# taz.de -- Essay zum Gebiet der ehemaligen DDR: Den Osten gibt es nicht | |
> Vor den Wahlen wollen wieder alle den Osten verstehen. Doch der hat sich | |
> längst ausdifferenziert bis zur Unkenntlichkeit. | |
Bild: Was steckt darin? Über „den Osten“ lässt sich kein Urteil fällen, … | |
Es stehen drei [1][Landtagswahlen im Osten] an, und damit schlägt wieder | |
die Stunde der Ostversteher. Viele Redaktionen schicken derzeit | |
ReporterInnen los, die sich auf die Suche nach der Ostseele begeben sollen. | |
Und wenn der Herbst jene Wahlergebnisse – AfD! – liefern sollte, die die | |
öffentliche Mehrheitsmeinung darin bestätigen, dass der Osten ein | |
merkwürdiges Terrain ist, dann wird Anne Will natürlich zur Krisensitzung | |
am Sonntag laden. Der Osten wird wieder auf die Couch gelegt werden. | |
Aber was ist eigentlich ostdeutsch? Eine rein geografische Definition – der | |
Osten ist das Gebiet der ehemaligen DDR – ist inzwischen selbst den | |
Apologeten des Ostdeutschen zu dürftig. Dafür ist die Mauer inzwischen zu | |
lange Vergangenheit; nach einer Datenanalyse von [2][Zeit Online] sind bis | |
zum Jahr 2017 rund 3,7 Millionen Ostdeutsche in den Westen gegangen und 2,5 | |
Millionen Westdeutsche in die andere Richtung – für ein Gebiet, das 1989 16 | |
Millionen Menschen zählte, sind das gewaltige Zahlen. | |
Je unklarer ist, was ostdeutsch eigentlich ist, desto schwieriger werden | |
die Definitionsversuche. Als vor ein paar Monaten eine Ostquote für | |
Führungspositionen diskutiert wurde, kursierten komplizierte Vorschläge. | |
Einige übernahmen eine eigenwillige Definition aus einer wissenschaftlichen | |
Studie zum MDR-Film „Wer beherrscht den Osten?“. Ostdeutsch sind demnach | |
neben gebürtigen DDR-Bürgern auch „junge Menschen, die nach 1975 in der DDR | |
bzw. in den neuen Bundesländern geboren wurden und durch ihr Umfeld | |
ostdeutsch sozialisiert wurden“. Der aus Hessen stammende Thüringer | |
Ministerpräsident Bodo Ramelow, der seit fast 30 Jahren im Osten lebt, ist | |
demnach kein Ossi. Und darf sich ein Kind von eingewanderten Wessis, 1991 | |
in Dresden geboren, ostdeutsch nennen? Ist es ausreichend „ostdeutsch | |
sozialisiert“ oder lebt es nur in einer Blase von Zugezogenen? | |
Der Versuch, eine Art ostdeutsche Sonderethnie mit komplizierten | |
Zugehörigkeitsbedingungen zu schaffen, kann nur schiefgehen – und hat den | |
Geschmack totalitärer Systeme, die Bevölkerungsgruppen bürokratisch nach | |
Herkunft und Geburtsjahr kategorisieren. | |
## Nudossi statt Nutella | |
Andere versuchen es mit der vermeintlich ostdeutschen Mentalität, aber es | |
mangelt bis heute an einer überzeugenden Klärung, was das eigentlich sein | |
soll. Die einen nennen Alltagskultur und Konsumverhalten (Nudossi statt | |
Nutella), andere werden grundsätzlich („Die DDR war der erste | |
antifaschistische Staat auf deutschem Boden“). Manche betonen das angeblich | |
menschlichere Miteinander („Wir gehen offener und direkter miteinander | |
um“), wieder andere erklären die Protestneigung im Osten mit den | |
Entwertungen von Biografien nach dem Systemwechsel von 1989/90. | |
In den nuller Jahren kursierte die These, dass der Osten für Deutschland | |
das ist, was der amerikanische Süden für die USA bedeutet: ein Landstrich | |
mit kulturellem Eigensinn und eigener Geschichte; arm, aber stolz. Nur: Der | |
Vergleich funktioniert nicht. Wer einen Südstaatler fragt, was der „Deep | |
South“ ist, wird immer wieder ähnliche Antworten bekommen: das | |
