# taz.de -- Flucht nach Griechenland: Erst Knast, dann Abschiebung | |
> Wer auf den Ägäis-Inseln ankommt, dem soll kein Asylverfahren mehr | |
> gewährt werden. Griechenland und die Türkei erhalten mehr Geld aus | |
> Brüssel. | |
Bild: 3. März: Flüchtlinge wärmen sich an einem Feuer am Ufer des Grenzfluss… | |
BERLIN taz | Die Lage [1][im griechisch-türkischen Grenzgebiet] blieb auch | |
am Dienstag dramatisch – unterschied sich aber erheblich von dem Bild, das | |
die türkische Regierung zeichnete. Die griechische Zeitung To Ethnos | |
meldete, dass griechische Sicherheitskräfte zwischen Samstagmorgen und | |
Dienstagabend 218 Migranten festgenommen haben, die über die Grenze | |
gekommen waren. | |
Insgesamt seien in diesem Zeitraum rund 26.500 Menschen von der Einreise | |
nach Griechenland abgehalten worden. Tatsächlich dürfte die absolute Zahl | |
der Menschen, die einen Grenzübertritt versuchten, niedriger liegen, weil | |
ein Teil von ihnen mehrere Versuche unternommen hatte. | |
Die Türkei hatte sich zuvor alle Mühe gegeben, mit offenbar maßlos | |
übertriebenen Angaben weitere Panik in der EU zu schüren. Am Sonntagmorgen | |
hatte der türkische Innenminister Süleyman Soyluh getwittert, es hätten | |
76.358 Menschen das Land über den Grenzübergang Edirne verlassen. Am Montag | |
behauptete Präsident Recep Tayyip Erdoğan, „hunderttausende“ Flüchtlinge | |
hätten sich seit der Grenzöffnung auf den Weg Richtung Europa gemacht, | |
„bald werden es Millionen sein“. | |
Die ARD-Korrespondentin Katharina Willinger berichtete am Dienstag vom | |
Busbahnhof in der türkischen Grenzstadt Edirne. Dort harrten Flüchtlinge | |
auf Kartons und Wolldecken auf einem Grünstreifen aus. Sie erzählten | |
Willinger: „Die Türken sagen, geht rüber, aber die Griechen wehren uns ab.�… | |
Oder: „Uns wurde gesagt, wir müssen weg – jetzt sitzen wir hier fest.“ | |
Nachdem die griechische Polizei vielen Geld, Handy und Ausweise weggenommen | |
habe, seien sie in die Türkei zurückgebracht worden. In einem [2][Video] | |
erzählen Männer von Schlägen, einer zeigt Striemen auf seinem Rücken. | |
## Ärzte ohne Grenzen schließt Kliniken | |
Der Spiegel [3][berichtete], dass Griechenland keine Asylbewerber mehr im | |
völlig überfüllten Lager Moria auf Lesbos registrieren wolle. Stattdessen | |
sollen neu ankommende Flüchtlinge am Hafen eingesperrt werden. Die | |
Regierung wolle Boote schicken, um sie aufs Festland zu bringen. Dort | |
sollen sie in geschlossenen Lagern untergebracht werden, um sie dann | |
abzuschieben – ohne Asylverfahren. Das wäre ein klarer Rechtsbruch. | |
Im Laufe des Wochenendes hatten [4][rechte Bürgerwehren auf der Ägäis-Insel | |
Lesbos] Flüchtlinge, Journalisten und NGOs angegriffen. Ärzte ohne Grenzen | |
(MSF) [5][erklärte] am Dienstag, sowohl die Kinderklinik bei dem Lager | |
Moria als auch die psychosoziale Klinik für Überlebende schwerer Gewalt in | |
der Inselhauptstadt Mytilini zunächst zu schließen. Nach Angriffen auf | |
humanitäre Helfer müsse die Organisation die „medizinischen Aktivitäten | |
täglich an die aktuelle Lage anpassen“. MSF sei aber entschlossen, weiter | |
auf Lesbos zu bleiben. | |
Unterdessen machte die EU neue Angaben zum Stand der Auszahlung ihrer | |
Hilfen für Flüchtlinge in der Türkei. Den am Dienstag veröffentlichten | |
[6][Zahlen] zufolge sind vom Gesamtbudget von 6 Milliarden Euro inzwischen | |
3,2 Milliarden Euro ausgezahlt. Bis Ende des Jahres 2020 würden die | |
Auszahlungen voraussichtlich auf 4 Milliarden steigen. 4,7 Milliarden seien | |
aktuell „vertraglich vergeben“. | |
## Zahlungen an Türkei und Griechenland | |
Die EU hatte der Türkei 2016 die 6 Milliarden Euro ursprünglich bereits bis | |
Ende 2019 in Aussicht gestellt. Erdoğan hatte Brüssel in den letzten Tagen | |
wiederholt vorgeworfen, diese Zusagen nicht eingehalten zu haben und unter | |
anderem damit seine „Grenzöffnung“ begründet. EU-Ratspräsident Charles | |
Michel trifft den türkischen Präsidenten am Mittwoch um 11 Uhr deutscher | |
Zeit in Ankara. Bei dem Treffen soll es um weitere Hilfen gehen. | |
Auch Griechenland kann sich über Geld aus Brüssel freuen. Die EU werde dem | |
Land „jede notwendige Unterstützung“ zukommen lassen, sagte | |
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Sie war am Dienstag | |
gemeinsam mit EU-Ratspräsident Charles Michel und EU-Parlamentspräsident | |
David Sassoli und Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis an | |
die griechisch-türkische Grenze gereist. | |
Die Hälfte der EU-Hilfen in Höhe von 700 Millionen Euro werde sofort | |
bereitgestellt, sagte von der Leyen. Darüber hinaus werde die | |
