| # taz.de -- Opferbeauftragter über Anschlag in Hanau: „Die Menschen brauchen… | |
| > Der Schmerz sitzt tief bei den Angehörigen der Ermordeten, sagt Robert | |
| > Erkan. Sein Ziel: Betroffenen wieder einen normalen Alltag zu | |
| > ermöglichen. | |
| Bild: Kerzen und Blumen für die Opfer des Anschlags von Hanau | |
| taz: Herr Erkan, Sie betreuen die Opfer des Hanauer Anschlags, bei dem zehn | |
| Menschen getötet wurden. Wie geht es den Betroffenen? | |
| Robert Erkan: Diese Frage stelle ich den Betroffenen gar nicht mehr. Denn | |
| dann kommt immer zurück: Wie soll's mir schon gehen? Nicht anders als | |
| gestern und vorgestern und seit dem 19. Februar. Bei den Betroffenen | |
| herrscht immer noch Lähmung. Daher frage ich eher: Konntest du | |
| durchschlafen? Sind deine Verwandten da? Fragen, an deren Antworten ich | |
| sehe, wie stabil die Menschen sind. | |
| Und wie stabil sind sie? | |
| Jeder Betroffene ist da anders. [1][Und es sind Wellen, die diese Menschen | |
| durchmachen, kleine Tsunamis]. Vor allem ist da weiter ein tiefer Schmerz | |
| über den Verlust eines lieben Menschen, auf eine so brutale Weise. Und da | |
| ist auch Zorn und Wut, klar. Wie konnte diese Tat passieren? Warum wurde | |
| sie nicht verhindert? Und warum traf es ausgerechnet meinen Sohn, meine | |
| Tochter, meinen Bruder, meine Schwester? Alles in allem aber reagieren die | |
| Angehörigen ruhig und besonnen. Die richtige Arbeit – die therapeutische | |
| und seelsorgerische – aber beginnt im Grunde erst jetzt, wenn die Menschen | |
| zur Ruhe kommen und alles so richtig in ihnen hochkommt. | |
| Kemal Kocak, der Betreiber eines Kiosks, in dem fünf der Opfer erschossen | |
| wurden, berichtet auch von Angst. Einer Angst, die ihn bis ins Wohnzimmer | |
| verfolge. | |
| Ja, diese Angst teilen alle der Betroffenen. Sie äußert sich bei | |
| alltäglichen Fragen: Ist meine Wohnung noch sicher? Kann ich meine Kinder | |
| zur Schule bringen? Und sie verfolgt die Betroffenen bis in ihre eigenen | |
| vier Wände. Es sind dann Bilder, die im Kopf entstehen. Einige glauben gar, | |
| dass der Täter noch lebt. | |
| Welche Auswirkung hat es, dass die Tat eine rassistische war? | |
| Eine große. Denn damit trifft die Angst ganz viele Menschen. Die Opfer | |
| waren ja Zufallsopfer, zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber sie waren | |
| eben auch [2][keine Zufallsopfer]: denn sie wurden ja gezielt ausgesucht, | |
| weil sie anders waren. Natürlich haben wir alle schon Alltagsrassismus | |
| erlebt, auch wenn das nicht jeder öffentlich gemacht hat. Aber nun erleben | |
| wir Terror, einen Angriff auf das Anderssein. Und diese menschenverachtende | |
| Botschaft hinterlässt Wirkung. Die Leute, die etwa die Geschäfte nahe der | |
| Tatorte betreiben, die zucken zusammen, wenn da einer reinkommt, den sie | |
| nicht kennen, so wie der Täter es tat. | |
| 40 Prozent der Hanauer haben einen Migrationshintergrund. Wie verarbeitet | |
| die Stadt die Terrortat? | |
| Zum einen ist da diese Verunsicherung. Plötzlich sagen Menschen, die hier | |
| geboren und integriert sind, als Teil der Gesellschaft sich sehend: Ich | |
| hatte noch nie Angst, [3][aber jetzt habe ich Angst]. Das ist ein Gefühl, | |
| das über Hanau hinaus reicht. Aber die Stadtgesellschaft reagiert auch sehr | |
| stark. Ganz Hanau steht zusammen. „Die Opfer waren keine Fremden“, heißt | |
| der Slogan nach dem Anschlag. Diese Botschaft wird hier wirklich erlebbar. | |