Lebensgefühl, die kulinarischen Vorlieben, der gemeinsame Dialekt, die | |
Verwurzelung im Ländlichen, die Abgrenzung zum Norden – Eigenschaften und | |
Vorlieben, die sich über Jahrhunderte schufen und über Klassen und die | |
ethnische Herkunft hinweggehen. Im deutschen Osten gibt es keine derartiger | |
Eigenschaften, die einen Konsens finden würden. Selbst der naheliegende | |
Punkt – Abgrenzung zum Westen – wird vermutlich nicht (mehr) mehrheitsfähig | |
sein. | |
Historisch gesehen war die DDR nur ein Wimpernschlag. Der Osten ist | |
regional, mental und wirtschaftlich zu heterogen, um nach 1990 eine eigene | |
Identität geschaffen zu haben. Historisch haben ein Mecklenburger und eine | |
Bautzenerin nichts miteinander zu tun, die Ost-West-Grenze wurde 1945 dafür | |
viel zu willkürlich gezogen. Ältere Prägungen schlagen jetzt, wo die | |
Episode DDR immer länger zurückliegt, durch – und verknüpfen sich mit neuen | |
regionalen Identitäten. Das zeigte sich frappierend bei den Wahlen im | |
Frühjahr. Von der Öffentlichkeit kaum beachtet, haben sich bei den Europa- | |
und Kommunalwahlen gravierende Unterschiede innerhalb Ostdeutschlands | |
gezeigt. | |
Im Landesteil Mecklenburg ist die AfD bei den [3][Europawahlen] nur | |
drittstärkste, bei den Kommunalwahlen gar nur viertstärkste Partei | |
geworden. In Vorpommern wiederum wurde sie bei den beiden Wahlen knapp | |
hinter der CDU zweitstärkste Partei. Im Norden Sachsen-Anhalts und | |
Brandenburgs schnitt sie schlechter ab als im jeweils südlichen Landesteil. | |
Man kann grob eine Achse von Nordwesten nach Südosten ziehen, also von | |
Mecklenburg hinunter in die Oberlausitz. Je südlicher man dieser Achse | |
folgt, desto stärker wird die AfD gewählt. Nur zwei Zahlen: Im Kreis | |
Nordwestmecklenburg holte die AfD bei den Europawahlen 15,8 Prozent – am | |
anderen Ende, in Görlitz, mit 32,4 Prozent mehr als das Doppelte. | |
Es fällt auf, dass die AfD besonders stark dort ist, wo viele BewohnerInnen | |
offenbar kollektive Verlusterfahrungen teilen. Sachsen ist so etwas wie das | |
Österreich Deutschlands: Früher war man ein richtiges Königreich, jetzt ist | |
man nur noch ein kleines Bundesland. Die Geschichte Sachsens nehmen eher | |
traditionell eingestellte Bewohner als Abfolge von Niederlagen und | |
Demütigungen wahr: Man hat ständig Kriege verloren und Gebiete abtreten | |
müssen, zu DDR-Zeiten musste man sich von der „preußischen“ | |
DDR-Zentralregierung in Berlin hineinreden lassen, und dann sind auch noch | |
nach 1945 Audi und andere Industriebetriebe in den Westen gegangen. 1990 | |
hat die Treuhandpolitik in Sachsen besonders tiefe Wunden geschlagen, eben | |
weil die Region eine lange Industriegeschichte hat. Der | |
Wir-sind-zu-kurz-gekommen-Grundton, der auf den Pegida-Demonstrationen zu | |
hören war, speist sich auch aus diesen Prägungen. | |
Ein Sonderfall ist Görlitz: Görlitz und Umgebung sind der einzige Teil | |
Schlesiens, der nach 1945 nicht polnisch wurde, daraufhin dem Kurzzeit-Land | |
Sachsen und später dem ungeliebten DDR-Bezirk Dresden angegliedert wurde. | |
In den Antiquitäten- und Nippesläden von Görlitz ist die | |
Schlesien-Nostalgie anschaulich zu besichtigen. Vorpommern, wo nicht nur | |
die AfD relativ stark ist, sondern wo es auch ein großes Problem mit hartem | |
Rechtsextremismus gibt, wurde nach 1945 abgetrennt vom größeren Rest | |
Pommerns östlich der Oder, der polnisch wurde. | |
## Vieles geht eigentlich aufwärts | |
Pommern, Schlesien, Königreich? Für Linke mag es befremdlich sein, dass | |
