# taz.de -- Neue Pisa-Studie: Der nächste Schock | |
> Die deutschen Schüler:innen haben sich verschlechtert. Gut ist das | |
> Bildungssystem hingegen in sozialer Auslese. Warum greifen die Reformen | |
> nicht? | |
Bild: Leistung, bitte! Die Pisa-Ergebnisse deutscher SchülerInnen haben sich v… | |
Berlin taz | Die neue Pisa-Studie, deutete OECD-Bildungsdirektor | |
[1][Andreas Schleicher] vor wenigen Tagen gegenüber Journalist:innen an, | |
werde keine Überraschungen bringen. Jedenfalls nicht für diejenigen, die | |
sich intensiv mit Bildungsforschung beschäftigten. | |
Und tatsächlich: Für die Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler, die | |
Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) am Dienstag zusammen mit dem | |
Präsidenten der Kultusministerkonferenz (KMK), Alexander Lorz (CDU), in | |
Berlin vorgestellt haben, trifft Schleichers Vorhersage zu. | |
Die [2][Leseleistung an deutschen Schulen], die dieses Mal im Fokus der | |
Studie stand, hat sich im Vergleich zu 2015 – wie auch die Ergebnisse in | |
Mathe und in den Naturwissenschaften – leicht verschlechtert. Vor allem die | |
Leistungen abseits des Gymnasiums sind alarmierend. So liegt der Anteil der | |
leseschwachen Schüler:innen, die nur die unterste Kompetenzstufe erreichen, | |
an diesen Schulen bei 29 Prozent (Gymnasium: 2 Prozent). | |
Das heißt: Fast jeder dritte 15-Jährige an nichtgymnasialen Schulen kann | |
den Sinn eines Textes nicht erfassen. Bei der Pisa-Studie 2009 war es „nur“ | |
jeder Fünfte. Positiv ist lediglich, dass der Anteil leistungsstarker | |
Schüler:innen gestiegen ist. | |
## Probleme schon in der Grundschule | |
Das maue Abschneiden beim Lesen hat sich angedeutet. So hat etwa die | |
[3][jüngste Grundschulstudie Iglu], die vor einem Jahr erschien, | |
festgestellt, dass jeder fünfte Viertklässler am Ende seiner Grundschulzeit | |
nicht lesen kann. Seit 15 Jahren nun stagniert die Lese-Leistung der | |
Grundschüler:innen. Die Schere zwischen guten und schlechten Schüler:innen | |
aber geht immer weiter auseinander – genau wie auch bei der aktuellen | |
Pisa-Studie. Mit anderen Worten: Die Grundschulen produzieren regelmäßig | |
jene „Problemschüler:innen“, die später bei den Pisa-Tests auffallen. | |
Trotz dieser Ergebnisse steht Deutschland – und das ist die eigentliche | |
Überraschung der Pisa-Studie 2018 – international besser da als zuvor. Das | |
liegt aber vor allem daran, dass sich die anderen Länder verschlechtert | |
haben. Dementsprechend deutlich fallen auch die Reaktionen aus. „Mittelmaß | |
kann nicht unser Anspruch sein“, sagt Bildungsministerin Karliczek (CDU) am | |
Dienstag. Den hohen Anteil leseschwacher Schüler:innen bezeichnete sie | |
als „besonders bedenklich“. | |
Klare Worte findet auch Michael Becker-Mrotzek, Mitautor des aktuellen | |
Pisa-Berichts und Direktor des [4][Mercator-Instituts für Sprachförderung | |
und Deutsch als Zweitsprache]. „Die Kluft zwischen leistungsstarken und | |
-schwachen Schülern ist in Deutschland zu groß. Gleiches gilt für den | |
Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds.“ Das deutsche Bildungssystem | |
müsse diese Hürden nun systematisch abbauen. | |
Nur: Warum ist das bisher nicht gelungen? Fast 20 Jahre sind vergangen, | |
seitdem die erste Pisa-Studie exakt dieselben Defizite – große | |
Leistungsunterschiede zwischen den Schüler:innen und große soziale | |
Auslese – benannt hat. Zur Erinnerung: Ende 2001 wurde bekannt, dass | |
deutsche SchülerInnen in allen Leistungsbereichen unter dem | |
OECD-Durchschnitt liegen. Und dass in keinem anderen Land der Zusammenhang | |
zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg größer war. Anders | |
formuliert: Deutschland war Spitze nicht in der Leistung, sondern in der | |
soziale Auslese. | |
## Nach Pisa: Tests, Tests, Tests | |
Noch am gleichen Tag legten die Kultusminister:innen damals einen | |
umfassenden Handlungskatalog vor. Einige Länder zogen daraufhin die | |
Einschulung nach vorne (etwa Berlin), andere begannen, die | |
Ganztagsbetreuung auszubauen (unter anderem NRW, Brandenburg, | |
Rheinland-Pfalz). Und: Alle Bundesländer begannen, Standards für | |
Schülerwissen zu definieren und dies regelmäßig abzufragen. Unter anderem | |
erfasst nun der Bildungstrend des Instituts für Qualitätsentwicklung im | |
Bildungswesen (IQB) regelmäßig die Kompetenzen von Viert- und | |
Neuntklässler:innen. Die Tests bestätigen, [5][wie dringend der | |
Handlungsbedarf] ist. | |
„Ohne Pisa hätten wir heute in Deutschland sicher nicht so viele Daten über | |
unser Schulsystem“, sagt Kai Maaz, Geschäftsführender Direktor des | |
Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) der | |