| Oberbürgermeister Claus Kaminsky hat die Opferbetreuung zur Chefsache | |
| gemacht. Auch wenn ich mit ihm politisch nicht immer auf eine Linie liege: | |
| Das macht er wirklich hervorragend. | |
| Wie können Sie den Opfern gerade helfen? | |
| Die Bedarfslage ist von Tag zu Tag eine andere. Ganz am Anfang war die | |
| dringlichste Forderung die nach der Freigabe der Leichen. Die Angehörigen | |
| wollten ihre Liebsten haben! Dann ging es [4][um die Beerdigungen]. Sollen | |
| die Toten hier bestattet werden oder überführt? Wo soll es Totengebete | |
| geben? Wie die Trauerfeiern stattfinden? Der Stab, das ganze Team, setzte | |
| das unfassbar gut in deren Sinne um. Und nun kommen die Fragen nach | |
| Entschädigung, nach Therapien oder neuen Wohnungen, wo dies nötig ist. Wir | |
| sind da nur die Vermittler, aber schauen, dass alles so unkompliziert wie | |
| möglich läuft und in Umsetzungen vor Ort mündet. | |
| Es gibt jetzt Eltern, die ihre Söhne verloren haben. Frauen, deren Partner | |
| tot sind. Zwei Kleinkinder, die keine Mutter mehr haben. Wie bekommen Sie | |
| das unter einen Hut? | |
| Wir versuchen allen so zu helfen, wie sie es brauchen. Das ist in der Tat | |
| intensiv. Anfangs habe ich von sechs Uhr morgen bis zwei Uhr nachts | |
| gearbeitet. Mein Handy klingelte ständig. Aber wir sind ja auch ein großes | |
| Team, etwa mit den Mitgliedern des Ausländerbeirates, die den Betroffenen | |
| direkt und vor Ort helfen. Und wenn Sie die erschossene Mutter ansprechen: | |
| Natürlich ist das eine der Hauptaufgaben, ein ganz schlimmer Fall. Da | |
| arbeiten wir hochsensibel, auch mit den Ämtern ganz eng zusammen. Vor jeder | |
| Entscheidung beteiligen wir die Familie. | |
| Zu den Betroffenen zählen auch Menschen wie Kemal Kocak, der Kioskbesitzer. | |
| Gibt es auch für sie Hilfe? | |
| Das ist ein wichtiges Thema. Denn die Läden, die zu Tatorten wurden, sind | |
| ja bis heute geschlossen. Das bedeutet Umsatzeinbußen, die Betreiber stehen | |
| kurz vor der Insolvenz. Daran hängen Existenzen, auch diese Menschen | |
| brauchen dringend Hilfe. Aber das ist bisher nicht geklärt. Dabei sind auch | |
| diese Menschen Opfer des Anschlags. Ich bin kein Jurist, aber | |
| möglicherweise gibt’s hier eine Rechtslücke. Und dann gibt es Opfer, die | |
| wir noch gar nicht kennen. Die vielleicht gegenüber der Tatorte wohnen, | |
| seit drei Wochen darauf starren und auch Angst haben. Auch die müssen wir | |
| versuchen zu finden und ihnen Hilfe anbieten. | |
| Auch der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Edgar Franke, sagte den | |
| Opfern Unterstützung zu, vor allem finanzielle Soforthilfen. Klappt das? | |
| Ja, die Soforthilfen laufen unkompliziert, oft reicht eine Unterschrift. | |
| Herr Franke kam auch zügig nach Hanau, besuchte die Familien. Da hat er | |
| festgestellt, dass wir längst zu Gange sind. Darauf haben wir unsere Arbeit | |
| synchronisiert, das geht Hand in Hand. | |
| Reichen denn die 30.000 Euro, die der Bund den nahen Angehörigen der Opfer | |
| zahlt? | |
| Das müssen wir abwarten. Bei den Opfern wurde ja eine Lücke gerissen, die | |
| ein Leben lang bleibt. Es gibt jetzt tatsächlich Stimmen, die sagen, wir | |
| würden uns eine höhere Förderung wünschen. | |
| Serpil Temiz, die Mutter des getöteten Ferhat Unvar, fordert eine | |
| lebenslange Unterstützung für die Opferfamilien, etwa durch Patenschaften. | |
| Dem stimme ich 100 Prozent zu, wenn der Bedarf es erfordert. Denn das ist | |
| ja das Zentrale: Wir wollen die Opfer wieder zu Beteiligten dieser | |
