# taz.de -- Murals und moderne Kunst: Der mexikanische Einfluss | |
> Wie Jackson Pollock bei einem Stalinisten das Klecksen lernte: Das | |
> Whitney Museum in New Yorker zeigt, wie Mexikaner die US-Kunst geprägt | |
> haben. | |
Bild: Jacob Lawrence. Panel 3 from The Migration Series, 1940–41. Casein temp… | |
Ein Künstlerworkshop 1936 in New York. Der vielbeachtete mexikanische | |
Wandmaler David Alfaro Siqueiros leitet die Klasse. Er lässt seine Schüler | |
bis dahin unerhörte Dinge tun. Sie lassen die Farbe tropfen, sie | |
schleudern, schmieren sie auf die Leinwand, experimentieren mit diversen | |
Materialien. In der Klasse sitzt auch ein damals noch unbekannter | |
Nachwuchskünstler Jackson Pollock. | |
Pollock hat diese Klasse offenbar nachhaltig beeindruckt. In den Jahren | |
danach wandelt sich seine Kunst radikal. Zu Weltruhm gelangte er | |
schließlich, weil er Farbe frei und unkonventionell einsetzte, um seine | |
abstrakten Gemälde zu kreieren. Action Painting wurde diese neue Kunstform | |
genannt. Nur: So neu war sie womöglich gar nicht. Gelernt hat Pollock seine | |
Techniken wohl in ebenjenem Malkurs von einem mexikanischen Wandmaler, der | |
Kommunist und Stalin-Anhänger war. | |
Es ist nur eine Fußnote der Kunstgeschichte, die zu Unrecht, aber wohl auch | |
nicht ganz ohne Absicht in Vergessenheit geraten ist. Zu Zeiten des Kalten | |
Krieges galt Pollocks Kunst als Beweis für die kulturelle Überlegenheit der | |
USA über die Sowjetunion, des Westens über den Kommunismus. Nur ein freies | |
Land wie die Vereinigten Staaten von Amerika könne eine von allen | |
Konventionen befreite Kunst hervorbringen. Ein Narrativ, das bis in die | |
heutige Zeit an Wirkmacht nicht verloren hat. | |
## Die Ausstellung trifft einen Nerv | |
Eine [1][viel beachtete Ausstellung im New Yorker Whitney Museum] stellt | |
sich diesem Narrativ nun entgegen (auch wenn sie derzeit nicht mehr besucht | |
werden kann). „Vida Americana: Mexican Muralists Remake American Art, | |
1925–1945“ erzählt vom kaum zu unterschätzenden Einfluss mexikanischer | |
Künstler auf die Kunstgeschichte des nördlichen Nachbarn vor und nach dem | |
großen Börsencrash von 1929. Und scheint damit einen Nerv getroffen zu | |
haben in einem Amerika, das gerade von den xenophoben Attacken ihres | |
Präsidenten vor allem gegen mexikanische Einwanderer gebeutelt wird. | |
Die New York Times jubelte, mit dieser Ausstellung werde die | |
Kunstgeschichte umgeschrieben. Endlich bekämen jene die Anerkennung, „die | |
sie verdienen“. Das New Yorker Online-Kulturmagazin The Vulture spricht gar | |
von der „bedeutendsten Ausstellung des 21. Jahrhunderts“. | |
Die Geschichte, die diese Ausstellung erzählt, beginnt 1920, kurz nach den | |
Wirren der Mexikanischen Revolution. Gerade hat sich eine neue Regierung | |
unter Präsident Álvaro Obregón etabliert. Er beauftragt Künstler im ganzen | |
Land mit der Erstellung großflächiger Wandmalereien. Volksnah sollen sie | |
sein, sich auf die indigene Kultur Mexikos berufen und Ausblick auf eine | |
hoffnungsvolle Zukunft Mexikos geben. Es geht um die Bildung eines neuen | |
nationalen Bewusstseins. Es entsteht eine neue – wenn auch staatlich | |
initiierte – und bildmächtige Bewegung. | |
## „Los Tres Grandes“, die drei Großen | |
Schon bald werden US-amerikanische Kunstkenner aufmerksam. Besonders drei | |
