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# taz.de -- Geflüchtete an EU-Außengrenze: Fatale Dynamik
> Die Türkei öffnet die Grenze nach Griechenland. Dort werden die
> Flüchtlinge mit Gewalt zurückgedrängt – und die EU duckt sich weg. Die
> Lage eskaliert.
Bild: Migranten aus der Türkei kommen auf der griechischen Insel Lesbos an
3,9 Millionen Schutzsuchende halten sich in der Türkei auf. Das sind mehr
als in jedem anderen Land der Welt, wenn man Binnenvertriebene nicht
einrechnet. Seit Freitag werden sie vom türkischen Präsidenten Erdogan
benutzt, um die EU zu erpressen. Die türkischen Medien berichteten von
einer „Grenzöffnung“, die Türkei stellte medienwirksam Busse bereit. Bis
Sonntagmorgen versammelten sich daraufhin nach Angaben der
UN-Migrationsorganisation IOM rund 13.000 Flüchtlinge an der Grenze zu
Griechenland.
Der türkische Innenminister Süleyman Soylu heizte die Stimmung weiter an
und twitterte am Sonntagmorgen, es hätten 76.358 Menschen das Land über den
Grenzübergang Edirne verlassen. Die griechische Regierung meldete erheblich
geringere Zahlen. Sie sprach lediglich von 66 „illegal Eingereisten“, die
festgenommen worden seien. Gleichwohl war die Situation dramatisch: Rund
4.000 Menschen wurden mit Gewalt daran gehindert, die Landgrenze zu
passieren. Athen hat die Grenzsicherung verschärft, neben Soldaten und
Polizisten an der Landgrenze patrouillierten die Marine und die Küstenwache
mit 52 Schiffen in der Ägäis.
Tatsächlich hat Erdogan hat die Grenze allerdings nicht „geöffnet“, sonde…
Flüchtlinge nur demonstrativ ermutigt, sie zu überqueren. Das haben sie in
der Vergangenheit auch ohne das Getöse aus Ankara getan: 2019 sind laut dem
UNHCR rund 75.000 Menschen aus der Türkei in Griechenland angekommen, seit
Jahresbeginn 2020 waren es offiziell 6.700 Menschen.
Gehindert am Grenzübertritt hatten sie schon in der Vergangenheit weniger
die Türken, als vielmehr die Griechen. Die haben in den vergangenen zwölf
Monaten wohl mehrere Zehntausend Flüchtlinge illegal und gewaltsam in die
Türkei zurückgeschoben – die sind in der UNHCR-Zählung entsprechend nicht
enthalten. Neu an der Situation ist seit Samstagmorgen also vor allem die
staatliche „Grenzöffnungs“-Propaganda, die dadurch ausgelöste Sogwirkung …
und die griechische Entschlossenheit, offen Gewalt einzusetzen, statt nur
im Verborgenen.
## Progromstimmung bei den Rechten
Erdogans Vorstoß löste am Wochenende in den EU-Hauptstädten Alarm- und in
rechten Kreisen Pogromstimmung aus. Was in der Aufregung unterging: Es
setzen sich nicht Millionen Menschen in Busse, um sich mit Tränengas
beschießen zu lassen, nur weil Erdoğan mit dem Finger schnippt. Viele
Flüchtlinge haben in der Türkei ein – wenn auch dürres – Einkommen
gefunden, eine Bleibe, ihre Kinder gehen dort zu Schule. Hinzu kommt: Das
Gros von Flüchtlingen will – wie überall auf der Welt – am liebsten in der
Nähe der alten Heimat bleiben.
Ein möglicher Sog dürfte deshalb weniger die große Zahl an SyrerInnen in
der Türkei erfassen, sondern eher die – sehr viel geringere Zahl an –
Menschen aus Afghanistan und anderen Ländern, die in der Türkei praktisch
nichts bekommen. Sie sind, von Ausnahmen abgesehen, keine EmpfängerInnen
der EU-Hilfen. Entsprechend waren unter den Menschen, die am Wochenende an
der griechischen Grenze zu sehen waren, viele AfghanInnen. Sie machten auch
im letzten Jahr über die Hälfte jener aus, die auf den griechischen Inseln
ankamen. Hier liegt tatsächlich eine aktuelle Parallele zu „2015“:
Aufgebrochen waren damals vor allem jene, die lokal nicht ausreichend
versorgt wurden.
Erdogan hat seinen Schritt damit begründet, die EU habe sich nicht an ihre
Zusagen für die Flüchtlingshilfe gehalten. Das ist nur zur Hälfte wahr. Die
EU hat der Türkei für die Jahre 2016 bis 2019 insgesamt sechs Milliarden
Euro an Hilfen in Aussicht gestellt. Bis Oktober 2019 wurden davon 2,4
Milliarden ausgezahlt.
Das ist allerdings mehr, als die EU in allen anderen Krisen der Welt für
Flüchtlinge ausgibt. Zum Vergleich: Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR kann etwa
vier Milliarden Euro pro Jahr ausgeben – für rund 70 Millionen
Schutzsuchende auf der Welt. Die Türkei hat also überproportional viel
Hilfe bekommen.
Erdoğan hat vor allem nicht gepasst, dass das Geld nur zu einem geringen
Teil – etwa 700 Millionen – an den türkischen Staat geht. Dabei handelt es
sich im Wesentlichen um einen Zuschuss für das türkische Gesundheits- und
Bildungssystem. Die haben durch die hohe Zahl vor allem syrischer
Flüchtlinge starke Zusatzbelastungen.
