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# taz.de -- Maßnahmen gegen die Corona-Ausbreitung: Bauernskat erlaubt, Skat v…
> Bund und Länder einigen sich auf weitere Einschränkungen des öffentlichen
> Lebens. Aber es gibt keine Ausgangssperre. Bayern bleibt rigider.
Bild: Merkel am Sonntag im Kanzleramt – verhältnismäßig emotional
Berlin taz | Gegen halb sechs, kurz bevor sie selbst in Quarantäne muss,
weil ihr Arzt positiv auf das Coronavirus getestet wurde, verkündet Angela
Merkel, dass die Bevölkerung die Bewährung bestanden hat. Nach einer
Telefonkonferenz mit den MinisterpräsidentInnen der Länder tritt sie im
Kanzleramt vor einige wenige, mit Sicherheitsabstand aufgebaute Kameras.
Bevor sie die Maßnahmen verkündet, die die RegierungschefInnen gerade
abgestimmt haben, spricht die Kanzlerin dem Land ein Lob aus.
„Am Sonntag stellen wir überall in Deutschland fest: Unsere Städte, unser
Verkehr, unser wirtschaftliches und privates Leben sehen vollkommen anders
aus als noch vor einer Woche“, sagt sie. Eine überwältigende Mehrheit habe
verstanden, dass es „jetzt auf jede und jeden ankommt“. Dass man nicht mehr
so einfach unter Leute gehen, Großeltern besuchen oder Freunde treffen
dürfe. Und dann, für Merkels Verhältnisse ungewöhnlich emotional: „Dass
sich so viele an diese Verhaltensregeln halten, das berührt mich sehr.“
Tatsächlich: Die Bevölkerung hat zwar ein paar Tage gebraucht, um ihr
Verhalten im Angesicht der Corona-Bedrohung zu ändern. Spätestens an diesem
Wochenende hat es aber ganz gut geklappt. Auf den Straßen: kaum Menschen
unterwegs. In den Parks: ungewohnt viele JoggerInnen, einige Pärchen,
wenige Gruppen – und selbst die oft mit Abstand zueinander.
Der Vernunft der vielen ist es wohl geschuldet, dass Merkel und die
MinisterpräsidentInnen zwar zu harten Mitteln greifen, auf das härteste
Mittel aber vorerst verzichten. Keine „Ausgangssperre“, auch keine
„Ausgangsbeschränkung“ [1][nach bayerischem Vorbild], dafür zunächst für
zwei Wochen ein „Kontaktverbot“.
## Pädagogische Bedeutung
Der neue Begriff soll verdeutlichen, dass der Abstand zu anderen das
Entscheidende ist, nicht das Verbleiben in der eigenen Wohnung. Welche
Begriffe verwendet werden, hat aber keine rechtliche, sondern nur
politisch-pädagogische Bedeutung.
Entscheidend ist der Kern der neuen Leitlinien. Er sieht vor, dass sich
Personen im öffentlichen Raum nur allein oder zu zweit aufhalten dürfen –
außer sie wohnen zusammen. Eine fünfköpfige Familie darf ebenso gemeinsam
spazieren gehen wie eine fünfköpfige Wohngemeinschaft. Bei zwei Personen,
die sich gemeinsam in die Öffentlichkeit begeben, ist kein Zusammenwohnen
erforderlich. Erst ab drei ist verboten. Also: Bauernskat im öffentlichen
Raum ist so oder so weiter erlaubt. Skat nicht mehr.
Diese Leitlinien für sich sind allerdings unverbindlich. Sie entfalten
keine rechtliche Wirkung gegenüber den BürgerInnen. Verbindlich sind sie
erst, wenn sie vom jeweiligen Bundesland per Verordnung oder
Allgemeinverfügung in verbindliches Recht umgesetzt wurden. Auch die
Landkreise und Städte können als Gesundheitsbehörden verbindliche Vorgaben
machen. Die Anordnungen stützen sich dann jeweils auf das
Infektionsschutzgesetz.
## Bayern schert aus
Die Leitlinien binden auch nicht die PolitikerInnen. Wenn ein
Ministerpräsident oder eine Landrätin strengere oder mildere Vorgaben
macht, dann gelten diese. Und tatsächlich gibt es schon die ersten
Abweichler.
So möchte die bayerische Regierung an ihren eigenen, noch strengeren Regeln
festhalten. Schon seit Samstag ist es dort verboten, andere Menschen zu
treffen. Man darf das Haus nur allein oder mit dem „Hausstand“ zu konkreten
Zwecken (inklusive „Bewegung“) verlassen. Per Lautsprecherdurchsagen drohen
die Behörden der Bevölkerung damit, dass Zuwiderhandlungen „hart bestraft“
werden.
