| # taz.de -- Rem Koolhaas im Guggenheim Museum: Liegt die Zukunft auf dem Land? | |
| > Die Ausstellung „Countryside, The Future“ im New Yorker stellt Fragen | |
| > nach der Zukunft der Architektur und sucht die Antworten im ländlichen | |
| > Raum. | |
| Bild: Die Rotunde des Museumsinneren nutzt Koolhaas als „Storytelling Maschin… | |
| New York taz | Da stehen sie, diese meterhohen Wände der High Gallery des | |
| [1][Guggenheim-Museums in New York]. Wände voll mit Fragen. Eng | |
| beschrieben. Kaum zu lesen. Es müssen Hunderte sein. Daneben steht der | |
| holländische Stararchitekt Rem Koolhaas. Auch er könnte jetzt Teil dieser | |
| Wand sein. Eng beschrieben mit Hunderten von Fragen. Und ohne Antworten. Es | |
| würde ihm ja an sich leichtfallen, Geschichten zu Ende zu erzählen und | |
| Themen zu definieren, sagt er. Und gibt dann freimütig zu: In dieser | |
| Ausstellung „konnte ich die Erzählung nicht zu Ende bringen“. | |
| Ein schlichter Satz nur. Aber er kann das Drama dieser Ausstellung kaum | |
| verbergen. Das New Yorker Guggenheim-Museum hat seine Pforten ganz weit | |
| aufgemacht für Koolhaas und Samir Bantal, der Direktor von AMO, dem | |
| Thinktank des von Koolhaas 1975 mitbegründeten [2][Architekturbüro Office | |
| for Metropolitan Architecture]. Zehn Jahre haben sie recherchiert und | |
| recherchieren lassen. | |
| Die Ergebnisse zu „Countryside, The Future“ füllen jetzt die ikonische | |
| Haupthalle des Guggenheim-Museums mit der kreiselnden Rampe bis unters | |
| Dach. Es ist ein monumentales Werk. Dutzende Mitarbeiter und kooperierende | |
| Universitäten weltweit haben daran mitgewirkt. Die Ausstellungsmacher haben | |
| sich an nichts weniger als den Versuch einer Neudefinition dessen gemacht, | |
| wo die Zukunft in der Architektur liegen kann. Nein, die Zukunft der | |
| Menschheit. | |
| Aber nicht mal Rem Koolhaas scheint zu wissen, ob ihnen das gelungen ist. | |
| Die Frage, ob seine Recherchen seine Art und Weise zu bauen beeinflusst | |
| haben, seinen kurz vor der Eröffnung stehenden Neubau für den Springer | |
| Verlag in Berlin etwa, weicht er aus. Die Architektur sei langsam. In fünf | |
| Jahren solle man ihn nochmal fragen. Wozu dann der ganze Aufwand? Das muss | |
| dann wohl offenbar jeder Museumsbesucher für sich entscheiden. Und das | |
| werden trotz aller Hürden hoffentlich viele tun. | |
| ## Der Gestank nach Kühen verhinderte das Schlafen | |
| Wer sehr viel Zeit mitbringt und für neue Gedanken und Inspirationen offen | |
| ist, kann mit der Offenheit dieser Ausstellung durchaus gut umgehen. Die | |
| Idee für „Countryside, The Future“ entwickelte Koolhaas in dem Schweizer | |
| Dorf Celerina, wo die Eltern seiner Partnerin Petra Blaisse ein Haus haben. | |
| Seit über 25 Jahren fährt er dort hin. Erst stank es so sehr nach Kühen, | |
| dass er nicht schlafen konnte, beschreibt er in einem Interview mit der | |
| NZZ. | |
| Aber das Dorf habe sich verändert. Einer der Bauern dort entpuppt sich als | |
| Frankfurter Nuklearwissenschaftler, auf manche Dorfkinder passen Nannys aus | |
| Sri Lanka auf. Das Dorf wächst, obwohl die Einwohnerzahl schrumpft. Auf | |
| diese Entwicklungen müsse Architektur Antworten geben, sagt Koolhaas. | |
| 2014 bestätigte ein Bericht der Vereinten Nationen, dass die Hälfte der | |
| Menschheit mittlerweile in Städten und urbanen Räumen lebt. Spätestens | |
| jetzt beschäftigten sich die meisten Architekten, Städteplaner und | |
| Raumanalysten fast nur noch mit den Ballungszentren dieser Welt. Der | |
| perfekte Zeitpunkt für Koolhaas, um eine völlig andere Richtung | |
| einzuschlagen. Gegen den Strom schwimmen war schon immer seine Spezialität. | |
| Damit ist er berühmt geworden. | |
| 1978 zum Beispiel. Zu einem Zeitpunkt, als New York vor allen Dingen für | |
| seine hohe Kriminalitäts- und Drogenrate bekannt war. Da schrieb Koolhaas | |
| seine Großstadt-Ode „Delirious New York“ und katapultierte sich damit | |
| schlagartig in den Mittelpunkt des Urbanitätsdiskurses. | |
| ## Von der Faszination für Shopping Malls und die Pampa | |
| Oder mit seinem ästhetischen Interesse an Orten, über die seine Zunft sonst | |
| nur die Nase rümpft: Shopping Malls oder die kommerziellen Räume von | |
| Flughäfen und Bahnhöfen. Und jetzt eben: der ländliche Raum, das Land, die | |
| Pampa. 98 Prozent der Erdoberfläche. Also eigentlich fast alles. Rem | |
| Koolhaas backt ungern kleine Brötchen. | |
| Dass die Ausstellung nur auf einen Bruchteil der Entwicklungen eingehen | |