Wäre die gesamte europäische Hilfe an den türkischen Staat gezahlt worden,
wäre kaum zu kontrollieren gewesen, wie viel bei den Flüchtlingen ankommt.
Das Gros der EU-Hilfen fließt deshalb über Hilfsorganisationen wie den
türkischen Roten Halbmond oder der Welternährungsprogramm WFP an etwa 1,7
Millionen Flüchtlinge im Land. Viel kommt allerdings trotzdem nicht an: Der
Regelsatz liegt bei umgerechnet monatlich etwa 20 Euro pro Person.
## Türkei kein sicherer Drittstaat
Der Türkei ist in dem „Deal“ von 2016 die Umsiedlung von bis zu 72.000
Flüchtlingen aus Syrien in die EU in Aussicht gestellt worden. Die letzte
verfügbare Statistik aus Brüssel dazu stammt vom März 2019. Bis dahin waren
nur rund 20.300 Menschen umgesiedelt worden. Die Türkei mag es so sehen,
formal gesehen ist das allerdings kein Wortbruch der EU: Denn die
versprochene Umsiedlung war gekoppelt an der Zahl der Menschen, die von
Griechenland in die Türkei zurück geschickt wurden. Und das waren nur sehr
wenige, denn die griechischen Gerichte haben die Türkei meist nicht als
„sicheren Drittstaat“ eingestuft.
Menschenrechtsorganisationen forderten am Wochenende, die Grenzen
aufzumachen und Erdoğans Erpressung ins Leere laufen zu lassen. Die
Forderung ist moralisch richtig, weil die EU zwar 22 Prozent der globalen
Wirtschaftsleistung erwirtschaftet, aber – Großbritannien eingerechnet –
nur knapp sechs Prozent der weltweit Vertriebenen aufgenommen hat. Und sie
ist juristisch richtig, weil die EU einen Rechtsanspruch für Ankommende
festgeschrieben hat, einen Asylantrag stellen zu können.
Doch „2015“ inklusive der folgenden, geradezu tektonischen Verschiebung der
politischen Kräfteverhältnisse in der EU, steckt den Regierungen allerorten
noch zu sehr in den Knochen, als dass sie sich auf eine Grenzöffnung
einlassen würden. Der konservative griechische Ministerpräsident Kyriakos
Mitsotakis wurde 2019 für einen harten Anti-Flüchtlingskurs gewählt und hat
bislang keine Zweifel daran aufkommen lassen, dass er den auch
beizubehalten gedenkt. Wenn sich die Situation an den Grenzen weiter
aufheizt, ist zu befürchten, dass Polizei oder Militär – sei es in
Griechenland, in Bulgarien oder weiter nördlich – nach einer Weile eine
„Notwehrsituation“ behaupten und schießen. Wenn die Türkei dann ihrerseits
behauptet, die Menschen seien ja schon „ausgereist“ und sie nicht wieder
zurück lässt, ist die Katastrophe total.
## Kurz vor dem „letzten Mittel“
Die EU wird solche Gewalt letztlich nicht unterbinden: Erst vor einer Woche
hat der Direktor der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, in
einem [1][Interview] mit der Zeit den Gebrauch von Waffen an den Grenzen
das „letzte Mittel“ genannt – wohlgemerkt nicht für einen fiktiven
Notwehrfall, in dem das Leben von Polizisten in Gefahr wäre, sondern um die
„Souveränität eines Staates“ zu schützen und Grenzübertritte zu verhind…
Auf See gelingt es den Griechen kaum, Flüchtlinge an der Einreise zu
hindern, das hat die Vergangenheit gezeigt. Das bedeutet: Es werden
unweigerlich mehr Menschen auf den Inseln ankommen, ob mit oder ohne
Erdoğans Zutun. In den Lager wird es also noch enger und schon seit langem
ist die Situation dort vollkommen unzumutbar. Helfen würde, endlich die
Angebote zur kommunalen Aufnahme in Anspruch zu nehmen, die viele, nicht
nur deutsche, Städte gemacht haben. Erst am Wochenende hatte sich Potsdams
Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) mit einem [2][Video] aus dem völlig
überfüllten Flüchtlingslager Moria auf Lesbos zu Wort gemeldet.
Innenminister Horst Seehofer (CSU) hatte dafür in den letzten Wochen zur
Bedingung erklärt, dass andere EU-Staaten mitziehen.
Die Eskalation am Wochenende offenbarte die ganze fatale Dynamik des
EU-Türkei-Deals von 2016. Eine von dessen schlimmsten Folgen war die
Schließung der türkischen Grenze nach Syrien. Den Preis für die Abmachung
haben deshalb nicht nur jene bezahlt, die auf den Ägäis-Inseln festsitzen,
sondern auch jene, die aus Syrien nicht mehr rauskommen. Das betraf lange
vor allem Menschen aus Aleppo. Die letzte, bittere Volte der Geschichte
ist, dass heute die Menschen aus Idlib, die auch vor Erdogans Aggression
fliehen müssen, nirgendwo hin können – und die EU sich weiterhin nur darum
sorgt, wie sie ein „neues 2015“ verhindern kann.
1 Mar 2020
## LINKS
[1] https://www.zeit.de/2020/09/fabrice-leggeri-frontex-waffen-grenzwache-eu
[2] https://www.youtube.com/watch?v=fGUOL2cDsvk
## AUTOREN
Christian Jakob
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