taz. Dass es mittlerweile so ein breites datenbasiertes Monitoring gibt, | |
das den Schulen und Ländern regelmäßig den Leistungsstand spiegelt, sei der | |
erste Schritt, um die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. | |
Warum aber die Reformen, die sich das Bildungsland Deutschland seit dem | |
„Pisa-Schock“ 2001 auferlegt hat, so geringe Wirkung zeigen, sei hingegen | |
schwer zu erklären. „Leider kann die Bildungsforschung hierauf keine | |
abschließende Antwort geben“, sagt Maaz. Zum einen geben die Daten aus den | |
Pisa-Studien allein nicht genug Aufschluss über die Ursachen der | |
Ergebnisse. Zum anderen konzentriere sich die Politik in ihren | |
Gegenrezepten zu stark auf die Schule. | |
„Die Maßnahmen können sinnvoll sein, überfordern aber möglicherweise die | |
Schulen, weil ihnen schlicht die Ressourcen für die Umsetzung fehlen“, so | |
Maaz. Bei der starken Auslese im Bildungssystem komme noch hinzu, dass das | |
Elternhaus einen großen Anteil am Bildungserfolg der Kinder hat. „Selbst | |
wenn ein leistungsschwacher Schüler optimal gefördert wird, dürfte er kaum | |
besser lesen oder schreiben können als der Mitschüler aus der | |
Akademikerfamilie.“ | |
## Politikum Zuwanderung | |
Insgesamt rät Maaz dazu, die Pisa-Ergebnisse möglichst differenziert zu | |
betrachten. Man könne zum Beispiel prüfen, ob die leichte Verschlechterung | |
im Vergleich zu 2015 möglicherweise auch mit dem starken Zuzug nach | |
Deutschland zu erklären ist. Wenn ja, seien die Ergebnisse positiver zu | |
bewerten, als es auf den ersten Blick aussehe. | |
Ähnlich sieht man das auch in der Politik: KMK-Präsident Lorz zieht sogar | |
ein positives Fazit aus den aktuellen Pisa-Leistungen in Deutschland: „Es | |
gelingt den Schulen, bei einer deutlich stärkeren Heterogenität der | |
Schülerschaft weiterhin gute Ergebnisse im internationalen Vergleich zu | |
erzielen“, lobt Lorz die Arbeit der Länder. | |
Ilka Hoffmann, die bei der Bildungsgewerkschaft GEW den Bereich Schule | |
leitet, hält die Heterogenität an den Schulen für ein vorgeschobenes | |
Argument. „Schon vor dem Zuzug nach Deutschland 2015 hat es bei der | |
Integration von Kindern mit Migrationshintergrund in unser Schulsystem | |
gehakt.“ Die Pisa-Ergebnisse zeigten, dass die Schulen immer noch nicht | |
personell und materiell gut genug ausgestattet seien. | |
Das gegliederte Schulsystem sei Grund dafür, dass Kinder nach der | |
Grundschule auf unterschiedliche Schulformen aufgeteilt werden. Die GEW | |
fordere deshalb schon seit Jahren die „Schule für alle“: Länger gemeinsam | |
zu lernen helfe, soziale Ungerechtigkeit zu mindern. | |
## 6 Jahre Grundschule bringen nichts | |
Bildungsforscher Maaz ist da zurückhaltender. Gegen eine | |
Gemeinschaftsschule mit klugen Formen der internen Leistungsdifferenzierung | |
spreche wenig. Anderseits bringe die Verlängerung der Grundschule nicht den | |
erhofften Effekt, das zeige sich in Berlin und Brandenburg. Ein | |
Schulsystem, das die Privilegien des Gymnasiums in Frage stellt, hält Maaz | |
derzeit politisch ohnehin für nicht machbar. | |
Auch der Kölner Bildungsforscher Becker-Mrotzek hält eine Debatte über die | |
Schulformen für überflüssig: „Entscheidend ist, was in den Schulen | |
passiert. Und da sind die Maßnahmen, die die Bundesländer bei der | |
Leseförderung unternehmen, immer noch zu punktuell.“ Benötigt würden | |
systematische Angebote wie Leseflüssigkeits- und Lesestrategietrainings in | |
der Grundschule und eine systematische Sprachförderung schon in der Kita. | |
Becker-Mrotzek begrüßt es deshalb, dass sich Bund und Länder diesen Sommer | |
darauf verständigt haben, die Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift | |
(BiSS)“ von derzeit 600 auf 2.700 Kitas und Schulen auszudehnen. Die | |
beteiligten Pädagog:innen können unter anderem auf wissenschaftlich | |
geprüfte Fördermethoden und entsprechende Materialien zurückgreifen. | |
Bildungsministerin Karliczek hat bei der Vorstellung der aktuellen | |
Pisa-Studie versprochen, Programme zur frühkindlichen Leseförderung „noch | |
konsequenter weiterverfolgen“. | |
Auch der Hamburger Schulsenator Ties Rabe (SPD) fordert mehr | |
Sprachförderung. Die Initiative BiSS habe gezeigt, dass Kinder nach | |
bestimmten Methoden besser lesen und schreiben lernen. „Diese Erkenntnisse | |
müssen wir jetzt umsetzen.“ | |
NaN NaN | |
## LINKS | |
[1] /Bildung-im-internationalen-Vergleich/!5641534 | |
[2] /Neue-Pisa-Studie-zu-Lesekompetenz/!5646908 | |
[3] /Lese-Studie-IGLU/!5464088 | |
[4] https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/ | |
[5] /Studie-zu-Schuelerkompetenzen/!5455040 | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
Anna Lehmann | |
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