EU-Grenzschutzagentur Frontex hundert zusätzliche Beamte sowie Schiffe, | |
Hubschrauber und Fahrzeuge nach Griechenland schicken. „Griechenland hat | |
unsere Unterstützung, Migranten haben mein Mitgefühl“, heißt es wörtlich … | |
einem von der Kommission verbreiteten Redetext von der Leyens. | |
## Wie starb Mohammad al Arab? | |
Unterdessen sind die Todesumstände eines aus Aleppo stammenden jungen | |
Syrers weiter ungeklärt. Am Montag hatte der BBC-Reporter Mughira Al Sharif | |
berichtet, ein Mann mit dem Namen Ahmed Abu Emad sei von griechischen | |
Polizisten erschossen worden. Im Netz kursierten Fotos und Videos von der | |
Leiche. Al Sharif berichtete am Dienstag, der Tote werde am Mittwoch in | |
Istanbul beerdigt. | |
Die bekannte Nahost-Journalistin Jenan Moussa bestätigte den Vorfall und | |
gab an, mit der Familie des Toten gesprochen zu haben. Ahmed Abu Emad sei | |
jedoch ein Spitzname, der tatsächliche Name laute Mohammad al-Arab. Der | |
britische Sender Channel 4 News sendete am Dienstag ein [7][Interview] mit | |
einem Mann namens Ali Idriss, der angab, den Vorfall beobachtet zu haben. | |
Er bestätigte, dass der junge Syrer von Grenzpolizisten in den Hals | |
geschossen und dabei getötet worden sei. | |
Griechenland dementierte den Vorfall. Regierungssprecher Stelios Petsas | |
schrieb auf Twitter: „Das Video vom tödlichen Vorfall an der | |
griechisch-türkischen Grenze ist Fake News. Wir appellieren an alle, | |
vorsichtig über Inhalte zu berichten, die türkische Propaganda befördern.“ | |
## Seehofer twittert auf Arabisch | |
Das Bundesinnenministerium versuchte indes, Flüchtlinge und Migranten auch | |
durch Mitteilungen in sozialen Netzwerken vom Grenzübertritt nach | |
Griechenland und einer Weiterreise nach Deutschland abzuhalten. | |
„Wir brauchen Ordnung an der EU-Außengrenze. Wir werden Griechenland mit | |
all unserer Kraft dabei helfen. Die Grenzen Europas sind für die | |
Flüchtlinge aus der Türkei nicht geöffnet und das gilt auch für unsere | |
deutschen Grenzen“, twitterte das Innenministerium am Dienstagabend auf | |
Deutsch, Englisch, Arabisch und Farsi. | |
Gleichzeitig zeigte sich Innenminister Horst Seehofer (CSU) offen für die | |
europäische Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus griechischen | |
Flüchtlingslagern. Er warb für eine „Koalition der Willigen“ in der EU. D… | |
Minister trifft sich an diesem Mittwochabend mit EU-Kollegen in Brüssel. Er | |
werde bei dem Treffen dafür werben, in dieser Frage nicht zu warten, bis | |
alle 27 Staaten mitmachten. | |
Bei den Kindern und Jugendlichen in den Lagern in Griechenland gehe es um | |
eine Gesamtzahl von 5.000 Menschen, sagte Seehofer. Man arbeite bei der | |
Seenotrettung etwa mit Frankreich, Italien und Spanien gut zusammen – diese | |
Formation wolle er in erster Linie zusammenhalten. Einen deutschen | |
Alleingang lehnte er ab. | |
## Vergessene Hilfsbereitschaft | |
In Deutschland rief die Bewegung [8][Seebrücke] zu bundesweiten | |
Demonstrationen „gegen die mörderische Abschottung der europäischen Grenze�… | |
auf. Am Dienstag gab es in Dutzenden Städten Aktionen unter dem Motto „Wir | |
haben Platz“, am Mittwoch sollen die Kundgebungen weitergehen. | |
Die Hilfsorganisation Medico International [9][kritisierte] die Perspektive | |
auf die Ereignisse im Jahr 2015. Damals „wurden Menschen auf der Suche nach | |
einem Leben in Sicherheit mit offenen Armen empfangen, viele öffneten ihre | |
Wohnzimmer und manche auch ihre Herzen. Sogar die Bundeskanzlerin sagte: | |
‚Wir schaffen das‘“, heißt es in einer Erklärung von Medico. | |
Das Bewusstsein für die Hilfsbereitschaft in dieser Zeit werde derzeit | |
komplett von der von rechts befeuerten Angst überlagert, „2015“ dürfe sich | |
auf keinen Fall wiederholen. So gerate die migrationsfeindliche Politik der | |
Regierungen „zu einer Aufforderung an die extreme Rechte, selbst zur Tat zu | |
schreiten.“ | |
4 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Gefluechtete-an-EU-Grenze-in-Griechenland/!5668117 | |
[2] https://twitter.com/WillingerK/status/1234761526298337280?s=20 | |
[3] https://www.spiegel.de/politik/ausland/triumph-der-fluechtlingsgegner-a-575… | |
[4] /Fluechtlinge-an-der-griechischen-Grenze/!5668263 | |
[5] https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/griechenland-lesbos-fluechtlinge | |
[6] https://ec.europa.eu/germany/news/20200303-griechenland-migranten_de | |
[7] https://www.channel4.com/news/syrian-migrant-dies-on-greek-turkish-border | |
[8] https://seebruecke.org/ | |
[9] https://www.medico.de/kampagnen/teilen-oder-schiessen | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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