solche Begriffe heute noch eine Rolle spielen sollen. Aber historische | |
Prägungen überdauern die Zeiten, in denen sie entstanden sind. Noch lange | |
nachdem ihre Grundlagen weggefallen sind, existieren sie fort. Und wenn, | |
wie zu DDR-Zeiten, der Rückgriff auf die Vergangenheit tabuisiert wurde | |
oder ihr nichts überzeugend Neues entgegengesetzt wurde, lebt der | |
Retro-Blick weiter. | |
Ganz anders ist, zum Beispiel, die Geschichte Mecklenburgs. Die Region war | |
einmal das Armenhaus Deutschlands und bis 1918 der letzte verbliebene | |
Feudalstaat. In Mecklenburg geht es seit 1918 eigentlich immer aufwärts; | |
die DDR hatte später viel in die Industrialisierung investiert. Rostock, | |
lange Zeit eher eine verschlafene Stadt, bekam den einzigen | |
DDR-Überseehafen, der bis heute viel zum Lokalstolz beiträgt. Wenn ein | |
Gemeinwesen von ganz unten kommt, ist es froh, dass es schrittweise besser | |
geht, und sieht wenig Grund, nostalgisch die Vergangenheit zu verklären. | |
Eine AfD, die an die vermeintlich gute alte Zeit appelliert, hat hier | |
weniger zu melden. | |
Obwohl der Osten sich immer weiter ausdifferenziert, spielen Teile von | |
Politik und Publizistik beharrlich die pauschale Ostkarte. Inzwischen hat | |
sich ein richtiggehendes Ostbusiness etabliert, von dem zu viele | |
Instutitionen und Menschen leben, um es einfach als aus der Zeit gefallen | |
anzuerkennen und abzuschaffen. Stiftungen halten sich ihre eigenen | |
Ostabteilungen, Parteien haben ihre Ostbeauftragten, Ostinstitutionen | |
verteilen spezielle Stipendien, und die Bundesregierung hat einen eigenen | |
Beauftragten für die neuen Länder. Falls Sie ihn nicht kennen: Der Mann | |
heißt Christian Hirte. Das Ostbusiness ist ein geschlossener Kreislauf, der | |
immer weite läuft, um seine Existenz zu rechtfertigen. | |
Was nötig ist: endlich anzuerkennen, dass das Konzept „Osten“ zu einer | |
leeren Hülle geworden ist, die den Unterschiedlichkeiten nicht mehr gerecht | |
wird. Längst ist es doch so, dass sich Schweriner oder Rostockerinnen eher | |
als Norddeutsche definieren und StudentInnen der Viadrina-Universität in | |
Frankfurt (Oder) als Teil einer deutsch-polnischen Grenzregion. Dass sich | |
die wohl eher kollektivpsychologischen als materiellen Probleme einiger | |
Sachsen nicht mit der Schablone Ost lösen lassen. Dass es BürgerInnen gibt, | |
die mit dem Kategorisieren nach Himmelsrichtung nichts anfangen können. | |
Der pauschale Ost-West-Vergleich etwa bei den Wirtschaftsdaten hilft schon | |
gar nicht weiter, weil er auf Unterschiede innerhalb des Westens und | |
innerhalb des Ostens keine Rücksicht nimmt. Der „Deutschlandatlas“ der | |
Bundesregierung, der im Juli erschienen ist, zeigt, dass sich zu dem | |
Ost-West-Unterschied ein neuer Nord-Süd-Unterschied gesellt hat, wenn es | |
etwa um die Zahl der Hartz-IV-BezieherInnen und die Arbeitslosenquote geht. | |
Bei den Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen sollten die Medien | |
darum genauer hinsehen und sich die Mühe geben, regionale Unterschiede bei | |
den Wahlergebnissen zu erkennen. Dann wird die aus der Zeit gefallene | |
Kategorie „Ost“ bald von selbst verschwinden. | |
20 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Landtagswahlen/!t5281601 | |
[2] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-05/ost-west-wanderung-abwander… | |
[3] /Kommentar-EU-Wahl-in-Ostdeutschland/!5598087 | |
## AUTOREN | |
Gunnar Hinck | |
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