| Gesellschaft machen. Und dafür brauchen sie kein Mitleid, sondern echte | |
| Hilfe. Wir müssen ihnen wieder einen weitgehend normalen Alltag ermöglichen | |
| und sie zurück in unsere Mitte holen. Sie sind Opfer, ja. Aber wir dürfen | |
| nicht ein Leben lang nur das Opfer sehen, sondern den ganzen Menschen. | |
| Sonst würden wir ja indirekt genau das schaffen, was der Täter wollte. | |
| Einige Betroffene erheben auch politische Forderungen. Serpil Temiz fordert | |
| auch eine Stiftung gegen Rassismus. Kemal Kocak sagt: „Wir wollen Taten | |
| sehen.“ Berechtigte Forderungen? | |
| Jedes Opfer darf natürlich seine Meinung sagen. Die Idee einer Stiftung | |
| finde ich grundsätzlich gut. Dahinter steckt ja die Idee: Wir brauchen | |
| etwas Institutionelles, etwas Langfristiges, um den Rassismus zu bekämpfen. | |
| Ob das am Ende eine Stiftung wird oder etwas anderes, wird man sehen. Und | |
| ich merke immer dringlicher, dass den Opfern eine vollständige Aufklärung | |
| der Tat essentiell ist. Da ist meine Bitte an die Ermittler, dass sie ihre | |
| Ergebnisse nicht nur bald, sondern zuerst den Familien mitteilen und nicht | |
| der Presse. Das wäre wichtig. | |
| Sie trafen mit anderen Opferverbänden und Religionsgemeinschaften zuletzt | |
| auch Hessens Ministerpräsidenten Volker Bouffier: Was kam dabei raus? | |
| Das war nicht nur Herr Bouffier, sondern fast das komplette Kabinett. Sie | |
| haben uns erstmal nur zugehört, fast zweieinhalb Stunden, das war gut. Herr | |
| Bouffier hat zugestimmt, dass die Opferhilfe direkt vor Ort und so | |
| unkompliziert wie möglich stattfinden soll. Gesprochen haben wir auch über | |
| Rassismus im Alltag. Die Frage bleibt: Was wird am Ende politisch | |
| entschieden? Und wie nachhaltig ist das? | |
| Glauben Sie, es wird etwas Nachhaltiges entschieden? | |
| Das ist jetzt Sache von Herrn Bouffier und der Politik. Aber ich hoffe, | |
| dass wir alle eine Schlussfolgerung aus der Tat ziehen. Dass wir | |
| Nächstenliebe im Alltag zeigen und den anderen sagen: Wenn was ist, helfe | |
| ich dir, wir halten zusammen. Das wünsche ich mir. | |
| Derzeit reden alle fast nur noch über das Corona-Virus. Droht da das | |
| Schicksal der Anschlagsopfer in den Hintergrund zu rücken? | |
| Diese Entwicklung kommt natürlich zur Unzeit. Das Leid der Betroffenen wird | |
| in der derzeitigen Situation nicht kleiner, eher sogar größer, einer noch | |
| weiteren Herausforderung ausgesetzt. Deshalb ist es wichtig, die | |
| Anschlagsopfer im Blick zu behalten. Bisher aber tun das die Behörden, zum | |
| Glück. Wir jedenfalls im Kernteam bleiben dran, machen auch von daheim aus | |
| weiter. Gleichwohl macht es das wahrlich nicht einfacher, weil das Soziale | |
| und Gespräche dringend anstünden und Distanz, auch wenn nun richtig und | |
| nötig, eigentlich gerade nicht förderlich ist. | |
| Bei dem Pensum, das Sie gerade absolvieren: Wie geht es Ihnen dabei | |
| eigentlich? | |
| Ich erlebe gerade die außerordentlichsten Tage meines Berufslebens, auch | |
| über körperliche Grenzen hinaus, das stimmt. Aber man funktioniert in | |
| diesen Momenten, macht immer weiter. Zwischendrin hatte aber auch ich | |
| Heulkrämpfe. Ich habe mir zuletzt nun Erholungsphasen verordnet. Denn ich | |
| werde noch viel Luft brauchen. Diese Aufgabe wird ein Marathon, die Opfer | |
| werden noch sehr lange Hilfe brauchen. Und ich will ihnen dabei zur Seite | |
| stehen. | |
| 15 Mar 2020 | |
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