellungsaufbau zu erleben, durch den Besucher*innen
wandeln wie durch farbenfrohe Häuserschluchten oder dunkle Clublandschaften
[3][mit dem wummernden Sound der Kompilation „The World of Keith Haring“].
Und neben all der Gegenwärtigkeit – denn sein Werk nahm die Reizüberflutung
der digitalen Streams schon vorweg – erkennen sie vielleicht auch eine
Überzeitlichkeit seiner Symbolsprache, die das Wissen um Kalligrafie,
Kryptografie, Hieroglyphen und andere religiöse Symbolsysteme transzendiert
und vielleicht einmal Wesen einer fernen Zukunft etwas über unsere
überfordernde und zerrissene Gegenwart erzählen werden.
25 Aug 2020
## LINKS
[1] https://www.museum-folkwang.de/
[2] /Basquiat-Retrospektive-in-Basel/!5136826
[3] /Keith-Harings-Lieblingssongs/!5616567
## AUTOREN
Max Florian Kühlem​
## TAGS
Politische Kunst
Schwerpunkt HIV und Aids
Geschlechter
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Kunst Berlin
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