Namen finden außerhalb von Mexiko immer mehr Beachtung: [2][José Clemente | |
Orozco, Diego Rivera und David Alfaro Siqueiros.] „Los Tres Grandes“, die | |
drei Großen, wurden sie genannt. Ihre Wandgemälde sind narrativ, figurativ | |
und sozial engagiert. | |
Sonst gab es wenig Gemeinsamkeiten zwischen ihren Stilen. Rivera war der | |
produktivste und bekannteste unter ihnen. Seine farbenfrohen Figuren | |
erzählen in meist collagenartiger Anordnung von der Schönheit der indigenen | |
Bevölkerung, dem Kampf gegen Unterdrückung und einer leuchtenden Zukunft | |
Mexikos. | |
Ganz anders sein Künstlerkollege Orozco. Dessen düstere Bilder | |
konzentrieren sich auf die negativen Seiten des Freiheitskampfes. | |
Siqueiros, der jüngste von den dreien, war in den 1920ern dagegen | |
hauptsächlich damit beschäftigt, die Arbeiterbewegung zu organisieren und | |
die politischen Ziele der Bewegung zu formulieren. | |
## Sie suchten ihr Glück in USA. Mit Erfolg | |
1924 aber kappte eine neue Regierung in Mexiko die Aufträge für Wandmaler. | |
Schlecht für „Los Tres Grandes“. Eine wichtige Geldquelle war versiegt. | |
Nach und nach suchten alle drei ihr Glück in den USA. Mit Erfolg. Kritiker | |
der Los Angeles Times ernannten Orozcos Werk zum „bedeutendsten | |
künstlerischen Ausbruch unserer Zeit“. | |
Das gerade erst eröffnete Museum of Modern Art in New York widmete Diego | |
Rivera eine Solo-Show. Sie brach alle Besucherrekorde. Über Siqueiros | |
wiederum ist Jahrzehnte später zu lesen, dessen Anwesenheit in Los Angeles | |
sei ähnlich bedeutsam gewesen „wie die der Surrealisten in New York in den | |
40er Jahren“. | |
Der junge Jackson Pollock war von diesen Erfolgen fasziniert. Er pilgerte | |
durch die USA, um sich diverse Wandmalereien vor Ort anzusehen. Im Sommer | |
1930 sah er sich „Prometheus“ von Orozco an. Künstlerkollegen erinnern | |
sich, dass er es als das „großartigste Bild der Moderne“ bezeichnet habe. | |
Eine Reproduktion hing längere Zeit an der Wand seines New York Studios. | |
## Pollock im experimentellen Workshop von Siqueiros | |
Von Orozcos „The Epic of American Civilization“ war er so begeistert, dass | |
er dessen „expressionistische Pinselstriche“, „intensive Erdtöne“ und … | |
„gequälten und zerstückelten Figuren“ in ein persönliches Vokabular für | |
seine eigenen Werke übersetzt habe, schreibt der Kunsthistoriker Kirk | |
Varnedoe. In jenem Jahr schrieb sich Pollock in den experimentellen | |
Workshop von Siqueiros in New York ein. | |
Schon während des Zweiten Weltkriegs aber mehrten sich die Stimmen in den | |
USA, die nichts mehr von antikapitalistischen Linken oder Immigranten aus | |
Südamerika wissen wollten. Und spätestens nach 1945 war die Zeit von „Los | |
Tres Grandes“ vorbei. Ihre Bedeutung wurde auch von Pollock nirgends mehr | |
erwähnt. Sein Werk galt plötzlich als reiner Ausdruck US-amerikanischer | |
Freiheit. Der amerikanischste unter den amerikanischen Malern wäre ohne die | |
Inspiration mexikanischer Wandmaler aber wohl nie so weit gekommen. | |
20 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://whitney.org/exhibitions/vida-americana | |
[2] /Archiv-Suche/!1998509&s=Jos%C3%A9+Clemente+Orozco&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Verena Harzer | |
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