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# taz.de -- Ostdeutschland: Wo warst du am 18. März 1990?
> Wir Ostler*innen haben die Anpassung an den Westen selbst gewählt. Statt
> unbequeme Fragen zu stellen, beklagen wir uns über zu wenig Spitzenjobs.
Bild: Wahl der DDR-Volkskammer am 18.03.1990: Übertragungswagen vor dem Palast…
Im Spätherbst 89 wurde an der Berliner Humboldt-Universität über den ersten
freien Studentenrat abgestimmt. Der Wahl waren unzählige Diskussionen
vorausgegangen, wer daran teilnehmen können sollte, welche Rolle die
FDJ-Grundorganisation spielen und wie so ein Studentenrat überhaupt
arbeiten sollte. Die Aufregung war riesig. Wir saßen in einem Raum der
Universität.
Nach meiner Erinnerung wurde die Euphorie darüber, hier etwas ganz Neues,
Urdemokratisches angestoßen zu haben, mehr und mehr von einem bangen Gefühl
verdrängt. Immer weniger Leute kamen dazu, immer weniger war auszuzählen.
Bald machte die Vermutung die Runde, ein großer Teil der Stimmberechtigten
war irgendwo im Westen unterwegs. Statt Abstimmen hatten sie Besseres zu
tun. Einkaufen zum Beispiel.
[1][30 Jahre später ist das demokratische Grundverhalten im Osten offenbar
noch immer nicht weiter]. Statt die Demokratie zu ignorieren, wird sie nun
ausgehöhlt. Das Maß an Freiheit wird daran festgemacht, ob wir Masken
tragen müssen. Zum Gelingen der Einheit fehlt nur noch, dass auch die
Ostler*innen in Elitenpositionen beim Militär etwa oder den
Öffentlich-Rechtlichen aufrücken können.
Für alles, was im Osten schief- oder auch nur anders läuft, müssen die
diktatorischen Verhältnisse in der DDR herhalten. Unter dieser
diktatorischen Fuchtel stehen nicht nur die, die in der Diktatur gelebt
haben, sondern auch deren Kinder, mitunter deren Enkel.
Wie lange wollen wir das so weitererzählen? Machen wir
Diktatursozialisierten das, weil wir die Alt- und Neurechten nicht mit dem
neuen politischen System in Verbindung bringen wollen? Wer sind „wir“
eigentlich? Vorwende-, Nachwende-, dritte Generation, 89er? Wieso lasten
wir die Teile des Scheiterns der letzten 30 Jahre der Diktatur an und die
des Gelingens dem System der Freiheit und des Wohlstands? Dichten wir nicht
die Geschichte der „blühenden Landschaften“ weiter? Steckt uns der
diktatorische Staat so in den Gliedern, dass wir Gewalt und Verwahrlosung
nur in der abgeschlossenen Vergangenheit und nicht in den politischen
Kämpfen liberaler Gesellschaften sehen können?
## Keine Verengung auf Gewaltapparat
Wir sollten uns freimachen davon, uns am Gewaltapparat schaurig zu
berauschen. Das Leben in der DDR war nicht nur Stasi, Ausreise und
Neonazis. Zum Leben in der DDR gehörte auch das Angepasste, das es vielen
Leuten erlaubte, ein gar nicht so schlechtes Leben zu führen, und das
alltäglich Eigensinnige, Widerständige jenseits der bekannten
Oppositionsgruppen.
Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass Student*innen demokratische Wahlen
abhalten konnten? Woher kam der Antrieb? Woher wussten die, dass sie nicht
die Einzigen waren? Wir wissen wenig, ein paar empirische Studien, aber
kein Stolz, keine Erzählung, dass das auch der Osten auch ist. Die
Demokratie ist 89 scheinbar vom Himmel gefallen.
Im Osten gab es schon damals nicht nur den politischen Kampf mit den Erben
der Diktatur, sondern auch den über den „richtigen“ Weg zum Aufbau einer
Gesellschaft der freien Bürger. „Wir sind das Volk“ oder „Wir sind ein
Volk“ hieß es damals – der emanzipatorische Weg, der behauptet, „das“ …
wir, und der anpassende „wir sind eins“. Die Vertreter und Anhänger des
„Einheitsvolks“ haben gewonnen, über die anderen wurde drübergebügelt.
Was sie an Diktaturerfahrungen für eine Demokratie einzubringen hatten,
fand keinen Platz im Instrumentenkasten der alten Bundesrepublik. Die
Freiheit kam, dahin gehen zu können, wo man wollte, nur zum Bleiben
brauchte man sich nicht zu entscheiden. Dort hatte man nichts zu sagen. In
den 90er Jahren wurden die Posten verteilt, die die Einheitskommission 30
Jahre später noch einmal anders verteilen will. Statt des Versprechens
„blühender Landschaften“ gibt es jetzt die vage Aussicht auf Aufstieg in
die Eliten. Damit wird die Politik des Verwaltens aber nur fortgesetzt. Es
wäre an der Zeit, sich endlich in eine politische Auseinandersetzung um den
richtigen Weg gesellschaftlicher Veränderungen zu begeben.
1990 war ein Schockjahr. Von diesem Schock haben wir uns bis heute nicht
erholt. Freiheit sollte nicht nur individuelle Freiheit sein, sondern auch
die Freiheit, an einer neuen Gesellschaft mitbauen zu können. Freiheit
wurde dann aber, sich in der Bundesrepublik seinen Platz suchen zu dürfen.
Nichts war etwas wert, in die neue Bundesrepublik übernommen zu werden.
Das „Einheitsvolk“ zieht jetzt wieder durch die Straßen. Bis in die
Parlamente haben sie es geschafft, um die Demokraten zu jagen. Und was tun
wir? Wir beklagen, dass wir keine öffentlichen Positionen abbekommen haben
und dass der Anteil derer, die sich noch immer nicht von autoritären
Vorstellungen lösen können, riesig ist. Wann machen wir die Rechnung auf,
was uns der schnelle Weg zur staatlichen Einheit im Osten gekostet hat?
Wann sagen wir denen, die die D-Mark wiederhaben wollen, Geflüchteten ein
Recht auf Asyl verwehren und Masketragen mit Diktatur verwechseln, dass
Freiheit auf der Solidarität mit den Anderen beruht, dass Freiheit nichts
mit Eigennutz, sondern mit Verantwortung zu tun hat? Wann sagen wir laut,
dass die Konservativen einen Geist aus der Flasche gelassen haben, der
ihnen lange eine verlogene Form von Zustimmung gewährt hat und sich jetzt
gegen uns alle wendet?
Wenn wir fragen, was wir alle in der Diktatur gemacht haben, müssen wir
zugleich fragen, wo wir am 18. März 1990 waren, als die letzte
DDR-Volkskammer frei gewählt wurde. Wer hat gewählt und wer hat sich für
welchen Weg warum entschieden? Das müssen wir unseren Kindern heute
erklären, damit sie lernen können, das persönliche politische
Entscheidungen lange Wirkungen haben können; damit sie sehen, dass sich
Eltern gerade in der Demokratie auch falsch verhalten können, damit sie
verstehen, dass die Geschichte nach 89 nicht einfach aufgehört hat; damit
die Kinder ihren Eltern vielleicht verzeihen können.
17 Jan 2021
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## AUTOREN
Andreas Willisch
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