| kann, die auf unserer Erde zu beobachten sind, dem ist er sich durchaus | |
| bewusst. Ohne zu Zögern spricht er von einer „pointillistischen“ | |
| Herangehensweise. Und von einem „Mosaik von Geschichten“, das sich nun die | |
| gesamte Guggenheim-Rampe entlang bis unters Dach zieht. | |
| Da gibt es die Gorillas in Ruanda, die ihr Verhalten ändern, weil so | |
| intensiv versucht wird sie zu beschützen. Oder den Wüstenstaat Katar, der | |
| sich aus einer Notlage heraus zum milchproduzierenden Agrarstaat verwandelt | |
| hat. Da gibt es die von Satelliten gewonnenen Daten, die der industriellen | |
| Landwirtschaft des Mittleren Westens der USA den Takt vorgeben. Die | |
| gigantischen Gebäude für Tech-Konzerne in Nevada, die nur noch für | |
| Maschinen gebaut wurden. Oder den schmelzenden Permafrostboden in Sibirien, | |
| der die Landschaft dort komplett verändert. | |
| Die Geschichten sind in einzelne Abschnitte gegliedert. Die | |
| Ausstellungsmacher haben den Besuchern also durchaus einen roten Faden an | |
| die Hand gegeben. Der verblasst allerdings schnell. Zu groß ist die Fülle, | |
| zu unterschiedlich die jeweiligen politischen, kulturellen und historischen | |
| Umstände. Der Abschnitt „Cartesische Euphorie“ zum Beispiel fasst „extre… | |
| Manifestationen aktueller Bedürfnisse und experimentellen Denkens“ mit den | |
| am weitesten fortgeschrittenen Technologien im ländlichen Raum zusammen. | |
| ## Was soll der rauchende Papp-Stalin? | |
| Hier findet sich das Gedankenspiel, ob der Philosoph René Descartes seine | |
| mathematische Methode nur entwickelt hat, weil er lange in der rechtwinklig | |
| angelegten holländischen Landschaft lebte. Gleich daneben stehen reale | |
| Roboter, die die alternde japanischen Bevölkerung in der Erntearbeit | |
| unterstützen sollen. | |
| Interessant. Aber wo genau liegt hier jetzt der Zusammenhang? Und was soll | |
| der rauchende Papp-Stalin, der plötzlich auf einem elektronischen Unterbau | |
| die Rampe angerauscht kommt? Ach, egal. Zwei Meter weiter wartet schon die | |
| nächste Geschichte. Und die nächste. Und die nächste. | |
| Eine „semiotische Säule“, streckt sich von oben bis unten durch die gesamte | |
| Guggenheim-Rotunde. Sie zeigt, wie Zeitschriftencover, Werbeanzeigen, | |
| Spielzeug und Plattencover seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die | |
| Vorstellungen vom Leben auf dem Land geprägt haben. | |
| Der Boden der Haupthalle ist mit Abbildungen von schwer zuordenbaren | |
| technischen Geräten, antiken Skulpturen und Tieren beklebt. Wörter wie | |
| „taoism“, „Ernährungsunsicherheit“ oder „Experimente“ bedecken das | |
| Geländer, ein langes, in seiner Gänze nicht lesbares Zitat ziert die Decke | |
| der Rampe. Dazu treibt einen die Rampe des Guggenheim-Museum ständig an. | |
| ## Immer in Bewegung – physisch, wie geistig | |
| Nie gerader Boden unter den Füßen, am hüfthohen Geländer tut sich ein | |
| Abgrund auf, je höher es geht. Koolhaas hat die Rotunde des | |
| Guggenheim-Museums als „Storytelling Machine“ bezeichnet. Und diese | |
| Maschine arbeitet hier auf Hochtouren. Wohin der Blick auch wandert, | |
| überall ein neues Bild, ein neues Wort, ein neuer Reiz. | |
| „Countryside, The Future“ legt alles darauf an, ihre Besucher immer in | |
| Bewegung zu halten. Physisch und geistig. Ja nicht stehen bleiben. | |
| Schließlich geht es um das große Ganze. Um die Zukunft, um die Menschheit. | |
| Und das bedeutet eben auch: nie aufhören neugierig zu sein. Immer offen | |
| bleiben für eine neue Überraschung, für eine neue Geschichte. Auch ohne | |
| eindeutige Antworten. | |
| Und genau das ist es, was die Ausstellung dann doch sehr sehenswert macht. | |
| Sie ist im Endeffekt ein großes Plädoyer, sich von der Komplexität unserer | |
| Gegenwart nicht einschüchtern zu lassen. Sich ihr zu stellen, statt sich in | |
| einfachen Wahrheiten einzurichten. Also genau das Gegenteil zu dem, was die | |
| populistischen Strömungen in Trump-Amerika, Brexit-Großbritannien, | |
| AfD-Deutschland und in fast allen anderen Teilen dieser Welt gerade so | |
| erfolgreich macht. | |
| Ob aber Koolhaas mit seiner komplexen Ausstellungskonzeption auch die | |
| Menschen erreicht, die momentan die einfachen Wahrheiten der Populisten | |
| vorziehen? Das ist eine Frage, die leider recht einfach zu beantworten ist: | |
| Ziemlich sicher nicht. | |
| 10 Mar 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Verena Harzer | |
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