Auch der sächsischen Regierung geht die Bund-Länder-Vereinbarung nicht weit
genug. Am frühen Abend verkündet sie eigene „Ausgangsbeschränkungen“ nach
bayerischem Vorbild. „So ist das Verlassen der eigenen Wohnung oder des
Hauses nur noch mit triftigen Gründen möglich“, heißt es in einer
Mitteilung an die Bevölkerung.
Dabei ist es aus wissenschaftlicher Sicht weiterhin unklar, wie stark
solche und andere restriktive Maßnahme wirken – [2][und wie angemessen sie
sind].
## Auf Dauer nicht möglich
Als Reaktion auf die politische Debatte hatte sich schon am Samstag die
Leopoldina-Nationalakademie mit einer „Adhoc-Stellungnahme“ zu Wort
gemeldet. Die „weitgehende Stilllegung des öffentlichen Lebens“ könne
unmöglich so lange aufrechterhalten werden, bis endlich ein Impfstoff oder
wirksame Medikamente gegen das Virus gefunden seien, schreiben 16
Top-WissenschaftlerInnen in dem Papier.
Bis es so weit sei, vergingen vermutlich neun bis zwölf Monate. „Aufgrund
der zu erwartenden, mitunter gravierenden sozialen und ökonomischen
Konsequenzen sowie der möglichen negativen physischen und psychischen
Auswirkungen auf die Gesundheit“ sei es undenkbar, Ausgangsbeschränkungen
und Schulschließungen über einen so langen Zeitraum durchzusetzen.
Stattdessen fordern die WissenschaftlerInnen eine zeitliche Befristung der
Maßnahmen bis Ostern: „Es deutet sich an, dass zum jetzigen Zeitpunkt ein
deutschlandweiter Shutdown (ca. 3 Wochen) mit konsequenter räumlicher
Distanzierung aus wissenschaftlicher Sicht empfehlenswert ist.“ In dieser
Zeit müsse es aber auch darum gehen, „Vorbereitungen für das kontrollierte
und selektive Hochfahren des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft“ zu
treffen.
Der Regensburger Verfassungsrechtler Thorsten Kingreen erinnert in diesem
Zusammenhang daran, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit immer auch
eine zeitliche Komponente habe. „Je länger die Einschränkungen dauern,
desto höher sind die Anforderungen an ihre Rechtfertigung“, schreibt
Kingreen auf verfassungsblog.de. Und: „Überhaupt ist der derzeit
verbreiteten Vorstellung entgegenzutreten, dass bei den notwendigen
Abwägungsentscheidungen Gesundheit und Leben apriorisch höherrangig sind
als andere Verfassungsgüter.“
## Die Evidenz fehlt
Doch eine belastbare Datengrundlage, die es erlauben würde, den Nutzen und
den Schaden beschlossener Maßnahmen bewerten zu können, fehlt bislang. Das
kritisiert auch das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. „Kein
Epidemiologe glaubt noch daran, dass es gelingen kann, das Virus durch
Isolierung und Quarantäne vollständig zu isolieren“, sagt der
geschäftsführende Vorstand des Netzwerks, Andreas Sönnichsen. Die Frage,
die sich angesichts dieser Erkenntnis „vordringlich“ stelle, sei daher
nicht mehr, wie man das Virus eliminieren könne, sondern wie es gelingen
könne, dass es möglichst wenig Schaden anrichtet.
„Hier gilt es, direkten Schaden durch Todesfälle, Arbeitsausfall oder
Überlastung des Gesundheitssystems gegen indirekte Schäden wie die Folgen
von sozialer Isolierung und Wirtschaftsstillstand abzuwägen“, sagt
Sönnichsen. Auch für solche indirekten Folgen fehlten belastbare Daten.
Die Forderung seines Netzwerks lautet daher: Mehr Geld aus der öffentlichen
Hand für eine „akribische Begleitforschung“ der beschlossenen Maßnahmen. …
müssten Kohorten und Register aufgebaut werden, um auch für künftige
Pandemien wissenschaftliche Erkenntnisse zu sammeln. Und auch
Zufallsstichproben der Gesamtbevölkerung auf das Coronavirus seien nötig –
„um die wahre Durchseuchungsrate zu erfassen“.
22 Mar 2020
## LINKS
[1] /Corona-Pandemie-in-Bayern/!5673077
[2] /Soziologe-ueber-Corona-Massnahmen/!5673083
## AUTOREN
Heike Haarhoff
Tobias Schulze
Christian Rath
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